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Aufbau - Deutsch-jüdische Zeitung vom 01.06.00, Nr. 11

Auf der Suche nach dem Zauberberg
zum 125. Geburtstag von Thomas Mann

Von Artur Becker

Einmal Hans Castorp sein! Einmal fliehen und nie wieder zu-rückkommen, sogar sterben, obwohl alle Sterne am Himmel genau das Gegenteil prophezeien wollen: Du wirst gesund, du wirst leben vor allem, du wirst überleben! Denke ich an Tho-mas Mann, bin ich sofort verzaubert, verzaubert von der Vor-stellung einer totalen Flucht, von dem totalen Nicht-Existieren und von der totalen Angst davor, dass man tatsächlich nicht existiert! Das ist für mich der Roman Der Zauberberg: Wie kein anderer Text Thomas Manns thematisiert er die Todes-sehnsucht des Menschen und den Eskapismus. Damit meine ich nicht Krankheiten des Bürgertums am Anfang des 20. Jahrhunderts, die Krankheiten und Schmerzen eines Schrift-stellers, der Germanisten und Kritikern sozusagen von Kopf bis Fuß vertraut ist. Ich meine auch keine positivistische Lese-art, die den Tod bei Thomas Mann zu einem abstrakten philo-sophischen Begriff macht. Denn nichts ist an diesem Schrift-steller vertraut. Er, ein Monument der deutschen Literatur, bleibt immer fremd, zumindest dem neugierigen Leser, der sich verzaubern lässt. Ich war fünfzehn oder sechzehn viel-leicht, als ich erstmals den Zauberberg las. Ich war hoffnungs-los in ein wunderhübsches Mädchen verliebt, war gleichzeitig hoffnungslos in Hans Castorp verliebt, der sich von Tag zu Tag immer mehr wundert, dass er wirklich sterblich ist. Dass er nichts besitzt, dass er vollkommen bedeutungslos ist; als In-dividuum und als Kranker. Was bedeutet es aber, krank zu sein? Was für ein Zustand ist das? Durch eine Krankheit be-kommt der Mensch ein hierarchisches Bewusstsein. Der Kran-ke fängt an zu werten, der Kranke fühlt mehr als ein Gesunder. Er beginnt, zwischen Nichtigem, Materiellem und Großem, Metaphysischem zu unterscheiden. Er begreift überhaupt nicht, warum es den anderen Menschen gut geht. Sein Gebrechen o-der sein unerklärlicher Schmerz veranlassen ihn zum Nach-denken. Der Kranke errichtet sich eine Treppe und versucht, Stufe für Stufe zu verstehen, was mit ihm geschieht. In diesem Zustand kommt es zu einem Kampf zwischen der Seele und dem Verstand. Doch was impliziert die Beschreibung eines leidenden und kranken Menschen, wie Hans Castorp einer ist? Das Kranksein ist ein Idealzustand, ein vollkommenes Dasein, das gleichzeitig das Leben ablehnt, weil es endlich und da-durch lächerlich kurz ist. Aber aus dieser Ablehnung entsteht eine Metaphysik, die uns Menschen erlaubt, Unbegreifliches zu verstehen: dass wir überhaupt da sind und dass wir Namen und Biografien mit uns herumtragen, die jemand im Gedächt-nis behält und in die Welt hinausposaunt als etwas sehr Selbst-verständliches, und dabei spielt es keine Rolle, ob dieser Je-mand man selbst oder ein Schriftsteller ist. Die Fiktion ist aus-geschaltet, und Hans Castorp wird zu einem allgemein gelten-den Typus, für den gilt: Ich bin unsterblich wie jeder andere Mensch, obwohl ich nie gelebt habe. Auf der Suche nach dem Zauberberg, nach dem Paradies; das heißt: auf der Suche nach der Unsterblichkeit wird man krank. Will man aber den Roman Der Zauberberg ganz verstehen, muss man die Epoche der Romantik, die auch eine Epoche des Konfliktes zwischen der Seele und dem Verstand war, wach rufen. Thomas Manns Werk insbesondere sein Zauberberg, ist ein endgültiger Ab-schied von der Romantik; ich schreibe bewusst nicht von der deutschen Romantik, denn es wäre falsch, wenn ich nur die deutschen Schriftsteller und Dichter ansprechen würde. Ich denke hier nur an Byrons Korsar, Mickiewiczs Die Totenfeier oder Puschkins Boris Godunow. Das Kranksein von Hans Castorp ist auch ein Kranksein der europäischen Romantik mit ihrer Vorstellung, dass Individuen das Leid der Menschheit er-tragen könnten, an eigenem Körper und eigener Seele, für die Allgemeinheit: Mit allem bricht Hans Castorp; der moderne, vereinsamte und unglückliche Mensch, der nicht einmal die zerstörerische Lust hat, Selbstmord zu begehen, wird hier ge-boren. Ein Mensch, dessen im 19. Jahrhundert angesiedelte Krankheiten von den Nachfolgern Thomas Manns nicht mehr beschrieben werden mussten, zumindest nicht in der Erzähllite-ratur von Céline, Camus und Hemingway. Thomas Manns Werk ist ein großer Abgesang auf die Romantik, ein großer Abschied von Byron und Mickiewicz und Novalis und von der Sturm-und-Drang-Zeit. Und: Sollte ich noch sagen: Hoffent-lich wird dieser Abgesang noch lange andauern? Ich kenne die Antwort nicht! Die Suche nach dem Zauberberg aber wird nie aufhören!

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