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Wie verkauft man die Bibel?

Die wollen nur spielen

DEUTSCHLAND-POLEN: Der Schriftsteller Artur Becker spürt einem absurden Konflikt nach

Von Artur Becker

Die Reibereien zwischen der polnischen Regierung und Deutschland nehmen kein Ende, und man muss sich fragen, ob wir Europäer noch bei Sinnen sind: Nach unsäglichem Leid des20. Jahrhunderts sollten wir die grausamen Lektionen unserer gemeinsameneuropäischen Geschichte gelernt haben. Das ist leider nicht der Fall.
Es gibt in der polnischen Literatur aus der Zeit des Positivismus den Roman »Vorposten« (»Placowka«) von Boleslaw Prus. Das Buch wird jungen Polen sozusagen in die Wiege gelegt, handelt es doch vom tapferen Kampf des Bauern Jozef Slimak, der nach dem Januaraufstand von 1863 seine Äcker gegen die deutschen Kolonisten verteidigt. Ich selbst habe diese patriotische Lektüre in meiner sozialistischen Kindheit lesen müssen, und erstaunlicherweise fühlte ich mich viele Jahre später, als ich am Gymnasium in Deutschland mein Abitur nachholte, an die Atmosphäre der Novelle »Der Schimmelreiter« von Theodor Storm erinnert.
Das ist auch mein Leben: Ich heiß ein Wirklichkeit »Faustowski«, und in meiner Brust schlagen zwei klapprige Herzen – das polnische und das deutsche. Beide Bücher erzählen mir Unfassbares über die Mentalität meiner Erzeuger: Der Pole hasst seine Komplexe und Xenophobien – der Deutsche hasst seine metaphysische Schwermut, die ihn zu Tode reiten kann.
Wie gesagt - das verstehe ich alles sehr gut. Doch die neuesten Reibereien, die das deutsch-polnische Verhältnis seit dem Brüsseler Gipfel zur EU-Verfassung belasten, scheinen mir brandgefährlich zu sein. Wer anfängt, Tote für seine politischen Ziele zu instrumentalisieren, begeht eine Sünde gegenüber dem kosmischen Gleichgewicht zwischen Lebenden und Verstorbenen: Toten muss man in Stille begegnen, ihre Seelen in Ruhe lassen.

Rot-Weiß-Denken

Die Behauptung, dass Polen, hätte es den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben, heute wesentlich mehr Einwohner besäße, ist aus mathematischer Sicht richtig, und das unsägliche Leid, das die Nazis den Polen während der Okkupation zugefügt haben, will niemand infrage stellen. Polens Premierminister Jaroslaw Kaczynskis Einwand jedoch, sein Land müsse im Europaparlamentmehr Stimmen erhalten, weil es in der polnischen Geschichte nach 1939 Millionen von Todesopfern zu beklagen gibt, verrät, was für Vorstellungen von Europa die Brüder Kaczynski haben.
Sie denken in Mustern ihrer Nationalflagge– entweder ist man weiß (unbefleckt)oder rot (befleckt), und so gibt es in der Welt, in der sie leben, nur Weiße und Rote, Gute und Böse, Katholiken und Atheisten, Heterosexuelle und Homosexuelle, Antikommunisten und Kommunisten, unkorrumpierbare und korrupte Politiker, Linke und Faschisten. Die regierende rechtskonservative PiS (Recht und Gerechtigkeit) arbeitet mit solchen Antagonismen.
Neulich, als ich wie fast jeden Dienstag auf dem Verdener Markt schlesische Wurstwaren kaufte, drückte mir der Verkäufer auch eine polnische Illustriert ein die Hand. Zu Hause las ich sie querbeet und stieß auf ein Interview mit Jaroslaw Kaczynski, der in seinem Gespräch mit der Journalistin Teresa Trojanska aus dem Jahre 1994 zugab, dass er selbst seinen Vater, wenn jener ein kommunistischer Agent gewesen wäre, angezeigt hätte.
Der Vater der Zwillinge war ein Soldat der AK-Armee (Armia Krajowa) gewesen und hatte im Warschauer Aufstand1944 gekämpft. Der Antikommunismus war damit in der Familieprogrammiert, und die Verbrüderung mit der katholischen Kirche ebenso, zumal die Kirche bis 1989 ein willkommener Zufluchtsort für die des sozialistischen Alltags überdrüssig gewordenen Menschen war.
Heute ist Polen ein Land, in dem die Stimme des katholischen Senders Radio Maryja stark meinungsbildendwirkt. Der Sender will in erster Linie die Ansprüche eines Durchschnittsbürgersbefriedigen – mit emphatischen Gebeten und gut gemeinten Ratschlägen in schwierigen Lebenssituationen. Gegen diese Seelenmassage ist zunächst nichts zu sagen – selbst ein Atheist könnte mit Radio Maryja glücklich werden.
Der Pfarrer Tadeusz Rydzyk, der Gründer von Radio Maryja, ist für einige seiner Landsleute eine Kultfigur: Seine Sonntagsmessen im Freien erinnern an Popkonzerte. Ohne Radio Maryja hätte die PiS einen viel schwierigeren Weg bei ihrem Siegeszug gehabt.
Weitere Unterstützer haben die Kaczynskis in populistischen Politikern aus den Reihen ihrer ehemaligen Koalitionspartner Samoobrona (Selbstverteidigung)und LPR (Liga polnischer Familien).Der demagogischen Ansichten sorgen vor allem bei jungen, gebildetenPolen für verzweifeltes Kopfschütteln. Roman Giertych, der Leader der LPR, würde gern aus der Schullektüre große humanistische Literaturwerke streichen: Gombrowicz oder Dostojewski, diese gefährlichen Revoluzzer, sollen durch Langweiler und Konformisten à la Jan Dobraczynski ersetzt werden.

Anspruchsvolle Daueropfer

Grundsätzlich muss man dringend jedem deutschen und auch russischen Polenskeptiker sagen, dass das leichtneurotisch anmutende Geschichtsverständnis der PiS-Anführer und ihrer vermeintlichen Freunde und Sympathisanten, mit denen sie auskommen müssen, für das ganze Weichselvolk absolut nicht repräsentativ ist. Es verwundert auch immer wieder, dass im Programm der PiS christliche, katholische Werte angeblich das Fundament bilden sollen, aber offenbar ist den Kaczynskis die fröhlichste Nachricht aus dem Neuen Testament nicht so wichtig, dass man jedem Menschen seine Sündenverzeihen sollte. Die Korruption muss bekämpft werden, aber man wird beiden Äußerungen der Kaczynskis den Eindruck nicht los, dass sie die Ex-Kommunisten für viele Probleme, die es in Polen heute gibt, verantwortlich machen und bestrafen wollen.
In diesem ständigen Schuldzuweisen liegt auch der Hund begraben: Polen als Opfer der drei Teilungen, als Opfer der Nazis, als eine Missgeburt der Jalta-Vereinbarungen zwischen den Siegermächten und schließlich als ein Versuchskaninchen der kommunistischen Herrschaft dürfe laut der Kaczynskis von Europa mehr verlangen, mehr, als ihrem Land zusteht, und eben diese nicht selbstreflektierte und dadurch rechthaberisch ausfallende Opferhaltung führt zu massiven Verstörungen auf der internationalen Bühne.
Da werden messianisch-romantische Ideen aus der historischen Versenkung hervorgeholt und wiederbelebt, und ich muss staunen, dass so viele Medikamente, die die polnischen Schriftsteller wie Jerzy Andrzejewski, Witold Gombrowicz, Tadeusz Konwicki oder Czeslaw Milosz gegen den Nationalismus erfunden haben, plötzlich nicht mehr wirken.
Manche Polen sind eben, ob sie es wollen oder nicht, widersprüchliche Zeitgenossen: Der Regisseur Andrzej Wajda stilisierte sich in Hollywood nach dem Empfang des Oscars für sein Lebenswerk als ein Kommunistenfresser- dabei war es der sozialistische Staat gewesen, der ihm all seine wunderbaren Filme ermöglicht hat.
Der vorläufige Höhepunkt in den deutsch-polnischen Reibereien lieferte das Wochenmagazin »Wprost«. Das Titelbild nach dem Brüsseler Gipfel zur EU-Verfassung ging um die Welt: Die Kaczynskis werden von Angela Merkel, der Stiefmutter Europas, gestillt. Man darf die ganze Chose mit den Titelbildern nicht überbewerten.
Der »Spiegel« hat ähnlich dreiste Titelbildergebracht, auch zu dem heiklen Thema Irakkrieg, und man muss sich wundern, dass dem Präsidentender USA kein einziges Mal der Kragengeplatzt ist. Bedeutet das, dass die Gebrüder Kaczynski in Sachen Demokratie und Pressefreiheit Nachholbedarf haben? Und gibt es in Polen Zensur?
Die zweite Frage muss man verneinen, solange Andrzej Stasiuk, Wojciech Kuczok, Dorota Maslowaka und andere Schriftsteller ihre Texte in ihrer Heimatpublizieren dürfen. Und das dürfen sie. Mit der ersten Frage wird man sich in Europa noch lange beschäftigen müssen, obwohl ich stets versuche, jede Schwarzmalerei zu vermeiden. Man sollte vielleicht nur einfach daran denken, dass die Zwillinge auffallend gute Schauspieler und listige Politiker sind: Im Jahre 1962 traten Jaroslaw und Lech Kaczynski das erste Mal in der Öffentlichkeit auf, und zwar in dem Kinderfilm »Über die zwei, die den Mond gestohlen haben«. Dieser nach einem Roman von Kornel Makuszynski gedrehte Film ist auch in Deutschland bekannt.

Geschichte mit Happy End

Jacek (Lech) und Placek (Jaroslaw)sind faul und streitsüchtig und träumen von Reichtümern. Deshalb begeben sie sich auf eine Abenteuerreise, um den Mond zu stehlen und ihn für bares Gold zu verkaufen. Aber es gelingt den Zwillingen nicht, den Mond in ihrer Gefangenschaft zu halten. Gott sei Dank gibt es in dieser Geschichte ein Happy End. Man mag sich gar nicht ausmalen, was geschehen wäre, wenn Jacek und Placek erfolgreich gewesen wären. Sie kehren nach ihren Abenteuern zu ihrer Mutter zurück – als geläuterte Kinder, die niemandem mehr etwas Böses tun wollen. Solch ein Happy End wäre auch für unsere fragile Oder-Nachbarschaft wünschenswert.


© Rheinischer Merkur Nr. 27, · 5. Juli 2007

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