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Wie verkauft man die Bibel?

Das letzte Sakko

Der Schriftsteller Artur Becker über den Abschied von seiner Wohnung in Polen. Als Junge verkaufte er das Inventar, weil er in den Westen wollte. Er brauchte Geld für den Pass.

Von Artur Becker

Dass meine Wohnung schon seit längerer Zeit im Sterben lag, wurde mir erst wenige Wochen vor der Ausreise richtig bewusst. Dabei war ich derjenige, der dieses schreckliche Sterben herbeigeführt hatte. Es begann unscheinbar, fast schon schüchtern, da materielle Dinge ganz andere Tode erleiden als wir Menschen. Aber auch die Dinge sterben, bloß langsamer und qualvoller. Das liegt daran, dass wir die Welt sehen können, aber sie uns nicht.

Eines Tages, das war 1984, kam mein Freund Jacek zu mir nach Hause, um Musik zu hören und Bier zu trinken; er war als angehender Geschäftsmann und Devisenhändler ein sehr neugieriger Mensch, ein Schlitzohr par excellence sozusagen. Nachdem er sich wie immer in meiner Wohnung kurz umgeschaut hatte, stellte er fest, dass mein Kleiderschrank verschwunden war. »Verdammt, Artek, warum packst du deine ganzen Hemden und Hosen in diese schäbigen Kartons? Wo ist dein Kleiderschrank?!« Ich weiß noch, dass ich ihm diese Frage nur schwer hatte beantworten können. Verschwunden! Was heißt verschwunden? Ich musste Jacek mit Bier und Musik beruhigen und vergaß darüber, dass mein Kleiderschrank sich selbstständig gemacht hatte und auf Reisen gegangen war.

Meine Eltern waren schon in Deutschland, ich wartete auf meine Ausreise, der Pass, der mir ausgestellt werden sollte, mochte mich, den sechzehnjährigen Jungen aus Bartoszyce, nicht besonders und konnte den Hals nicht voll kriegen, was das Empfangen und Fressen von saftigem Schmiergeld anging. Nach drei Monaten wurde ich von der Reisepassstelle des Milizreviers auf weitere drei Monate vertröstet, und diese Zeit des Wartens wurde immer länger und länger, sodass ich beschloss, an meine Ausreise nicht mehr zu denken. Da ich aber als Schüler kein Monatsgehalt bezog und auch aufgrund zahlreicher kosmischer und weltpolitischer Einflüsse und Entwicklungen nicht imstande war, mir einen Nebenjob zu suchen, musste ich alles, was ich besaß, auf den Markt werfen und verkaufen. Schließlich hatte ich meine Ausgaben, fixe Kosten und Sterne, und mein wichtigster Fixstern war Magdalena aus Poznan, und glauben Sie mir, Sozialismus hin, Sozialismus her, bei uns musste man auch Geld ausgeben, und eine Bahnfahrkarte hat für einen Schüler ein Heidengeld gekostet. Gott sei Dank war Jacek mein Schutzengel, sodass ich bei ihm immer einen Kredit bekam.

Das Sterben meiner Wohnung hätte mir aber schon sehr früh auffallen müssen: spätestens nach den ersten zwei Besuchen von den schwarzen Anzügen, die man heute Men in Black nennt. Für mich sind diese Men in Black nichts Neues, bei uns gab es sie schon 1984. Wir gingen spazieren, und die schwarzen Anzüge wollten wissen, wie es denn meinen Eltern im Westen ginge und ob ich mit meinem neuen selbstständigen Leben eines Halberwachsenen klarkäme. Sie sagten mir auch, ich dürfte bald ausreisen, es würde nicht mehr lange dauern . Ich fand die beiden schwarzen Anzüge freundlich und zivilisiert, geschnitten wie aus einem Film noir, und Jacek meinte, ich sei ein Idiot, denn diese Männer seien Mörder. Jedenfalls begann damals, als diese Mörder das erste Mal zu Besuch gekommen waren, das Sterben meiner Wohnung und Haut, und erst viele Jahre später merkte ich, dass mein Kumpel Jacek damals recht gehabt hatte. Mörder waren sie, Mörder, weil sie selbst vor toten Dingen, die man kaufen oder verkaufen konnte, selbst vor Kindern, die allein, ohne ihre Eltern lebten, Angst hatten, und diese Angst machte sie gefährlich, wütend, unberechenbar. Ihre Ideologie war nicht der Kommunismus, von dem sie im Übrigen nichts verstanden, ihre Ideologie war die Angst; diese Männer waren mit ihr verheiratet, ernährten sich von ihr und tranken sie jeden Tag.

Nach einem halben Jahr des Wartens auf die Ausreise wurden die Anzeichen dafür, dass der Tod meiner Wohnung und damit auch meiner Haut immer wahrscheinlicher war, unübersehbar. Die Wohnung löste sich Schritt für Schritt ganz von allein auf, sodass manche Ecken, Schlupfwinkel und Bereiche gar nicht mehr existierten. Aber ich tat so, als wäre alles beim Alten. Im Zimmer meiner Mutter gab es kein Licht mehr, das Zimmer meiner Mutter lebte längst in einer anderen Welt, zu der ich keinen Zugang hatte. Aus der Zimmerdecke schaute das Stromkabel, der Lampenschirm war verschwunden, das Sofa war verschwunden, das Bücherregal ebenso. Das einzige, was noch funktionierte, war das Telefon, und an dem Tag, an dem auch die Telefonleitung abgeschaltet wurde, endeten meine nächtlichen Gespräche mit Magdalena.

I ch schlief auf einer Matratze, ein Bett brauchte ich nicht mehr, an den Wänden meines Schlafzimmers klebten noch ein paar Plakate, doch das Zimmer meiner Mutter und auch die Küche waren im Prinzip nicht mehr vorhanden. Ich betrat die Küche nur noch ganz selten, zumal ich auch den Kühlschrank und den Herd verkaufen musste. Ich aß zu Mittag bei Jaceks Eltern oder in der Schule. Ich aß zu Mittag bei meiner Verwandtschaft, die gierig nach großzügigen Abschiedsgeschenken schielte, weil das Wohnzimmer noch lange Zeit bestens ausgestattet war: Es gab einen Fernseher, einen japanischen Ghettoblaster und einen persischen Teppich; die herausgeputzte Schrankwand. Die Verwandtschaft wollte auch bloß leben, und somit war ich großzügig. Bücher und Schallplatten schaute die Verwandtschaft misstrauisch an: Rausgeworfenes Geld so kurz vor seiner Ausreise, sagten mir ihre bösen Blicke.

Manchmal, wenn es in meiner Wohnung ganz still war und ich mich am frühen Morgen im Bett hin und her wälzte, da wieder einmal die schwierige Entscheidung getroffen werden musste, ob ich die Schule schwänzen sollte, glaubte ich, den Fernseher zu hören, glaubte ich, dass der Tag längst vorbei und der Abend gekommen war und mit ihm zusammen mein Vater. Er saß wohl wie üblich auf dem Sofa, rauchte seine filterlosen Sargnägel und schaute ernsten Gesichtes die abendlichen Nachrichten. Wir Polen wurden in Osteuropa für unseren Mut bewundert, für unseren Mut gehasst (jaja, ihr DDR-Nostalgiker!), aber in Wirklichkeit hatte mein Vater Angst, und ich auch. In Wirklichkeit hatten wir alle Angst. Weil die Angst wiederum ihre einzige Waffe war. Die Waffe der schwarzen Anzüge. Und mein Vater sitzt da auf dem Sofa bis heute in diesem fast vollständig leer geräumten Wohnzimmer und raucht und sagt: »Ich gehe auf die Straße - auf die Straße werde ich gehen und schießen, wenn sie kommen .« Während der sogenannten Polizeistunde der eiskalten Kriegsnächte schlug er sich manchmal nach einem Trinkgelage von Schneeverwehung zu Schneeverwehung durch, um von den patrouillierenden Soldaten unerkannt nach Hause zu gelangen: Er hatte im sozialistischen Schnee seinen kleinen privaten Krieg mit den Kommunisten geführt, wie viele Männer jener Zeit.

Und dann rückte die Ausreise näher, immer näher - jeder konnte sie sehen, hören und fühlen, da meine Wohnung praktisch so gut wie ausgelöscht, meine Haut so gut wie abgezogen worden war. Ich ging nackt zur Schule und wunderte mich, dass mich meine Mitschüler und Lehrer darum baten, ich möge mich doch um mein zur Sorge veranlassendes Aussehen kümmern, ich möge zum Arzt oder zu unserem Pfarrer von der St.-Johann-Kirche gehen.

Am letzten Abend in meiner Wohnung - ich und sie waren an diesem letzten Abend die einzigen Kontrahenten in unserem Städtchen, die eine Rechnung miteinander offen hatten - stand ich im Flur der bis zum letzten Brotkrümel ausgeräumten Behausung meiner Kindheit und hielt eine kurze pathetische Abschiedsrede, wie auf einer Parteiversammlung. Seltsamerweise fiel mir dieser Abschied in meiner ganzen Nacktheit nicht schwer. Ich schloss die Tür und ging nach draußen. Ich musste noch drei Sakkos, die ich nicht mehr brauchte, loswerden. Niemand wollte sie haben, und ich schmiss sie in einen Müllcontainer.



© Berliner Zeitung · 20. Februar 2010

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