Der Titel dieses Textes klingt ein bisschen nach einem deutschen
Schlager und enthält doch eine wichtige These: ohne Wasser
keine Inseln. Und noch etwas: stellen wir uns dieses vom Wasser
umgebene Land vor, so impliziert das Bild - um eine Insel zu erreichen,
muss man zunächst einen bestimmten Weg zurücklegen. Und
gerade dieser Weg ist wichtig, denn - die Vorsokratiker wie etwa
Heraklit von Ephesus oder der scholastische Theologe Thomas von
Aquin haben uns dies gelehrt - auf die Bewegung kommt es an, weil
man unterwegs Erfahrungen sammelt und sich entwickelt.
Es gibt unendlich viele Inseln, und die Reiserouten dahin sind,
wie man sich vorstellen kann, unterschiedlich lang, ein jeder Reisender
hat mit anderen Wetterbedingungen und neuen Strapazen zu kämpfen.
Die Entdecker der neu-en Welten, Kolumbus, Magellan und Vespucci,
verschoben unsere Grenzen so weit, dass unsere Erde um einiges größer
wurde. In diesem dritten Jahrtausend werden wir, den apokalyptischen
Unkenrufen der schlimmsten Pessimis-ten zum Trotz, wieder zu solchen
Inseln aufbrechen, und unser Bewusstsein wird sich so grundlegend
ändern wie vielleicht zuletzt während der Koperni-kanischen
Wende und der Französischen Revolution. Warum ich das glaube?
Nun, ich denke, dass wir im dritten Jahrtausend, vielleicht sogar
in diesem Jahrhundert noch, zu fremden Planeten fliegen werden.
Denn dass es Plane-ten auch außerhalb unseres Sonnensystems
gibt, ist inzwischen astronomisch bewiesen, und eine Reise dahin
ist nur eine Frage der Zeit.
Und ganz anders als bei den Entdeckern und Naturwissenschaftlern
geht es den Schriftstellern um Expeditionen zu geistigen Inseln.
Selten liegt das Rei-seziel so klar auf der Hand wie in der Empfehlung
Jean Paul Sartres an seinen Erzfeind Albert Camus, auf die Galapagosinseln
auszuwandern, als der sich einmal sehr kritisch über die Mängel
unserer politischen, demokratischen Sys-teme geäußert
hatte. Camus' Reise wäre damit sehr kurz und das Leben in Einsamkeit
auf die Dauer eine Qual gewesen.
So wie die wirklichen Forschungsreisen zu fernen Zielen zu einem
le-bensgefährlichen Abenteuer werden können, gibt es auch
geistige Inseln, die durch so viele Meere und Ozeane vom Rest der
Welt abgeschnitten sind, dass für die meisten Menschen die
Reise gar nicht in Frage kommt, und manche, die sich trotzdem auf
die Suche begeben haben, mussten umkehren oder für ihre Neugier
mit ihrem Leben bezahlen. Giordano Bruno zum Beispiel. Und Federico
García Lorca. Und viele unbekannte Helden, deren Namen nicht
in den Lexika stehen.
Die geistige Insel, auf der der Trappist, Philosoph und Dichter
Thomas Merton gelebt hat, liegt sogar in einer anderen Dimension.
Der Weg zu Mer-tons Universum der Kontemplation und Harmonie ist
entbehrungsreich und mühevoll, und nur sehr wenige sind ihn
gegangen.
Und die schwimmenden Inseln sind wohl jene, die sich zwar in allen
Ge-wässern der Welt wunderbar bewegen können, jedoch vor
allem ein Zuhause für Verlorene sind wie für Meursault
in "Der Fremde" oder Walter in "Homo Faber",
die nicht wissen, wonach sie auf ihrer nicht enden wollenden Reise
suchen. Sie sind wie Schildkröten und tragen ihre schwere Last
auf dem Rü-cken, ohne zu versuchen, ihr Leid zu beenden.
Ich habe diesem kurzen Text ein Motto aus Joseph
Conrads Roman "Der Verdammte der Inseln" vorangestellt
- mit der Absicht, noch auf einen sehr wichtigen Punkt hinzuweisen.
Conrad hat die moderne Romanfigur geschaf-fen: den Verdammten, den
Gesetzlosen, den "Out-law" und den Entfremdeten - lange
Zeit vor Céline, Hemingway, Camus, Kerouac, Miller und Genet.
Sein Verdienst für die moderne Prosa ist vergleichbar mit dem
Baudelaires für die Dichtung - die Moderne war plötzlich
geboren, um der Romantik Pa-roli zu bieten.
Willems, die Hauptfigur in "Der Verdammte der Inseln",
zeigt auf eine so dunkle und leidenschaftliche Weise, wie einsam
unser Dasein auf Erden ist, dass dem Leser ein Schauder über
den Rücken läuft. Es sind wohl die letzten Inseln unserer
Existenz, die schwarzen Abgründe, die Conrad beschreibt. Bei
ihm ist es umgekehrt: das Wasser drumherum erweist sich eher als
Rettung, und das kleine Stück Erde, das uns eigentlich zum
Leben bestimmt ist, wird für Willems zu einer harten, existentiellen
Prüfung: Das Sein zum Tode klingt hier plötzlich als Leitmotiv
an.
Aber vielleicht müssen wir genau wie Willems alle irgendwann
auf exoti-sche Reisen gehen und jedes Risiko auf uns nehmen, um
den Geheimnissen unserer Seele auf die Schliche zu kommen. Und natürlich,
um ein Zuhause zu finden.
II. Der "Blankiwerder" - zum Thema "Schicksalhafte
Inseln - gegensätz-liche Inselerfahrungen"
Der Ermländer August Kuglowski ertrank im Januar 1988 im Blankisee.
Er ertrank in seinem Mercedes, etwa fünfzig Meter vom Ufer
seiner Insel "Blan-kiwerder" entfernt.
Er war ein fleißiger Mann, der Anfang der siebziger Jahre
des vorigen Jahrhunderts auf seiner Insel Holzhütten für
Touristen aus Deutschland, Skandinavien, Warschau und Schlesien
baute. Er verdiente viel Geld damit und freundete sich mühelos
mit Menschen jeden Schlags und Mundwerks an. Doch von Zeit zu Zeit
raubten ihm Dämonen seine Seele. Dann trank er und vernachlässigte
seine Frau und sein Geschäft.
An jenem Abend hatte sich August Kuglowski eine Flasche Wodka be-sorgen
wollen, aus der Stadt, die am östlichen Seeufer liegt. Nachdem
er be-reits alkoholisiert und vom schlechten Gewissen geplagt seiner
Frau Renata gebeichtet hatte, dass er sie ab und zu mit leichten
Mädchen betrog, war es zu einem Streit gekommen. Wutentbrannt
hatte er sich in seinen Mercedes ge-setzt und war losgefahren.
Der See friert im Winter sonst immer vollständig zu. Von Anfang
De-zember bis Ende Februar kann man eine Abkürzung über
das Eis in die Stadt nehmen. Doch in jenem Januar gab die Eisdecke
einmal nach. August Kuglowski schaffte es noch, seine Winterstiefel
und Socken auszuziehen, be-vor der Mercedes den Grund des Sees erreichte.
Als ihn am nächsten Morgen die Taucher der Miliz in sieben
Meter Tiefe fanden, an Land holten und auf einer Bahre in die Scheune
brachten, waren sein Mund und seine Augen weit aufgerissen, seine
nackten Füße weißblau und die Finger schrien um
Hilfe, als hätte Michelangelo sie gemalt.
Der "Blankiwerder", wie die Bewohner eines
nahe gelegenen Dorfes die In-sel nennen, gehörte bis 1945 einem
Deutschen. Der Deutsche lebt nicht mehr, und die Erbin, seine Tochter,
ist inzwischen zweiundsiebzig und verkaufte schon kurz nach Stalins
Tod den "Blankiwerder" an August Kuglowski. Für eine
lächerliche Summe - und erst nach so manchem Geschenk von August
Kuglowski wie Strümpfen, Seife und Pralinen, von den süßen
Komplimenten ganz zu schweigen. Sie wanderte dann 1956 nach West
Berlin aus, im Gepäck zwei Kleider zum Wechseln und ein Paar
Schuhe vom polnischen Schwarz-markt.
Die Insel von August Kuglowski sieht aus dem Fensterchen eines kleinen
Passagierflugzeugs wie der Abdruck eines Gummistiefels Größe
43 im Schlamm aus. Sie ist etwa zwei Kilometer lang und siebenhundert
Meter breit. Eine Brücke aus Eisenbahnschienen verbindet sie
mit dem Binnenland. Zwei kleinere Inseln schützen sie vor dem
Wind und den Wellen des offenen Blankisees. Auf den beiden Geschwisterinseln
grasen Schafe und Ziegen, die nach dem Sommer mit einem Ruderboot
zum Überwintern auf den "Blanki-werder" gebracht
werden.
Als die Rotarmisten betrunken und süchtig nach Rache von Königsberg
und Suwalki her ins Ermland einfielen, nachdem sie zuvor alle Städte
an den masurischen Seen erobert hatten, suchten Dutzende von Flüchtlingen
auf dem "Blankiwerder" Zuflucht. Der Großvater des
Deutschen erzählte dann den verängstigten, frierenden
Flüchtlingen eine Legende, die wahrscheinlich noch nie jemand
aufgeschrieben hat, und falls doch, dann verbrannte der letzte Text
im Feuer der gefürchteten Katjuschen. Der Blankisee brauche
Menschenop-fer, sagte der Großvater, weil er trauere. Einst
sei er ein hübsches Mädchen gewesen, das der unberechenbare
Gott, der über die Pruzzenstämme waltete, in einen See
verwandelt habe. Und die vielen Inseln seien die Tränen des
Mädchens Blanka, das seinem Geliebten Janek nachweine. Janek
selbst spuke am Blankiufer, sein Klagen nach Mitternacht sei immer
noch zu hören. Er sei schuld, weil er seine Frau nicht geliebt
und den Armen von seinem Reichtum nichts abgegeben habe, nicht einmal
den Hungernden.
Heute kämpft die Witwe von August Kuglowski um ihr Eigentum.
Die Kommunisten, die 1989 am Runden Tisch in Warschau ihre Macht
eingebüsst haben, sind für sie keine Bedrohung mehr. Sie
können ihr den "Blankiwer-der" nicht mehr wegnehmen,
um ihn zu verstaatlichen. Aber die Hamburger Geschwister, Marian
und Elisa, August Kuglowskis Kinder aus seiner ersten Ehe, fordern
etwas vom Erbe ihres verunglückten Vaters. Ein Stück Land,
am besten die ganze Insel. Sie spielen mit dem Feuer und ahnen es
nicht.
III. Gezeitenwechsel. Oder die Zeit der Stinte
Erst als mir der Hausmeister einen neuen Schreibtischsessel,
einen bequemen Drehstuhl mit Rückenlehne, gebracht hat - nach
etwa drei Wochen meines Aufenthaltes am Wannsee -, konnte ich wieder
schreiben und mich selbst er-tragen. Gezeitenwechsel für meinen
Hintern, Rücken und die Seele, von der ich soviel einem russischen
Kollegen und Autor hier in Berlin zwischen ei-nem Wodka und Schnitzel
erzählt habe - als wäre ich selbst ein Russe. Ich musste
zum Schluss über mich lachen.
Dabei geht es nur um eine neue Geschichte. Sie fordert von einem,
der schreibt, jedes Mal Unmögliches, nämlich Frisches
und Unverfälschtes. In der Literatur darf die Routine nicht
siegen, weil sie tödlich ist, für den Text und den Leser.
Jedes Buch ist wie ein Baby, aus dem später ein Mensch, eine
ge-lebte Zeit und ein gelebter Tod, also eine Biographie, werden
soll. Und meine neue Geschichte fängt 1947 an. Wo und von wem
ich sie gehört habe, verrate ich niemandem, und ob sie wahr
ist, spielt für die Fiktion keine Rolle. Sie fängt im
Frühling an: Drei nur mit Messern aus Wehrmachtsbeständen
be-waffnete Männer steuern ihr Flugboot der Lufthansa Richtung
Geserichsee, der 27 Kilometer lang ist, und landen auf dem Wasser,
in der Nähe des Ufers, an dem ein gewisser Abrahamowski mit
seiner rheumakranken Mutter lebt. Sie bringen ihn um und fliegen
wieder zurück nach Deutschland, dann später zu ihren Familien
nach New York, wo sie Immobiliengeschäften nachgehen.
Was war passiert?
Der Bauer Abrahamowski hatte während des 2. Weltkrieges auf
seinem Bauernhof ein Zwischenlager eingerichtet, sozusagen eine
Filiale des KZ Stutthof bei Danzig. Und er hatte schon immer geahnt,
dass irgendwann drei Todesengel vom Himmel in die Tiefe purzeln
und ihn bestrafen würden. Er wollte sich dann nicht wehren
und wollte nicht fliehen, und so war es auch geschehen - nach acht
Stunden eines mal heißen, mal kalten und mal völlig sinnlosen,
aber allzu menschlichen Anklagens baumelte er an einem Balken. Die
Männer vom Himmel waren seine Häftlinge gewesen, die er
nach Stutthof geschickt hatte. Die weißen, die schwarzen Engel.
Gute oder böse? Gerettete. Rächer.
Aber das ist noch nicht das Ende. Gezeitenwechsel. 56 Jahre später
kommt eine fast dreißigjährige Frau nach Bremen, die
Mona Juchelka heißt. Sie ist weit gereist, doch noch nie in
Europa gewesen. Sie kommt aus New York, und einer der weißen,
schwarzen Todesengel vom Himmel über dem Geserichsee sei ihr
Großvater, erfahre ich. Sie hat mich in Bremen mit Hilfe der
Mormonen ausfindig gemacht. Dass sie eine deutsche Jüdin ist,
jiddischer Kultur wie ihr Großvater Gerald Juchelka aus Bromberg,
der Rächer aus dem Himmel, stört die Mormonen nicht. Ihre
Religion ist ein symbiotisches Ge-schäft, für beide Seiten,
den Kunden und den Verkäufer.
Ich heiße Chrystian Brodd, bin Mitte Dreißig
und arbeitslos - immerhin Au-tor eines unveröffentlichten,
unvollendeten Handbuches über Binnengewäs-serfische. Mein
Großvater Werner arbeitete als Koch auf dem Hof von Abra-hamowski
(Kartoffeln- oder Rübensuppe war damals ein beliebtes Gericht).
Und mein Onkel Horst Brodd, ein pensionierter Förster, lebt
immer noch am Geserichsee. Mona hat ihn besuchen wollen. Sie ist
angehende Journalistin und wird in diesem Jahr dreißig. Vielleicht
interessiert sie sich deswegen plötzlich für ihre europäischen
Wurzeln. Für die Geschichte der rastlosen, un-tereinander religiös,
politisch gespaltenen Juden aus Osteuropa, deren Ab-kömmling
sie selbst ist - eine Überlebende, wenn man so will. Aber ich
habe sie überredet, mit mir nach Spanien zu reisen. Dass mein
Freund Volley und ich dort einen Haschischdeal abzuwickeln hatten,
bei dem es 100 000 Euro ging, hatte ich Mona nicht verraten.
Nach unserer Rückkehr nach Bremen ist Mona verschwunden, wie
ein Stint, der im Frühling in die Weser kommt, mit der Meeresflut
gewisserma-ßen, um sich zu vermehren und zu hungern. Und mit
ihr das Geld, das wir im Garten von Volleys Eltern vergraben haben.
Ich ahne, dass der Besuch aus Übersee eine tiefere Bedeutung
hat. Sollte sich die Historie wiederholen? Wo ist Mona? Bei meinem
Onkel Horst? Will sie den letzten Zeugen sprechen? Will sie ihn
vielleicht töten? Kommt sie zu mir zurück? Bin dann auch
ich dran? Absurd. Oder ist sie ein Traum gewesen, vertrieben zurück
nach New York?
Das ist die Zeit der Stinte, die auch in den Geserichsee gelangen,
wie all-jährlich. Das ist überhaupt die Zeit, die nie
aufhören will. Gut oder böse? Gerettet. Gerächt.