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Westerland
mein globales Dorf ohne Gesicht mitten in Europa
Von
Artur Becker
Im
Zuge der Globalisierung werde auch ich in den Fleischwolf geworfen
und zum McDonald's-Hamburger verarbeitet. Schließlich soll
jeder in der vereinten Welt ein tauglicher Kosmopolit werden, ein
weltoffener, vernetzter Bürger, der zwar seine Heimat liebt,
aber genauso gut in Frankreich oder Italien arbeiten und leben könnte,
ohne Sehnsucht zu verspüren nach Sylt, Beck's Bier, Thürin-ger
Bratwürstchen und - zumindest in meinem Fall, da ich Autor
bin - der deut-schen Sprache und Literatur. Ein frommer Wunsch,
denn als Osteuropäer mit einer dunklen Vergangenheit, wie ich
sie habe und nicht nur ich, ist man bekanntermaßen Bürger
zweiter Klasse, auch wenn man seit 1985 in Westerland - so möchte
ich meinen deutschen Staat hier nennen - lebt und sogar zielstrebig
eine schriftstellerische Karriere verfolgt, mal unter Mühen
und am Rande des Nervenzusammenbruchs, mal voller unbegründeter
Zuversicht. In diesem Beruf ist das normal - man braucht starke,
stählerne Nerven und eine Portion gesun-den Selbstbewusstseins,
weil es immer viel zu viele Unkenrufe um dich herum gibt; betrink
dich oder bleib nüchtern, aber ignoriere diese Unkenrufe und
schreib weiter! Doch das ist ein anderes Thema. In diesem Essay
will ich vor allem über Identität reden - nationale, private
und kosmische. Thomas Stearns Eliot und seine "Vier Quartette"
fallen mir da ein, denen ich vieles zu verdanken habe, unter anderem
die Erkenntnis, dass jeder Mensch dreifach gekreuzigt wird - durch
das eigene Schicksal auf Erden, durch das Schicksal seines Landes
und durch jenes Schicksal, um das sich Religionsstifter, Quantenphysiker,
Philoso-phen und Dichter den Kopf zerbrechen. Im Allgemeinen nennt
sich diese dritte Kreuzigung Metaphysik, oder weniger hochgestochen:
die Suche nach dem Sinn für unser Dasein, bzw. für unsere
Bestimmung.
Westerland liegt auf Sylt und ist die Hauptstadt der Insel. Da ich
aber eine poetische Brille trage - eine Sonnenbrille aus meiner
polnisch-deutschen Kind-heit in Warmia und Masuren -, die das Bild
der Welt verzerrt, wie in einem Spiegelkabinett, bin ich immer auf
der Suche nach einem treffenden Namen für mein neues-altes
Vaterland. Heute gefällt mir Westerland, mein globales Dorf
ohne Gesicht mitten in Europa. Warum Westerland? Was soll dieser
lange Na-me?
Deutschland ist nach der Vereinigung so gähnend langweilig
geworden, dass ich sterben könnte: Es spricht andauernd von
seinen wirtschaftlichen Problemen und davon, dass alles reformiert
werden müsse. Die Aufzählung der wichtigsten zu reformierenden
Lebensbereiche der hiesigen Gesellschaft lohnt nicht. Die Liste
wäre kilometerlang. Wie sich die Zeiten ändern können!
Am Anfang, näm-lich in Leipzig, wollten die Deutschen nur Freiheit,
jetzt wollen sie mehr Gehalt und Unterhaltung. Im Übrigen gibt
es das Phänomen der ausgestreckten Hand, die auf Almosen wartet,
auch in Osteuropa, nur scheint es mir, als würden die Menschen
in Polen, Tschechien und Ungarn nicht so viel jammern wie die Deutschen.
Vielleicht sind sie auch nur krisenerprobter und können sich
mit den fortlaufenden Änderungen seit 1989 besser arrangieren?
Oder sie jammern ge-nauso viel, nur vielleicht leiser und nicht
von der Angst gelähmt? Vielleicht jammern sie auch gar nicht
und tragen ihr Leid mit Fassung? Was weiß ich! Eines kann
man mit Sicherheit sagen: Die Osteuropäer, vor allem die jungen,
ha-ben noch Hoffnung und die Energie zu entschlossenem Handeln.
Sie wollen um jeden Preis die Chance, welche ihnen das Jahr 1989
geschenkt hat, nutzen, wäh-rend die Bewohner von Westerland
immer mehr in tiefe Depression verfallen, und ich brauche mich gar
nicht zu fragen, was dabei rauskommt: nach dem Zu-sammenbruch des
Ostens nun der Zusammenbruch des Westens.
Des Weiteren: Deutschland, nämlich mein Westerland, ist ein
Rentnerland, wie man es an den Urlaubsorten unserer Welt beobachten
kann. Dabei handelt es sich um solche Rentner, die keine Sorgen
haben und sogar etwas Geld übrig für ihren zwei- oder
vierwöchigen Spaß am Meer und in der Sonne. Dagegen ist
nichts einzuwenden. Aber haben Sie an deutschen Urlaubsorten wie
z.B. Wes-terland schon alte, geschweige denn junge Italiener, Spanier
oder Franzosen ge-sehen, welche die Schönheit der Insel bewundernd,
mit digitalen Fotoapparaten und Kameras an den Stränden und
auf den Straßen umherschlendern würden, wie ihre deutschen
Pendants in der Toskana oder an der Costa Brava? Na gut, Berlin,
Heidelberg, Köln und der Schwarzwald ausgenommen - dort kommen
sie alle hin, auch die Japaner und die Amis. Aber ansonsten ist
die Republik Adenauers und Brandts, der beiden wichtigsten Architekten
der BRD, nicht nur langweilig geworden, sondern auch sehr alt. Und
das ist nicht gut. Alte Men-schen, mögen sie auch so weise
sein wie das I-Ging, das chinesische Buch der Wandlungen, bremsen
Reformen und Revolutionen. Zumindest kann ich Wes-terland nicht
unbedingt als attraktiven Ort zum Urlauben oder gar zum Studieren
bezeichnen. Jedem jungen Menschen würde ich England oder Frankreich
oder die USA empfehlen - Junge/Mädchen, dort lernst du was!
Und wenn wir schon dabei sind - was wäre Westerland ohne Türken,
Polen und Russen, die hierzu-lande die größten Minderheiten
bilden? Diese Verjüngungskur muss doch ir-gendwann Früchte
tragen - kann man sie bereits sehen und pflücken? Ja und nein.
Die allgemeine Stimmung innerhalb der bundesdeutschen Grenzen ist
schlecht. Pausenlos wird von Arbeitslosigkeit gesprochen. Allein
das Wort Ar-beitslosigkeit bringt eine negative Schwingung mit sich.
Warum spricht man nicht von Menschen, die keinen Job finden können?
Oder wie in England, man wird freigestellt: be made redundant.
Viele Deutsche, die noch vom Wirtschaftswunder profitieren konnten,
ver-lassen mein Westerland und gehen nach Spanien und Portugal und
Frankreich, weil ihre Ersparnisse und Renten diesen Umzug in einen
sonnigen Lebensabend erlauben. Diese Deutschen mögen ihr Land
nicht deshalb, weil es gut zum Erho-len bzw. Leben ist, sondern
deshalb, weil es sich bestens zum Geldverdienen geeignet hat - auf
diese eigenartige Situation hat bereits Michel Houellebecq in einem
seiner Aufsätze hingewiesen.
Die paar anderen Stimmen, die liebevoll von ihrer Heimat sprechen
(ich schwöre, es gibt sie, ich habe sie mit eigenen Ohren gehört),
zählen nicht, weil sie zu wenige sind. Eine nette Journalistin
aus Düsseldorf könnte ich anführen, die in einem
Café am Rhein einmal zu mir meinte: "Ein schönes
Land, ich liebe es." Ein Satz, der viel zu selten ist. Ganz
selten. Gott sei Dank hat mein Kollege und Freund Michael Lentz
die "Liebeserklärung" geschrieben. Sein Ich-Erzähler,
der im Zug sitzt und von Ort zu Ort reist, hasst sein Land und liebt
es zugleich. Na, endlich ein Mensch, und kein Deutscher!, dachte
ich während der Lektüre. Oder der irische Filmregisseur
und Drehbuchautor Calvin Mc Bride, der mir anvertraut hat, dass
er Berlin gegen keine andere Stadt tauschen würde - nicht einmal
gegen New York. Er liebe diese Stadt, sie sei für Künstler
wie ge-schaffen, denn nirgendwo sonst würden der Westen und
der Osten so extrem aufeinander stoßen.
Aber was ist mit der Mehrheit? Warum jammert die Mehrheit so hartnäckig?
Warum schickt der Bundeskanzler die Mehrheit nicht in die Ukraine
oder gar nach Nord-Korea? Nur für ein halbes Jahr, damit diese
Mehrheit, die ihre Regie-rung wählt, merkt, dass sie nach wie
vor im Paradies lebt. Solch ein absurder Vorschlag zeigt, dass wir
sehr bequem geworden sind. Der Wohlstand, ein war-mes Bett und ein
prallgefüllter Kühlschrank töten jeden Tatendrang,
und der Staat wird plötzlich Babysitter für seine Bürger.
Wie sich der Spieß umdrehen kann! Ähnlich war es doch
im Sozialismus, wo der Staat - und das nicht nur auf dem Papier
- die Babysitterrolle mit Genuss gespielt hat: in erster Linie,
um sei-ne Kinder im Schach zu halten, aber viele dieser Kinder haben
ihre Verantwor-tung gerne an diesen übermächtigen Staat
abgegeben. Ja, ja, ihr Denunzianten!
Ich tue hier so, als wüsste ich alles besser, aber ich erzähle
seit Jahren in meinen Interviews, Deutschland sei für mich
ein Arbeits- und Schlafzimmer. Ich würde mich in der deutschen
Sprache und in der internationalen Literatur ver-stecken - wie,
dazu komme ich noch. Aber was ist mit der hiesigen Erde, die ich
täglich betrete? Warum ist sie nicht heilig wie meine Kindheit?
Oder bin ich blind? Und warum sehe ich so viele graue, resignierte
Gesichter, wie in den ers-ten Gedichten von Durs Grünbein,
sobald ich die alte Grenze in Helmstedt Rich-tung Magdeburg passiert
habe? Und warum ist meine Generation, die in Wester-land wohnt,
so distanziert gegenüber den Ossis? Warum interessiert sie
sich so wenig für die Ex-DDR? Fragen über Fragen.
Dieses andere Deutschland heißt in meinem poetischen Lexikon:
Warne-münde (dort habe ich in den Siebzigern zweimal meine
Sommerferien ver-bracht). Eine Warnung in aller Leute Munde ist
meine Übersetzung. Diese War-nung aller Leute wird seit 1914
ausgesprochen und lebt in der jetzigen ökonomi-schen Krise
weiter, die mehr und mehr eine kulturgeschichtliche wird, und auch
bei mir, weil ich Bücher schreibe. Die Erklärungen für
diese umfangreiche Krise nehmen kein Ende: Die deutsche Vereinigung
habe Millionen gekostet, die hin-kende Weltwirtschaft mit ihren
kollabierenden Börsen sei schuld, der Euro habe uns ausbluten
lassen, die SPD müsse abgewählt werden usw. Ich weiß
nicht ...
Aber
sachte, Artur Becker, nicht so vorlaut. Wie hieß dein Land,
als du ... Ganz am Anfang, als ich in der BRD neugeboren wurde,
nämlich nach meiner Über-siedlung in dem besagten Jahr
1985, hieß dieses Land Celle. In dieser Stadt gibt es ein
Jugenddorf für Spätaussiedlerkinder, und ich bekam dort
tatsächlich mei-ne eigene Zelle: Ich sollte im stillen Kämmerlein
sitzen, Deutsch lernen und mich auf eine Lehre vorbereiten. Ich
sollte Handwerker werden, einen Beruf er-greifen, der später
einen Job und ein Gehalt sichern würde - ich Arthur Rimbaud
aus Bartoszyce in Warmia, ein angehender polnischer Lyriker, der
dachte, er wäre ein Genie (Götter mögen mir diese
Jugendsünde verzeihen!), sollte also ein gottverdammter Westländer
werden, der für seinen Golf und das Reihenhäu-schen Kredite
aufnehmen und praktisch die Hälfte seines produktiven Lebens
der Asche des Konsums, dem großen Nichts, opfern würde.
Nein, ich kam doch aus einem Gefängnis. Es war sozialistisch
und unerträglich verlogen und ver-dorben. Und jetzt schon wieder
eine Inhaftierung? Diesmal im Namen des Kapi-talismus? Nein, das
ist doch paranoid, dachte ich damals. Ich beschloss zu flie-hen,
ich packte meine sieben Sachen und ging zu meinen Eltern, die in
Verden an der Aller ihr Glück gefunden zu haben schienen.
Wieder ein neuer Name: Verden, wie das Werden. Jetzt soll aus Dir,
Arthur Rimbaud, etwas und jemand werden, aber was und wer? Ein Deutscher?
Ein polnischer Dichter? Ein Abiturient? Ein Soldat der Bundeswehr
oder ein Zivi des Roten Kreuzes? Ein griesgrämiger Ausländer?
Ein begeisterter Ausländer? Ein Student? Ein Romancier? Oder
ein Übersetzer? Es gab also bei der Ent-scheidung, etwas und
jemand zu werden, einige Probleme, die bis heute noch akut sind.
Schließlich wurde ich Schriftsteller, was nicht so schlimm
ist. Es ist anstrengend, aber zu ertragen.
Akut sind die Probleme um das Werden herum deshalb, weil letztendlich
niemand behaupten kann, er sei etwas und jemand geworden, denn die
Marsch-route bestimmt der Tod. Ich bin zwar Schriftsteller, aber
bereits tot. Mich gibt es nicht mehr. Ein kosmisches Paradoxon,
dieses Nicht-Sein. Man hat ausgerech-net, dass vor uns etwa 30 Milliarden
Menschen auf der Erde gelebt haben sollen. Wo sind sie? Was und
wer waren sie?
Der Tod beendet irdische Illusionen, was mich sogar freut. Eine
der größten Illusionen ist die feste Überzeugung
vieler Menschen, dass sie Bürger eines Staates sind und dass
sie zu einer Nation und Muttersprache gehören. Ich musste nicht
einmal sterben, um dieser merkwürdigen Illusion zu begegnen.
Ich durch-lebte und überprüfte sie gleich an meinem ersten
Tag im Grenzdurchgangslager Friedland, als mir ein Beamter aufgrund
der vorgelegten Urkunden einen deut-schen Nachnamen verpasste und
sich sogar meinen Vornamen vorknöpfte, um ihn zu ändern:
"Willst du denn nicht Arthur heißen, mit H?" Ich
war damals fünfzehn und Schüler. Ich war jedoch über
diese Frage entsetzt. Mein Vater übersetzte, was ich auf Polnisch
geantwortet hatte: "Nein, es gab nur einen, der einem Vornamen
ein H hinzufügen durfte. Es war der Gott Jahwe, der Abram in
Abraham umgetauft hatte, um aus ihm einen Erzvater zu machen. Wollen
Sie in Gottes Namen handeln?" Der Beamte sagte, ich sei verrückt.
Aber mein Vor-name wurde nicht geändert, er blieb heidnisch,
wie die Gegend, aus der ich komme: Ermland im ehemaligen Ostpreußen.
Oder ganz einfach gesagt: Ich wollte etwas Polnisches an mir bewahren
können - nur für mich, zum Beispiel den Vornamen. Das
klingt sehr patriotisch, in Wahrheit wäre ich der Letzte, der
irgendein nationales, politisches oder gar literarisches Plädoyer
oder Manifest unterschreiben würde (das Einzige, was für
mich zählt, ist Freiheit).
Oder ganz anders: Meine Großmutter mütterlicherseits,
die Natalia aus Za-mety bei Kalisz, trug vier Jahre lang den aufgenähten
Buchstaben P für Pole über ihrer Brust. Sie war also eine
Zwangsarbeiterin - von 1941 bis 1945. In derselben Zeit sparte meine
deutsche Großmutter Erna aus Ostpreußen für ihr
zukünftiges Haus. Sie hatte eine beträchtliche Summe auf
ihrem Sparbuch, zu-mindest könnte sie sich irgendwann, wahrscheinlich
nach der Heirat, ein Häu-schen bauen, zusammen mit ihrem Ehemann.
Ihr Verliebter war Matrose eines U-Boots, das naturgemäß
von den Alliierten versenkt wurde. Dieser junge Mann wird mich nie
kennen lernen. Er hat aber meine Großmutter Erna aus Galingen
geliebt. Und ich denke an ihn - das ist paradox, aber ich denke
ab und zu an ihn. Er hat sie doch geliebt. Und ich denke auch an
dieses große P über der linken Brust von Natalia.
Oder der Bruder Ernas aus Galingen, ein anderer Fall. Die Rote Armee
stand schon vor Suwalki, sie kam mit gewaltigen Schritten auf Bartenstein
zu, und Ernas Bruder, ein junger Soldat, flieht von der Front, weil
er seine Geschwister und Eltern warnen will. "Haut ab! Lasst
alles liegen! Haut ab!" Niemand weiß, wo er gefallen
ist. Angeblich gibt es ein Feld in der Nähe von Bartoszyce,
dem damaligen Bartenstein, auf dem er erschossen wurde. Wo soll
ich dieses Feld suchen? Und wer hat ihn erschossen? Ein betrunkener
Rotarmist? Oder ein be-trunkener Wehrmachtsoffizier, der einen Deserteur
bestrafen wollte? Und die Bienenstöcke im Garten meiner deutschen
Urgroßeltern. In jedem von ihnen lag ein abgeschnittener Kopf
-
Was meine Oma Natalia aus Zamety durchlitten hat, will ich nur skizzieren.
Ihr Sohn hat sie nach ihrer Rückkehr aus Hannover nicht erkannt.
Als Mutter nicht akzeptieren wollen: "Wer ist diese fremde
Frau?" Wenn ich mir vorstelle, man würde mir meinen Sohn
für die nächsten vier Jahre wegnehmen ... Was sa-ge ich
denn ... Wenn ich mir vorstelle, ich würde meinen kleinen Sohn
vielleicht nie wieder sehen ...
Ich schreibe hier nicht von irgendwelchen Grausamkeiten. Sie gehören
zu meiner Biographie. Die Grausamkeiten, die im Kolosseum passiert
sind, die Verfolgung der Christen oder der Juden oder der qualvolle
Tod Giordano Bru-nos oder die sinnlosen Autounfälle, die ebenfalls
zum Tode von Menschen füh-ren können - all das kann ich
verinnerlichen, aber diese Tode und Grausamkei-ten sind nicht meine
Wunden. Sie gehören nicht zu meiner Biographie, sondern uns
allen, sie bilden unser kollektives Gedächtnis, deswegen wird
unser Protest gegen das unbekannte Leid zwar jedes Mal laut, und
wir ertrinken in furchtbarer Ohnmacht wie bei den neusten terroristischen
Anschlägen in Madrid, aber wir sind nicht selbst betroffen.
Als ich klein war, hatte ich einen Spitznamen: Heinz. Das ist meine
Biogra-phie! Ich war für meine Spielkameraden ein deutsches
Kind, obwohl ich nicht einmal des Deutschen mächtig war, zumindest
als Siebenjähriger. Aber sie wussten von unseren Verwandten
und Freunden aus Deutschland, die uns in Bartoszyce und am Dadajsee,
an dem mein Vater als Leiter des Erholungszent-rums des Wirkwarenbetriebes
Morena arbeitete, besuchten. Ich konnte mich nicht wehren. Ich war
einfach Heinz und basta. Und nun komme ich eines schö-nen Tages
aus Polen nach Verden und Bremen und muss mir eine völlig neue
Geschichte über mein Leben anhören: Sie sind Pole, nicht
wahr?
Was und wer bin ich also geworden? Die nächste Station war
Bremen. Mei-ne Übersetzung lautete: Bremen ist wie Brennen.
Von nun an wirst du brennen. Wie Feuer. Und sollte dich einer fragen,
was für ein Landsmann du bist, schaust du nicht in deinen deutschen
Pass, sondern in den Himmel und antwortest: Ich bin Feuer. Und ich
habe unendlich viele Gesichter, ich bin zwar nicht Krishna - Gott
sei dank! -, aber ich habe Gesichter, die alle für sich allein
ihre eigene Be-deutung besitzen. Wie Feuer, dessen Flammen in ihren
phantastischen Formen unerschöpflich einfallsreich sind.
Mit solch einer Antwort kann ein Staat nichts anfangen. Aber das
ist mir egal.
Westerland
hat zur Zeit kein Gesicht. Westerland muss erst einmal geboren werden.
Die Wehen haben bereits eingesetzt, sie dauern seit 1989 an. Seit
dem Mauerfall. Ich habe in jenem Jahr vielen Freunden erzählt,
ohne prophetisch oder pädagogisch wirken zu wollen, das sei
nur der Anfang: Ihr werdet sehen, jetzt ist der Kapitalismus dran,
jetzt ist die Marktwirtschaft dran, jetzt ist die hochgelobte westliche
Demokratie dran, jetzt ist vor allem der westliche Teil Deutschlands
dran, und auch dieses System wird zusammenbrechen und sich erneuern
müssen. Mag sein, dass ich damals nicht der einzige junge Intellektuel-le
war, der so gedacht hat. Mag sein. Aber ich habe es ausgesprochen
und ge-fühlt. Und mir gefiel an diesem verwegenen Gedanken
eines: Ich hatte als Kind gesehen, wie ein politisches und wirtschaftliches
System zusammengebrochen war, hatte in dieser Zeit des Umbruchs
viel gelernt und würde dem kommenden Umbruch in meinem neuen-alten
Land ohne Angst begegnen, ich würde mich sogar freuen: Weil
die Geschichte eines jeden Staates, ja Menschen, eine per-manente
Krise ist, um es mit Worten von Leszek Kolakowski auszudrücken.
Nur so ist jeglicher Fortschritt möglich. Und ich würde
jeden Totalitarismus - in der Politik und auch in der Wirtschaft,
ja selbst in der Literatur - verabscheuen, wie es mir Sir Karl Popper
beigebracht hat, in seinen Büchern.
Die Aussichten, was unsere Zukunft betrifft, sind auf den ersten
Blick schlecht, das Ziel klingt aber erhaben. Die Welt ein Dorf.
Was sich dahinter ver-birgt ist jedoch im Grunde nichts anderes
als oberflächliche Multikulturalität, mit anderen Worten:
Ich lasse mich im Zuge der Globalisierung als Hamburger verspeisen.
Kein Problem. Wie gesagt, ich habe verschiedene Gesichter und T-Shirts,
die ich anziehen kann. Aber zum Schluss muss der Umbruch, der 1989
begonnen hat, alle anderen Europäer erreichen, auch wenn wir
im Westen unse-ren gewohnten Lebensstandard aufgeben müssen.
Nur so ist eine brüderliche Vereinigung mit den Neuankömmlingen
möglich. Nur so kann jeder seine Iden-tität ohne Scham
und die Gefahr, verschmäht zu werden, zur Schau stellen.
Einen Punkt muss ich in diesem kurzen Text noch erwähnen, ich
habe näm-lich versprochen, dass ich über meine literarischen
Vorlieben schreiben würde. Ich habe heute im Zug lange darüber
nachgedacht, welcher Schriftsteller wirk-lich auf der Seite des
Menschen gestanden hat. Uneingeschränkt auf der Seite des Menschen,
wie Marlene Dietrich für ihre Soldaten, ihre Boys, im Zweiten
Weltkrieg. Welcher Autor von den Klassikern hat sich in keine formellen
Expe-rimente, in keine philosophischen und epochebedingten Debatten
verwickeln lassen? Welcher Autor hat jeglichem Abgrund des Nihilismus
oder der morbi-den, subversiven Vorstellungskraft, die aus der Alienation
schöpft, wie bei Kaf-ka oder H. P. Lovecraft zum Beispiel,
getrotzt? Welcher Autor war so kompro-misslos, dass er das Menschliche,
das Sein als Mensch, als höchstes, heiligstes Gut in den Vordergrund
gestellt hat, aber so, dass nicht einmal Dante, Cervan-tes, Shakespeare,
Goethe, Mickiewicz und Dostojewski an ihn heranreichen könnten
- nicht künstlerisch, sondern im Glauben an den Menschen? Mir
fiel nur ein Name ein: John Steinbeck. Ja, John Steinbeck. Und kein
anderer.
Ich muss jetzt Schluss machen. Ich habe viele Zigaretten geraucht
und vieles gesagt. Aber zu wenig. Es ist nach wie vor zu wenig,
und morgen werde ich ei-nen neuen Text verfassen. Dem Leser dieses
Essays empfehle ich John Stein-becks Bücher. Sie werden uns
im Europa der während zahlreicher Konflikte ver-loren gegangenen
Identitäten helfen. Sie werden uns ins Gedächtnis zurückru-fen,
dass wir Feuer sind, unsterbliches Bewusstsein, göttliche Schöpfung.
Zuletzt:
"Kino Muza", Roman, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
2003
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