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Wie verkauft man die Bibel?

Westerland – mein globales Dorf ohne Gesicht mitten in Europa

Von Artur Becker

Im Zuge der Globalisierung werde auch ich in den Fleischwolf geworfen und zum McDonald's-Hamburger verarbeitet. Schließlich soll jeder in der vereinten Welt ein tauglicher Kosmopolit werden, ein weltoffener, vernetzter Bürger, der zwar seine Heimat liebt, aber genauso gut in Frankreich oder Italien arbeiten und leben könnte, ohne Sehnsucht zu verspüren nach Sylt, Beck's Bier, Thürin-ger Bratwürstchen und - zumindest in meinem Fall, da ich Autor bin - der deut-schen Sprache und Literatur. Ein frommer Wunsch, denn als Osteuropäer mit einer dunklen Vergangenheit, wie ich sie habe und nicht nur ich, ist man bekanntermaßen Bürger zweiter Klasse, auch wenn man seit 1985 in Westerland - so möchte ich meinen deutschen Staat hier nennen - lebt und sogar zielstrebig eine schriftstellerische Karriere verfolgt, mal unter Mühen und am Rande des Nervenzusammenbruchs, mal voller unbegründeter Zuversicht. In diesem Beruf ist das normal - man braucht starke, stählerne Nerven und eine Portion gesun-den Selbstbewusstseins, weil es immer viel zu viele Unkenrufe um dich herum gibt; betrink dich oder bleib nüchtern, aber ignoriere diese Unkenrufe und schreib weiter! Doch das ist ein anderes Thema. In diesem Essay will ich vor allem über Identität reden - nationale, private und kosmische. Thomas Stearns Eliot und seine "Vier Quartette" fallen mir da ein, denen ich vieles zu verdanken habe, unter anderem die Erkenntnis, dass jeder Mensch dreifach gekreuzigt wird - durch das eigene Schicksal auf Erden, durch das Schicksal seines Landes und durch jenes Schicksal, um das sich Religionsstifter, Quantenphysiker, Philoso-phen und Dichter den Kopf zerbrechen. Im Allgemeinen nennt sich diese dritte Kreuzigung Metaphysik, oder weniger hochgestochen: die Suche nach dem Sinn für unser Dasein, bzw. für unsere Bestimmung.
Westerland liegt auf Sylt und ist die Hauptstadt der Insel. Da ich aber eine poetische Brille trage - eine Sonnenbrille aus meiner polnisch-deutschen Kind-heit in Warmia und Masuren -, die das Bild der Welt verzerrt, wie in einem Spiegelkabinett, bin ich immer auf der Suche nach einem treffenden Namen für mein neues-altes Vaterland. Heute gefällt mir Westerland, mein globales Dorf ohne Gesicht mitten in Europa. Warum Westerland? Was soll dieser lange Na-me?
Deutschland ist nach der Vereinigung so gähnend langweilig geworden, dass ich sterben könnte: Es spricht andauernd von seinen wirtschaftlichen Problemen und davon, dass alles reformiert werden müsse. Die Aufzählung der wichtigsten zu reformierenden Lebensbereiche der hiesigen Gesellschaft lohnt nicht. Die Liste wäre kilometerlang. Wie sich die Zeiten ändern können! Am Anfang, näm-lich in Leipzig, wollten die Deutschen nur Freiheit, jetzt wollen sie mehr Gehalt und Unterhaltung. Im Übrigen gibt es das Phänomen der ausgestreckten Hand, die auf Almosen wartet, auch in Osteuropa, nur scheint es mir, als würden die Menschen in Polen, Tschechien und Ungarn nicht so viel jammern wie die Deutschen. Vielleicht sind sie auch nur krisenerprobter und können sich mit den fortlaufenden Änderungen seit 1989 besser arrangieren? Oder sie jammern ge-nauso viel, nur vielleicht leiser und nicht von der Angst gelähmt? Vielleicht jammern sie auch gar nicht und tragen ihr Leid mit Fassung? Was weiß ich! Eines kann man mit Sicherheit sagen: Die Osteuropäer, vor allem die jungen, ha-ben noch Hoffnung und die Energie zu entschlossenem Handeln. Sie wollen um jeden Preis die Chance, welche ihnen das Jahr 1989 geschenkt hat, nutzen, wäh-rend die Bewohner von Westerland immer mehr in tiefe Depression verfallen, und ich brauche mich gar nicht zu fragen, was dabei rauskommt: nach dem Zu-sammenbruch des Ostens nun der Zusammenbruch des Westens.
Des Weiteren: Deutschland, nämlich mein Westerland, ist ein Rentnerland, wie man es an den Urlaubsorten unserer Welt beobachten kann. Dabei handelt es sich um solche Rentner, die keine Sorgen haben und sogar etwas Geld übrig für ihren zwei- oder vierwöchigen Spaß am Meer und in der Sonne. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber haben Sie an deutschen Urlaubsorten wie z.B. Wes-terland schon alte, geschweige denn junge Italiener, Spanier oder Franzosen ge-sehen, welche die Schönheit der Insel bewundernd, mit digitalen Fotoapparaten und Kameras an den Stränden und auf den Straßen umherschlendern würden, wie ihre deutschen Pendants in der Toskana oder an der Costa Brava? Na gut, Berlin, Heidelberg, Köln und der Schwarzwald ausgenommen - dort kommen sie alle hin, auch die Japaner und die Amis. Aber ansonsten ist die Republik Adenauers und Brandts, der beiden wichtigsten Architekten der BRD, nicht nur langweilig geworden, sondern auch sehr alt. Und das ist nicht gut. Alte Men-schen, mögen sie auch so weise sein wie das I-Ging, das chinesische Buch der Wandlungen, bremsen Reformen und Revolutionen. Zumindest kann ich Wes-terland nicht unbedingt als attraktiven Ort zum Urlauben oder gar zum Studieren bezeichnen. Jedem jungen Menschen würde ich England oder Frankreich oder die USA empfehlen - Junge/Mädchen, dort lernst du was! Und wenn wir schon dabei sind - was wäre Westerland ohne Türken, Polen und Russen, die hierzu-lande die größten Minderheiten bilden? Diese Verjüngungskur muss doch ir-gendwann Früchte tragen - kann man sie bereits sehen und pflücken? Ja und nein. Die allgemeine Stimmung innerhalb der bundesdeutschen Grenzen ist schlecht. Pausenlos wird von Arbeitslosigkeit gesprochen. Allein das Wort Ar-beitslosigkeit bringt eine negative Schwingung mit sich. Warum spricht man nicht von Menschen, die keinen Job finden können? Oder wie in England, man wird freigestellt: be made redundant.
Viele Deutsche, die noch vom Wirtschaftswunder profitieren konnten, ver-lassen mein Westerland und gehen nach Spanien und Portugal und Frankreich, weil ihre Ersparnisse und Renten diesen Umzug in einen sonnigen Lebensabend erlauben. Diese Deutschen mögen ihr Land nicht deshalb, weil es gut zum Erho-len bzw. Leben ist, sondern deshalb, weil es sich bestens zum Geldverdienen geeignet hat - auf diese eigenartige Situation hat bereits Michel Houellebecq in einem seiner Aufsätze hingewiesen.
Die paar anderen Stimmen, die liebevoll von ihrer Heimat sprechen (ich schwöre, es gibt sie, ich habe sie mit eigenen Ohren gehört), zählen nicht, weil sie zu wenige sind. Eine nette Journalistin aus Düsseldorf könnte ich anführen, die in einem Café am Rhein einmal zu mir meinte: "Ein schönes Land, ich liebe es." Ein Satz, der viel zu selten ist. Ganz selten. Gott sei Dank hat mein Kollege und Freund Michael Lentz die "Liebeserklärung" geschrieben. Sein Ich-Erzähler, der im Zug sitzt und von Ort zu Ort reist, hasst sein Land und liebt es zugleich. Na, endlich ein Mensch, und kein Deutscher!, dachte ich während der Lektüre. Oder der irische Filmregisseur und Drehbuchautor Calvin Mc Bride, der mir anvertraut hat, dass er Berlin gegen keine andere Stadt tauschen würde - nicht einmal gegen New York. Er liebe diese Stadt, sie sei für Künstler wie ge-schaffen, denn nirgendwo sonst würden der Westen und der Osten so extrem aufeinander stoßen.
Aber was ist mit der Mehrheit? Warum jammert die Mehrheit so hartnäckig? Warum schickt der Bundeskanzler die Mehrheit nicht in die Ukraine oder gar nach Nord-Korea? Nur für ein halbes Jahr, damit diese Mehrheit, die ihre Regie-rung wählt, merkt, dass sie nach wie vor im Paradies lebt. Solch ein absurder Vorschlag zeigt, dass wir sehr bequem geworden sind. Der Wohlstand, ein war-mes Bett und ein prallgefüllter Kühlschrank töten jeden Tatendrang, und der Staat wird plötzlich Babysitter für seine Bürger. Wie sich der Spieß umdrehen kann! Ähnlich war es doch im Sozialismus, wo der Staat - und das nicht nur auf dem Papier - die Babysitterrolle mit Genuss gespielt hat: in erster Linie, um sei-ne Kinder im Schach zu halten, aber viele dieser Kinder haben ihre Verantwor-tung gerne an diesen übermächtigen Staat abgegeben. Ja, ja, ihr Denunzianten!
Ich tue hier so, als wüsste ich alles besser, aber ich erzähle seit Jahren in meinen Interviews, Deutschland sei für mich ein Arbeits- und Schlafzimmer. Ich würde mich in der deutschen Sprache und in der internationalen Literatur ver-stecken - wie, dazu komme ich noch. Aber was ist mit der hiesigen Erde, die ich täglich betrete? Warum ist sie nicht heilig wie meine Kindheit? Oder bin ich blind? Und warum sehe ich so viele graue, resignierte Gesichter, wie in den ers-ten Gedichten von Durs Grünbein, sobald ich die alte Grenze in Helmstedt Rich-tung Magdeburg passiert habe? Und warum ist meine Generation, die in Wester-land wohnt, so distanziert gegenüber den Ossis? Warum interessiert sie sich so wenig für die Ex-DDR? Fragen über Fragen.
Dieses andere Deutschland heißt in meinem poetischen Lexikon: Warne-münde (dort habe ich in den Siebzigern zweimal meine Sommerferien ver-bracht). Eine Warnung in aller Leute Munde ist meine Übersetzung. Diese War-nung aller Leute wird seit 1914 ausgesprochen und lebt in der jetzigen ökonomi-schen Krise weiter, die mehr und mehr eine kulturgeschichtliche wird, und auch bei mir, weil ich Bücher schreibe. Die Erklärungen für diese umfangreiche Krise nehmen kein Ende: Die deutsche Vereinigung habe Millionen gekostet, die hin-kende Weltwirtschaft mit ihren kollabierenden Börsen sei schuld, der Euro habe uns ausbluten lassen, die SPD müsse abgewählt werden usw. Ich weiß nicht ...

Aber sachte, Artur Becker, nicht so vorlaut. Wie hieß dein Land, als du ... Ganz am Anfang, als ich in der BRD neugeboren wurde, nämlich nach meiner Über-siedlung in dem besagten Jahr 1985, hieß dieses Land Celle. In dieser Stadt gibt es ein Jugenddorf für Spätaussiedlerkinder, und ich bekam dort tatsächlich mei-ne eigene Zelle: Ich sollte im stillen Kämmerlein sitzen, Deutsch lernen und mich auf eine Lehre vorbereiten. Ich sollte Handwerker werden, einen Beruf er-greifen, der später einen Job und ein Gehalt sichern würde - ich Arthur Rimbaud aus Bartoszyce in Warmia, ein angehender polnischer Lyriker, der dachte, er wäre ein Genie (Götter mögen mir diese Jugendsünde verzeihen!), sollte also ein gottverdammter Westländer werden, der für seinen Golf und das Reihenhäu-schen Kredite aufnehmen und praktisch die Hälfte seines produktiven Lebens der Asche des Konsums, dem großen Nichts, opfern würde. Nein, ich kam doch aus einem Gefängnis. Es war sozialistisch und unerträglich verlogen und ver-dorben. Und jetzt schon wieder eine Inhaftierung? Diesmal im Namen des Kapi-talismus? Nein, das ist doch paranoid, dachte ich damals. Ich beschloss zu flie-hen, ich packte meine sieben Sachen und ging zu meinen Eltern, die in Verden an der Aller ihr Glück gefunden zu haben schienen.
Wieder ein neuer Name: Verden, wie das Werden. Jetzt soll aus Dir, Arthur Rimbaud, etwas und jemand werden, aber was und wer? Ein Deutscher? Ein polnischer Dichter? Ein Abiturient? Ein Soldat der Bundeswehr oder ein Zivi des Roten Kreuzes? Ein griesgrämiger Ausländer? Ein begeisterter Ausländer? Ein Student? Ein Romancier? Oder ein Übersetzer? Es gab also bei der Ent-scheidung, etwas und jemand zu werden, einige Probleme, die bis heute noch akut sind. Schließlich wurde ich Schriftsteller, was nicht so schlimm ist. Es ist anstrengend, aber zu ertragen.
Akut sind die Probleme um das Werden herum deshalb, weil letztendlich niemand behaupten kann, er sei etwas und jemand geworden, denn die Marsch-route bestimmt der Tod. Ich bin zwar Schriftsteller, aber bereits tot. Mich gibt es nicht mehr. Ein kosmisches Paradoxon, dieses Nicht-Sein. Man hat ausgerech-net, dass vor uns etwa 30 Milliarden Menschen auf der Erde gelebt haben sollen. Wo sind sie? Was und wer waren sie?
Der Tod beendet irdische Illusionen, was mich sogar freut. Eine der größten Illusionen ist die feste Überzeugung vieler Menschen, dass sie Bürger eines Staates sind und dass sie zu einer Nation und Muttersprache gehören. Ich musste nicht einmal sterben, um dieser merkwürdigen Illusion zu begegnen. Ich durch-lebte und überprüfte sie gleich an meinem ersten Tag im Grenzdurchgangslager Friedland, als mir ein Beamter aufgrund der vorgelegten Urkunden einen deut-schen Nachnamen verpasste und sich sogar meinen Vornamen vorknöpfte, um ihn zu ändern: "Willst du denn nicht Arthur heißen, mit H?" Ich war damals fünfzehn und Schüler. Ich war jedoch über diese Frage entsetzt. Mein Vater übersetzte, was ich auf Polnisch geantwortet hatte: "Nein, es gab nur einen, der einem Vornamen ein H hinzufügen durfte. Es war der Gott Jahwe, der Abram in Abraham umgetauft hatte, um aus ihm einen Erzvater zu machen. Wollen Sie in Gottes Namen handeln?" Der Beamte sagte, ich sei verrückt. Aber mein Vor-name wurde nicht geändert, er blieb heidnisch, wie die Gegend, aus der ich komme: Ermland im ehemaligen Ostpreußen. Oder ganz einfach gesagt: Ich wollte etwas Polnisches an mir bewahren können - nur für mich, zum Beispiel den Vornamen. Das klingt sehr patriotisch, in Wahrheit wäre ich der Letzte, der irgendein nationales, politisches oder gar literarisches Plädoyer oder Manifest unterschreiben würde (das Einzige, was für mich zählt, ist Freiheit).
Oder ganz anders: Meine Großmutter mütterlicherseits, die Natalia aus Za-mety bei Kalisz, trug vier Jahre lang den aufgenähten Buchstaben P für Pole über ihrer Brust. Sie war also eine Zwangsarbeiterin - von 1941 bis 1945. In derselben Zeit sparte meine deutsche Großmutter Erna aus Ostpreußen für ihr zukünftiges Haus. Sie hatte eine beträchtliche Summe auf ihrem Sparbuch, zu-mindest könnte sie sich irgendwann, wahrscheinlich nach der Heirat, ein Häu-schen bauen, zusammen mit ihrem Ehemann. Ihr Verliebter war Matrose eines U-Boots, das naturgemäß von den Alliierten versenkt wurde. Dieser junge Mann wird mich nie kennen lernen. Er hat aber meine Großmutter Erna aus Galingen geliebt. Und ich denke an ihn - das ist paradox, aber ich denke ab und zu an ihn. Er hat sie doch geliebt. Und ich denke auch an dieses große P über der linken Brust von Natalia.
Oder der Bruder Ernas aus Galingen, ein anderer Fall. Die Rote Armee stand schon vor Suwalki, sie kam mit gewaltigen Schritten auf Bartenstein zu, und Ernas Bruder, ein junger Soldat, flieht von der Front, weil er seine Geschwister und Eltern warnen will. "Haut ab! Lasst alles liegen! Haut ab!" Niemand weiß, wo er gefallen ist. Angeblich gibt es ein Feld in der Nähe von Bartoszyce, dem damaligen Bartenstein, auf dem er erschossen wurde. Wo soll ich dieses Feld suchen? Und wer hat ihn erschossen? Ein betrunkener Rotarmist? Oder ein be-trunkener Wehrmachtsoffizier, der einen Deserteur bestrafen wollte? Und die Bienenstöcke im Garten meiner deutschen Urgroßeltern. In jedem von ihnen lag ein abgeschnittener Kopf -
Was meine Oma Natalia aus Zamety durchlitten hat, will ich nur skizzieren. Ihr Sohn hat sie nach ihrer Rückkehr aus Hannover nicht erkannt. Als Mutter nicht akzeptieren wollen: "Wer ist diese fremde Frau?" Wenn ich mir vorstelle, man würde mir meinen Sohn für die nächsten vier Jahre wegnehmen ... Was sa-ge ich denn ... Wenn ich mir vorstelle, ich würde meinen kleinen Sohn vielleicht nie wieder sehen ...
Ich schreibe hier nicht von irgendwelchen Grausamkeiten. Sie gehören zu meiner Biographie. Die Grausamkeiten, die im Kolosseum passiert sind, die Verfolgung der Christen oder der Juden oder der qualvolle Tod Giordano Bru-nos oder die sinnlosen Autounfälle, die ebenfalls zum Tode von Menschen füh-ren können - all das kann ich verinnerlichen, aber diese Tode und Grausamkei-ten sind nicht meine Wunden. Sie gehören nicht zu meiner Biographie, sondern uns allen, sie bilden unser kollektives Gedächtnis, deswegen wird unser Protest gegen das unbekannte Leid zwar jedes Mal laut, und wir ertrinken in furchtbarer Ohnmacht wie bei den neusten terroristischen Anschlägen in Madrid, aber wir sind nicht selbst betroffen.
Als ich klein war, hatte ich einen Spitznamen: Heinz. Das ist meine Biogra-phie! Ich war für meine Spielkameraden ein deutsches Kind, obwohl ich nicht einmal des Deutschen mächtig war, zumindest als Siebenjähriger. Aber sie wussten von unseren Verwandten und Freunden aus Deutschland, die uns in Bartoszyce und am Dadajsee, an dem mein Vater als Leiter des Erholungszent-rums des Wirkwarenbetriebes Morena arbeitete, besuchten. Ich konnte mich nicht wehren. Ich war einfach Heinz und basta. Und nun komme ich eines schö-nen Tages aus Polen nach Verden und Bremen und muss mir eine völlig neue Geschichte über mein Leben anhören: Sie sind Pole, nicht wahr?
Was und wer bin ich also geworden? Die nächste Station war Bremen. Mei-ne Übersetzung lautete: Bremen ist wie Brennen. Von nun an wirst du brennen. Wie Feuer. Und sollte dich einer fragen, was für ein Landsmann du bist, schaust du nicht in deinen deutschen Pass, sondern in den Himmel und antwortest: Ich bin Feuer. Und ich habe unendlich viele Gesichter, ich bin zwar nicht Krishna - Gott sei dank! -, aber ich habe Gesichter, die alle für sich allein ihre eigene Be-deutung besitzen. Wie Feuer, dessen Flammen in ihren phantastischen Formen unerschöpflich einfallsreich sind.
Mit solch einer Antwort kann ein Staat nichts anfangen. Aber das ist mir egal.

Westerland hat zur Zeit kein Gesicht. Westerland muss erst einmal geboren werden. Die Wehen haben bereits eingesetzt, sie dauern seit 1989 an. Seit dem Mauerfall. Ich habe in jenem Jahr vielen Freunden erzählt, ohne prophetisch oder pädagogisch wirken zu wollen, das sei nur der Anfang: Ihr werdet sehen, jetzt ist der Kapitalismus dran, jetzt ist die Marktwirtschaft dran, jetzt ist die hochgelobte westliche Demokratie dran, jetzt ist vor allem der westliche Teil Deutschlands dran, und auch dieses System wird zusammenbrechen und sich erneuern müssen. Mag sein, dass ich damals nicht der einzige junge Intellektuel-le war, der so gedacht hat. Mag sein. Aber ich habe es ausgesprochen und ge-fühlt. Und mir gefiel an diesem verwegenen Gedanken eines: Ich hatte als Kind gesehen, wie ein politisches und wirtschaftliches System zusammengebrochen war, hatte in dieser Zeit des Umbruchs viel gelernt und würde dem kommenden Umbruch in meinem neuen-alten Land ohne Angst begegnen, ich würde mich sogar freuen: Weil die Geschichte eines jeden Staates, ja Menschen, eine per-manente Krise ist, um es mit Worten von Leszek Kolakowski auszudrücken. Nur so ist jeglicher Fortschritt möglich. Und ich würde jeden Totalitarismus - in der Politik und auch in der Wirtschaft, ja selbst in der Literatur - verabscheuen, wie es mir Sir Karl Popper beigebracht hat, in seinen Büchern.
Die Aussichten, was unsere Zukunft betrifft, sind auf den ersten Blick schlecht, das Ziel klingt aber erhaben. Die Welt ein Dorf. Was sich dahinter ver-birgt ist jedoch im Grunde nichts anderes als oberflächliche Multikulturalität, mit anderen Worten: Ich lasse mich im Zuge der Globalisierung als Hamburger verspeisen. Kein Problem. Wie gesagt, ich habe verschiedene Gesichter und T-Shirts, die ich anziehen kann. Aber zum Schluss muss der Umbruch, der 1989 begonnen hat, alle anderen Europäer erreichen, auch wenn wir im Westen unse-ren gewohnten Lebensstandard aufgeben müssen. Nur so ist eine brüderliche Vereinigung mit den Neuankömmlingen möglich. Nur so kann jeder seine Iden-tität ohne Scham und die Gefahr, verschmäht zu werden, zur Schau stellen.
Einen Punkt muss ich in diesem kurzen Text noch erwähnen, ich habe näm-lich versprochen, dass ich über meine literarischen Vorlieben schreiben würde. Ich habe heute im Zug lange darüber nachgedacht, welcher Schriftsteller wirk-lich auf der Seite des Menschen gestanden hat. Uneingeschränkt auf der Seite des Menschen, wie Marlene Dietrich für ihre Soldaten, ihre Boys, im Zweiten Weltkrieg. Welcher Autor von den Klassikern hat sich in keine formellen Expe-rimente, in keine philosophischen und epochebedingten Debatten verwickeln lassen? Welcher Autor hat jeglichem Abgrund des Nihilismus oder der morbi-den, subversiven Vorstellungskraft, die aus der Alienation schöpft, wie bei Kaf-ka oder H. P. Lovecraft zum Beispiel, getrotzt? Welcher Autor war so kompro-misslos, dass er das Menschliche, das Sein als Mensch, als höchstes, heiligstes Gut in den Vordergrund gestellt hat, aber so, dass nicht einmal Dante, Cervan-tes, Shakespeare, Goethe, Mickiewicz und Dostojewski an ihn heranreichen könnten - nicht künstlerisch, sondern im Glauben an den Menschen? Mir fiel nur ein Name ein: John Steinbeck. Ja, John Steinbeck. Und kein anderer.
Ich muss jetzt Schluss machen. Ich habe viele Zigaretten geraucht und vieles gesagt. Aber zu wenig. Es ist nach wie vor zu wenig, und morgen werde ich ei-nen neuen Text verfassen. Dem Leser dieses Essays empfehle ich John Stein-becks Bücher. Sie werden uns im Europa der während zahlreicher Konflikte ver-loren gegangenen Identitäten helfen. Sie werden uns ins Gedächtnis zurückru-fen, dass wir Feuer sind, unsterbliches Bewusstsein, göttliche Schöpfung.

Zuletzt: "Kino Muza", Roman, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2003

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