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Die
deutsche Sprache und ich
Artur
Becker
Wir, die deutsche Sprache und ich, haben uns 1975 kennen gelernt,
als ich sieben Jahre alt war. Verwandte mit ihren Freunden besuchten
meine Eltern in Bartoszyce und am Dadajsee in Masuren, meiner Heimat.
Ich konnte mich als Kind schwer an den harschen, harten Klang des
Deutschen gewöhnen. Die Stimmen der Deutschen erschienen mir
damals furchtbar laut und angebe-risch, und darin waren sich die
Wessis und die Ossis gleich. Und ich habe damals überhaupt
nicht verstehen können, warum diese Nation in zwei ver-schiedenen
Ländern lebte. Sie sprachen doch alle Deutsch.
Ich bin auch zweimal in die DDR gefahren, zu unseren Verwandten,
und als ich etwa 13 Jahre alt war, erlebte ich am FKK-Strand von
Warnemünde etwas Ungeheures, Poetisches, was mich noch heute
ein bisschen beschämt. Ich ging ins Wasser, und mir kam ein
gleichaltriges Mädchen entgegen, aber mit seinem Vater. Es
war nackt, ich konnte die kleinen Brüste und das Schamhaar
sehen - ich, der ich Idiot eine Badehose trug. Am liebsten hätte
ich sie vor diesem Mädchen sofort ausgezogen, aber es war dafür
zu spät ge-wesen, wie auch für eine Entschuldigung. Mein
Gott, was habe ich mich da geschämt! Meine polnisch-katholische
Prüderie wurde mit einem Mal ad ab-surdum geführt, durch
diese eine Begegnung mit einer jungen, nackten Göt-tin, Maid
in GDR. Ich hätte gerne gewusst, was aus diesem Mädel
geworden ist, vor allem nach 1989. Ich werde es wahrscheinlich nie
erfahren. Das ist gut so, vor allem ist es gesund. Der kindliche
Mythos soll überleben.
Ich weiß noch, dass ich als Kind einfache Sätze bauen
konnte, und ich er-innere mich daran, wie ich einmal in Admanshagen
bei Bad Doberan in einem Lebensmittelladen Bier kaufen musste -
für Onkel Horst, der mit seinen Kumpels auf dem LPG-Gelände
auf alkoholischen Nachschub wartete. Ich kannte das Wort Pfand nicht,
und die Kassiererin hatte sich fast ihre Lunge rausgespuckt, um
mir zu erklären, was nun Pfand heißt. DAS PFAND! JUNGE!
HAST DU KEINE PFANDFLASCHEN MITGEBRACHT? Ich weiß noch, was
ich der jungen Dame geantwortet habe: ICH KOMME VON HORST - ER HAT
PFAND!
Alte Zeiten! Deutsch richtig sprechen und verstehen konnte ich erst
mit 16, als ich in Westdeutschland aufs Gymnasium kam und dort ein
Jahr lang von morgens bis spät in die Nacht Wort für Wort
die neue Sprache lernte. Es war eine große Anstrengung, aber
absolut notwendig. Ich wollte schließlich später Schriftsteller
werden, der auch hier in meinem neuen Land verstanden werden konnte.
O ja! Ich war doch einsam und unzufrieden! Die polnische Lyrik hatte
mich als Kind und Jugendlichen hochexplosiv gemacht, in mei-nem
Kopf und in meiner Seele lagerten Kisten mit TNT. Als ich mit 15
die ersten lesbaren Gedichte auf Polnisch schrieb, von denen einige
tatsächlich veröffentlicht wurden, fühlte ich mich
so, als würde ich mich vollkommen auflösen und mit der
Welt und den Menschen eins werden. Es war eine Art Nirvana oder
Satori, ein unschuldiger Zustand, der anfänglich jeden Autor
beflügelt. Auf der anderen Seite kam es mir oft vor, als würde
ich mich und andere betrügen.
Der Revoluzzerhass auf die sozialistische Gesellschaft und der Hass
auf meine eigene erbärmliche Existenz waren gleich mächtig.
Ich hasste mich selbst zutiefst. Ich liebte und hasste. Unentwegt.
Und dann kam die deutsche Sprache zu mir, und es passierte ein Klang-wunder.
Ich hörte plötzlich die Buchstaben, und sie waren leise
wie Noten. Sie ordneten meine Gedanken. Sie sagten mir, vertraue
dir und dem, was du zu sagen hast, aber du darfst niemals der Sprache
per se vertrauen; sie ist ver-räterisch und genauso vergänglich
wie ihr Menschen und andere Vögel da draußen in der Welt.
Ich begann sogar Geschichten zu erzählen und wollte plötzlich
die totale Reduktion auf Gehörtes, Gesehenes und Gerochenes.
Fik-tion sollte Wahrheit und Wirklichkeit sein und mehr nicht. Sprache
als Sys-tem von Zeichen existierte praktisch nicht. Ich wollte vergessen,
dass ich eine Sprache benutzte, wollte nicht wissen, ob sie deutsch
oder polnisch war, und das war ein neues, befreiendes Gefühl.
Wenn er im Glück schwimmt und wenn er nicht lügt, entwickelt
sich ein Autor zu dem, was er ist. Er darf nur aufschreiben, was
er vertreten kann. Mein Weg war noch etwas anders. Ich habe die
Hölle gesehen, aber sie war freundlich zu mir! Die Hölle
sagte mir: Gut, werde ein deutscher Dichter, nur muss ich leider
deine polnische Vergangenheit verpfänden. Ich unterschrieb
diesen Vertrag, ohne zu zögern, und die Konsequenzen sind ja
mittlerweile bekannt.
Ich komme von Horst! Er hat Pfand! Aus meinem Flirt mit der deutschen
Zunge wurde schließlich eine große Liebe, obwohl ich
nach wie vor unter je-dem Satz, den ich auf dem Computer zu Papier
bringe, leide. Warum? Ich ha-be Zweifel und noch einmal Zweifel.
Ich bin ein Meister der Korrekturen. Ich verbringe die Hälfte
meines kostbaren Lebens mit Korrekturen. Und ob ich etwas bereue?,
fragen Sie. Nein. Ich fliege. Es ist einer der längsten Nachtflü-ge,
den man sich nur vorstellen kann. Nacht für Nacht halte ich
Ausschau nach einer neuen Geschichte. Ich habe mich gerettet, durch
das Schreiben bis jetzt immer nur gerettet. Depressionen und Jammern
sind allgegenwärtig, mit ihnen hat jeder Autor zu kämpfen.
Oft muss er tief ins Tal gehen und einen weiten Weg zurücklegen.
Meiner war und ist ein doppelter, schizophrener Weg: Es ist ein
so großer Schmerz, dass ich Polnisch weggeworfen habe wie
einen verfaulten Apfel, und es ist so ein großer Gewinn, dass
ich Deutsch in mich und bei mir aufgenommen habe wie einen Findling.
Nur Götter können wissen, was die Entscheidung bedeutet,
eine Sprache gegen eine andere zu tauschen - das tut man nicht,
es ist eine Art Frevel, als hätte man vom Baum der Erkenntnis
gegessen, und wenn es dennoch passiert, entdeckt der Autor, dass
nationale Literaturen ein Irrsinn sind. Und wenn dieser Irrsinn
dir be-wusst wird, dann weißt du auch, welche Rolle dir in
diesem Leben zugefallen ist: Du bist ein Ketzer, du bist blasphemisch
und unangepasst. Herzlichen Glückwunsch! Sei tapfer!
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