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Wie verkauft man die Bibel?

Riga - eine schöne Frau

Von Artur Becker

Will jemand begreifen, was 1989 in Osteuropa passiert ist, muss er nach Riga fahren, in die größte baltische Metropole. Dort sind die Himmelszeichen der politisch-ökonomischen Transformation, die in Polen mit der Solidarnosc-Bewegung und in Russland mit der Perestroika Gorbatschows begonnen hat, am deutlichsten zu sehen. Eine kühne Behauptung, könnte man meinen - hat doch dieses kleine Land nicht mehr als 2300000 Einwohner und eine so junge Geschichte, dass wir staunen müssen und ein wenig neidisch werden auf die Möglichkeiten, die sich diesem Volk nach 1989 eröffnet haben.
Neben Deutschland oder Polen erscheint Lettland als eine Minirepublik, die aber prächtig gedeiht - trotz all der Schwierigkeiten, mit denen die neuen EU-Mitgliedsstaaten zu kämpfen haben. Russland, der Große Bär an diesem osteuropäischen Firmament, ist in Lettland immer noch der wichtigste Angstmultiplikator. Die Angst der Polen oder Tschechen, mittlerweile auch der Ukrainer, vor einer erneuten russischen Indoktrinierung ist im Vergleich mit der Angst der Letten eine Lappalie. Denn als souveräner Staat, der von der internationalen Staatengemeinschaft anerkannt worden war, hat Lettland nur zwischen den beiden Weltkriegen existiert. Wirtschaftlich und kulturell konnte es damals große Erfolge feiern, sodass die benachbarten skandinavischen Staaten wie Schweden oder Finnland plötzlich einen würdigen Gegenspieler bekommen hatten. Ansonsten aber war Lettland ein Spielball der Großmächte.
Setzt man sich mit der kommunistischen Ära auseinander, darf es nicht vorrangig um die Frage gehen, welches Land aus dem ehemaligen Ostblock - dem künstlichen Jalta-Konstrukt - unter dem stalinistischen Regime am meisten gelitten hat. Im Falle Lettlands geht es darum, dass hier Letten und Russen seit Jahrhunderten zusammengelebt haben. Riga ist eine durch und durch bilinguale Stadt. Wer die Deutschen in diesem Zusammenhang vermisst, sollte sich daran erinnern, dass zwar der Bremer Domherr Albrecht von Buxthoeven die Stadt Riga 1201 gegründet hat, dass die deutschen Kaufleute unter der Zarenherrschaft nie schwer haben leiden müssen und dass der Einzug des Protestantismus in die lettischen Kirchen selbstverständlich den deutschen Siedlern zu verdanken ist, aber das heutige Lettland vermisst die Deutschen nicht. Es unternimmt große Anstrengungen, sich von seiner eigenen Geschichte, vor allem der des 20. Jahrhunderts, zu lösen und ein neues Nationalbewusstsein aufzubauen: im Geiste der neuen Republik, der EU-Demokratie.
Professor Ilgvars Misans von der Historischen Fakultät in Riga, ein kritischer Zeitgeist und Zeuge der neuesten Geschichte Lettlands, erzählt in diesem Zusammenhang seinen auswärtigen Besuchern von den Ewiggestrigen, die nicht über den eigenen Tellerrand schauen können und aus Lettland eher ein nationales Folkloremuseum machen wollen als eine moderne Demokratie, die offenen Geistes für alle neuen Einflüsse und Freundschaften aus West- oder Osteuropa wäre. Im Westen neigt man dazu, diese Ewiggestrigen Nationalisten zu nennen. In Lettland ist das ein bisschen anders, was solche exakten und unverblümten Bezeichnungen angeht. Das Nationalbewusstsein per se hat nämlich in Lettland einen hohen Stellenwert. Die Letten schlagen sich täglich mit der Frage herum: Wie lange noch dürfen wir in unserem eigenen Land frei leben? Diese Frage stellt sich ein Franzose oder ein Deutscher nicht. Selbst der Pole scheint vergessen zu haben, was die Sorge um Freiheit und Selbstbestimmung bedeutet, wie man an der neuesten politischen Entwicklung in Warschau sieht: Die Gebrüder Kaczynski bauen fleißig an der sogenannten Dritten Reichsrepublik Polen, als hätte es nach der Pilsudski-Ära den Zweiten Weltkrieg und den Kommunismus nie gegeben.
Professor Ilgvars Misans, der mich, den deutschsprachigen Schriftsteller aus Verden bei Bremen, freundlicherweise nach Riga eineladen hat, weiß wahrscheinlich nicht, welche guten Dienste er mir damit erwiesen hat. Die Begegnungen in Riga mit Gymnasiasten, Studenten und Hochschullehrern, mit den dort lebenden und arbeitenden Letten, Russen und Deutschen haben mir meine müden westeuropäischen Augen geöffnet. Dabei bin ich als ehemaliger Bewohner des westbaltischen Landes Ermland und Masuren, dem alten Ostpreußen, kein unbeschriebenes Blatt. Ich habe bis zu meinem 15.Lebensjahr im sozialistischen Polen gelebt und weiß ganz genau, was ein Regime bedeutet.
Und dennoch, ich kann ruhigen Herzens behaupten, Riga hat mich wieder geweckt - nach 21 Dornröschenjahren in der Bundesrepublik. Ich habe mich während meines Besuches in Riga die ganze Zeit gefragt, was es bedeutet, Bürger von Lettland zu sein, eines Staates, in dem man gezeugt und geboren wurde. Ich vermisste plötzlich meine Kindheit und die Sicherheit, mit welcher ich mich früher täglich im Polnischen und der polnischen Alltagskultur bewegt hatte. Warum? Nachdem ich die Aufsätze der russischen Gymnasiasten zum Thema »Amigo, erzähl mir deine Geschichte von Riga!« am Goethe-Institut gelesen hatte, stellte ich fest, dass selbst sehr junge Menschen eine große Sehnsucht nach ihrer Heimat haben.
Eine Gymnasiastin sagte mir, ihr Zuhause sei in Moskau, dort wolle sie leben, nicht in Riga: »Ab nach Moskau!«, erklang plötzlich in meinen Ohren das Zitat aus dem »Kirschgarten« von Anton Tschechow. Einer der Mitschüler der Gymnasiastin schrieb in seinem Aufsatz, Riga sei so schön wie eine Frau. Seltsamerweise hörte ich diesen Satz auch von lettischen Studenten, die ich an der Germanistischen Fakultät traf.
Ist Weiblichkeit tatsächlich die am stärksten ausgeprägte Eigenschaft von Riga? Die Angst vor einer erneuten Besetzung durch Russland ist doch eine männliche Seite - man hört schon den Schrei der Nationalisten und Freiheitskämpfer »Lasst uns für unser Vaterland sterben!«, sollte es wieder zu einer Besetzung kommen, was ich weder Lettland noch Russland wünsche. Janis Keruss, ein junger Historiker und Spezialist für die neuere Geschichte Lettlands, verblüffte mich mit folgender Aussage, die ganz salopp aus seinem Munde kam: »Wir horchen ständig darauf, wie sich die politische Weltlage entwickelt.« Er meinte damit, dass die EU- und Nato-Mitgliedschaft kein ausreichender Garant für die Unabhängigkeit Lettlands sei.

Befreier waren Betrüger
Auf meine Frage hin, warum die Letten so zahlreich in den Armeen Hitlers und Stalins gekämpft haben, erhielt ich von Janis Keruss eine Erklärung, die mich gar nicht staunen ließ: »Wir haben jeden neuen Besatzer als einen Befreier begrüßt, haben ihn mit Blumen empfangen und mussten feststellen, dass unsere Befreier Betrüger waren, wie zuletzt die Kommunisten.« Ich musste darüber nachdenken, warum die Polen unter Napoleon und Stalin und Churchill ähnliche Verhaltensweisen gezeigt hatten, die sich später als verhängnisvoll für ihr Volk erwiesen haben. Was hat es also auf sich mit der Weiblichkeit Rigas? Ist es eine deklarierte Weiblichkeit, weil diese Stadt als eine der wenigen während des Zweiten Weltkrieges unter dem Bombenhagel kaum gelitten hat und deshalb immer noch ein wunderbares Jugendstilviertel besitzt, an dem man sich nicht sattsehen kann?
In einem der Jugendstilgebäude, die seit dem Anfang der Neunziger des vorigen Jahrhunderts konsequent renoviert werden, hat der sowjetische Regisseur Sergej Eisenstein seine Kindheit verbracht - das von seinem Vater gebaute Haus mutet an, als wäre es ein Palast aus einem phantastischen Wintermärchen. Eine solche architektonische Schönheit sucht man in Hamburg oder Paris vergeblich. Der ehemalige Reichtum der deutschen, russischen und lettischen Kaufleute aus der Belle Epoque auf Lettisch ist an jeder Ecke des Stadtzentrums unübersehbar.
Und diese geheimnisvolle Weiblichkeit Rigas darf doch nichts damit zu tun haben, dass es hier, in dieser bilingualen Stadt, von hübschen Frauen nur so wimmelt, was für alle osteuropäischen Metropolen gilt. Eigentlich müsste Riga eine aggressive Stadt sein, denn die Letten beschweren sich immer lauter über die stetig wachsenden Männerhorden, die mit Billigfliegern aus England kommen, um sich in den Kneipen und Bordellen zu amüsieren.

Das weibliche Element
Diese Stadt müsste sich außerdem große Sorgen machen, weil viele junge Menschen nach Irland auswandern, auf der Suche nach einem Job und nach einer neuen Existenz - dabei mangelt es in Lettland an Arbeitskräften (was für ein Segen wäre das für unsere soziale Krise in Deutschland!). Und wie kann denn Riga weiblich und sogar schön sein, wenn es selbst zwischen den jungen Bewohnern dieser Stadt große Konflikte gibt, weil es einzig und allein darauf ankommt, ob man Russe oder Lette ist? Die Letten fordern: »Wollt ihr Russen mit uns zusammenleben, solltet ihr Lettisch lernen, wie wir einst Russisch lernen mussten!«
Oder ist Riga deshalb eine Frau, weil es in dieser Stadt neben den lutherischen, russisch-orthodoxen und katholischen Kirchen immer noch eine präsente Erinnerung an die Juden gibt? Ist nicht gerade dieser multikulturelle Aspekt weniger ein Markenzeichen Rigas, sondern so etwas wie eine archaische Erinnerung an die baltischen Stämme, die Liven, Kuren und Semgallen, die ähnlich wie die Litauer die Bäume und Seen und Steine geliebt und angebetet haben - die Mutter Natur? Fragen über Fragen.
Ich weiß nur eines: Ich bin in Riga ein baltischer Zaungast gewesen. Mich hat das Klischeebild vom stets fröhlichen und singenden Letten nicht interessiert. Mich haben die männlichen Billigfliegergäste aus England nicht interessiert. Mich haben die Russen aus Moskau, die in Riga ihre Gelder waschen und Immobilien kaufen, nicht interessiert. Mich hat auch der Nato-Gipfel, der erste nach 1989 in einer ehemaligen Sowjetrepublik, nicht interessiert. Mich hat nicht einmal das Rolanddenkmal, den Deutschen aus Bremen bekannt, interessiert. Denn eines Abends saß ich in einem Restaurant, in dem ein Trio mit einer Geigerin wunderbare Jazzmusik spielte.
Professor Ilgvars Misans hatte einen Gast aus Schweden mitgebracht, den Historikerkollegen Nils Blomkvist aus Visby. Wir unterhielten uns über den berühmten Mord an Olof Palme und über die Bundeskanzlerin, eine seltsame Konstellation, gebe ich zu. Wir bestellten Johnnie Walker und redeten über Palme und die Bundeskanzlerin. Und die Geigerin spielte so vollkommen wie ein schwarzer Bluesmusiker, der in der New Yorker Subway auftritt - was nur mit einer amtlichen Genehmigung der Stadt New York möglich ist. Und da wurde mir klar, dass ich Riga schön fand. Hier bin auch ich zu Hause, dachte ich mir.

© Rheinischer Merkur Nr. 5, 01.02.2007

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