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Wie verkauft man die Bibel?

Dreckskerle und Grenzgänger

Von Artur Becker

Seit einigen Jahren erleben wir auch in Deutschland einen wahren Boom der polnischen Literatur. Man fühlt sich direkt an die Sechziger des letzten Jahrhunderts erinnert, als Marek Hlasko, Witold Gombrowicz und Slawomir Mrozek noch in aller Munde waren. Wir sind ja schon lange daran gewöhnt, dass uns die Polen in erster Linie exzellente Lyrik liefern, die im englischsprachigen Raum zum Besten gezählt wird, nicht zuletzt durch die überschwänglichen Lobeshymnen von Joseph Brodsky.

Schaut man sich aber die Literaturblogs der deutschen Internetseiten an, stellt man verwundert fest, dass sich die hiesigen Lesegewohnheiten auf Zbigniew Herbert, Adam Zagajewski und Wislawa Szymborska beschränken. Dabei ist das eigentliche Zugpferd der polnischen Dichtung Czeslaw Milosz, "der Professor mit dem Taschenmesser", wie er einmal spöttisch von Tadeusz Rózewicz, seinem wichtigsten Widersacher, genannt wurde.

Diese beiden Chirurgen der Wirklichkeit und der Metaphysik haben sich in ihren Gedichten einen für den Leser köstlichen poetologisch-metaphysischen Kampf geliefert. Milosz, der Slawistikprofessor und Remigrant aus Berkeley, der in den Manichäismus, William Blake und Swedenborg vernarrt war, wollte Rózewicz'' ostentativen, jeglichen Glaubens an das Gute im Menschen beraubten Nihilismus fein wegoperieren. Das konnte nur misslingen, denn Rózewicz ist unbelehrbar und verabscheut nichts stärker als den moralischen Zeigefinger eines biblischen Anklägers. Wenn man so will, beginnt mit diesem denkwürdigen Kampf zwischen dem Professor aus Berkeley und dem ewigen Zweifler Rózewicz, der von Milosz einmal als "Maulwurf mit einem Spaten" paraphrasiert wurde, die heiße Phase der modernen polnischen Literatur.

Nach 1945 veröffentlichten beide Dichter ultramoderne Gedichte, die bis heute für Generationen von Weichsellyrikern wichtige geistige Nahrung bieten. Milosz hat sich in zahlreichen Attacken zusammen mit Gombrowicz zähneknirschend auf die polnische Romantik und den polnischen Messianismus gestürzt - das Ergebnis ist bekannt: Nationale, muffig riechende Devotionalien wurden, vor allem von Gombrowicz, ad absurdum geführt. Rózewicz blieb cool - er wollte etwas anderes begreifen: Was hat es denn für einen Sinn, nach der Hölle von Auschwitz am Leben zu bleiben? Hier nähert er sich vor allem Jean-Paul Sartre, während Milosz, ein guter Schüler von Fiodor Dostojewski und Albert Camus, immer wieder den Verlust der Werte im 20. Jahrhundert beklagt, sich aber als kongenialer Synkretist von Gedichtband zu Gedichtband immer wieder neu definiert und erfunden hat. Um zu verstehen, worum es in diesem synkretistischen Denken geht, empfiehlt sich die Lektüre seiner Essaysammlung "Das Land Ulro".

Anfang der Neunziger, als die Prosa von Hlasko, Jerzy Andrzejewski und Tadeusz Konwicki auch im Ausland längst verdaut war, passierte wieder etwas Unerhörtes. Plötzlich marschierten in den von Milosz und Rózewicz umkämpften Garten der polnischen Kulturgeschichte neue Autoren ein, die nur eines im Sinn hatten: die Ästhetik des Sozialismus, diese zerstörerische Ideologie des gefesselten menschlichen Geistes, zu überwinden, und zwar nach der Zäsur des Jahres 1989. Andrzej Stasiuk wurde bei diesem Prozess der Neufindung zum wichtigsten Motor. Seine Erzählungen über das gottverlassene Nest "Dukla" und osteuropäische Landschaften sind mittlerweile legendär. Olga Tokarczuk ließ in "Ur und andere Zeiten" Zeit und Raum zu einem universellen, in jedem Land lesbaren Drama über die Bewohner eines Kaffs verschmelzen und entpuppte sich von Buch zu Buch als eine Erzählerin, die ohne Angst Archetypen für ihre Stories verwendet. Beide haben feinfühlig dazu beigetragen, dass Osteuropa nicht mehr auf seine geopolitische Geschichte reduziert werden darf.

Nichts Besseres kann einem osteuropäischen Erzähler passieren, als wenn er als ein gleichwertiger Partner in der Literatur des Dreiecks Berlin, Paris und London angesehen wird. Bis vor kurzem war es noch selbstverständlich, dass ein osteuropäischer Intellektueller mindestens eine westeuropäische Sprache erlernen und den Kanon von Balzac bis Camus kennen musste, damit er mit den Kollegen aus dem Westen überhaupt kommunizieren konnte. Ein französischer oder italienischer Autor muss nicht unbedingt ein Kenner der polnischen Literatur sein.

Diesen Zustand des Ungleichgewichts konstatierte schon Milosz, als hätte er sich nicht vorstellen können, dass der Spieß früher oder später umgedreht werden könnte und der Komödiant Gombrowicz würdige Nachfolger bekäme. So war es nur eine Frage der Zeit, dass sich zu Stasiuk und Tokarczuk, zu Pawel Huelle und Stefan Chwin, dem polnischen Günter-Grass-Erben aus Gdansk, zu Jerzy Pilch, der sich bis jetzt dem ehrwürdigen Studium Amors hingegeben hatte, und dem berühmten New Yorker Emigranten Janusz Glowacki ein junger, vor Wut schäumender Schriftsteller gesellen würde, der sich die letzten Tabus der polnischen Gesellschaft vorknöpfte.

2003 erschien in Warschau der Roman "Dreckskerl" von Wojciech Kuczok, und es hat fast ein Jahr gedauert, bis das Buch vollständig in das Bewusstsein der polnischen Intellektuellen eingedrungen war. Kuczok, der eben nicht aus Warschau oder Krakau kommt, erzählt in seinem Buch die Geschichte einer schlesischen Familie und entlarvt dabei die Schäbigkeit und Verlogenheit des sozialistisch-katholischen Selbstverständnisses, wie eine Familie in Polen zu sein habe. Plötzlich wurde eine ganze Generation von Vätern, die ihr Leben im Sozialismus zugebracht hatten, abserviert und entsorgt. Die "Jauche" des polnischen Titels "Gnój" wurde zum Sinnbild für jede verkorkste sozialistisch-katholische Familie. Kuczok sieht klar, dass die eigentlichen Verlierer des alltäglichen Kampfes zwischen Mann und Frau im Sozialismus die Kinder gewesen sind: eben "die Dreckskerle" (vgl. FR v. 16,/17. Mai 2007).


In diese fiktional-literarische Debatte über das sozialistische Erbe schaltete sich noch eine andere junge Stimme ein, Dorota Maslowska, die folgerichtig nach einem Ausweg aus der Einsamkeit der Dreckskerle in der Popkultur gesucht hat. Sie gibt in ihren ersten beiden Büchern, die sie mehr oder weniger zwischen Tür und Angel geschrieben hat, diesen vereinsamten Typen eine mächtige, poetische Stimme: In ihren beiden Büchern "Schneeweiß und Russenrot" und "Die Reiherkönigin" sprechen die Straße, die Drogen, die Flüche und die Rapsongs - an und für sich kein neuer Kunstgriff, aber Maslowskas Helden bestechen durch ihre Authentizität und Sorglosigkeit, so dass der Leser ihre Vereinsamung in der modernen polnischen Gesellschaft mitfühlend nachvollziehen kann.

Die Parade der neuen Namen von der Weichsel nimmt kein Ende. Gespannt muss man sein auf die baldige Rezeption der Gedichte von Tomasz Rózycki, dessen langes Prosagedicht "Zwölf Stationen" wieder an Milosz anknüpft. Darin wird eine Reise unternommen, die auf mehreren Ebenen - ähnlich den "Vier Quartetten" von T.S. Eliot - geschichtliche, private und metaphysische Räume im schlesischen Land erschließt. Dabei kommen weder der Humor noch die kindliche Naivität zu kurz. Überhaupt muss man endlich mit dem Vorurteil aufräumen, polnische Literatur sei bitterernst, denn der Humor ist eine tragende Fläche für viele neue Werke der Autoren aus Polen.

Diese neue Literatur hat äußerst erfolgreich die Grenzgänger- und Randgebiete für sich entdeckt. Litauen und die Westukraine fungieren dabei nicht mehr als mythologische und verlorene Paradiese von Bruno Schulz, Zagajewski oder Milosz. Der ukrainisch-polnische Dichter mit dem für die deutsche Zunge unaussprechlichen Namen Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki behandelt in seiner Dichtung ähnliche Randzonen wie Stasiuk oder Tokarczuk. Rózycki, der in Oppeln lebt, und Kuczok, der aus Chorzów kommt, gehören zu Grenzgängern, die sich in ihren Texten auch mit dem schwierigen historischen Erbe der deutsch-polnischen Nachbarschaft auseinandersetzen.

Eine Schublade, in die osteuropäische Romanfiguren gern gesteckt werden, heißt "Schelmenroman". Stasiuks Geschichte "Die Mauern von Hebron" oder Kuczoks "Dreckskerl" eignen sich auf den ersten Blick bestens für diese Schublade. Aber es gehört wohl zum Naturell eines polnischen oder ukrainischen Intellektuellen, sich von Zeit zu Zeit der Donquichotterie zu bedienen. Dafür wurden sie von der globalen Geschichte und deren Erschaffern buchstäblich viel zu oft verarscht, als dass sie ernsten Blickes wie Ernest Hemingway oder Graham Greene durch das Panoptikum unserer gemeinsamen europäischen Historie schreiten könnten.



© Frankfurter Rundschau, · 4. Juli 2007

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