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Wie verkauft man die Bibel?

Inseln und Gezeiten -
ein Zyklus

Von Artur Becker

I. Das Wichtigste an einer Insel ist das Wasser drumherum

"Wohl weil sie salzig ist,
macht die See das Äußere ihrer Diener rauh,
erhält den Kern ihrer Seelen dabei aber frisch."
Joseph Conrad, "Der Verdammte der Inseln"


Der Titel dieses Textes klingt ein bisschen nach einem deutschen Schlager und enthält doch eine wichtige These: ohne Wasser keine Inseln. Und noch etwas: stellen wir uns dieses vom Wasser umgebene Land vor, so impliziert das Bild - um eine Insel zu erreichen, muss man zunächst einen bestimmten Weg zurücklegen. Und gerade dieser Weg ist wichtig, denn - die Vorsokratiker wie etwa Heraklit von Ephesus oder der scholastische Theologe Thomas von Aquin haben uns dies gelehrt - auf die Bewegung kommt es an, weil man unterwegs Erfahrungen sammelt und sich entwickelt.
Es gibt unendlich viele Inseln, und die Reiserouten dahin sind, wie man sich vorstellen kann, unterschiedlich lang, ein jeder Reisender hat mit anderen Wetterbedingungen und neuen Strapazen zu kämpfen. Die Entdecker der neu-en Welten, Kolumbus, Magellan und Vespucci, verschoben unsere Grenzen so weit, dass unsere Erde um einiges größer wurde. In diesem dritten Jahrtausend werden wir, den apokalyptischen Unkenrufen der schlimmsten Pessimis-ten zum Trotz, wieder zu solchen Inseln aufbrechen, und unser Bewusstsein wird sich so grundlegend ändern wie vielleicht zuletzt während der Koperni-kanischen Wende und der Französischen Revolution. Warum ich das glaube? Nun, ich denke, dass wir im dritten Jahrtausend, vielleicht sogar in diesem Jahrhundert noch, zu fremden Planeten fliegen werden. Denn dass es Plane-ten auch außerhalb unseres Sonnensystems gibt, ist inzwischen astronomisch bewiesen, und eine Reise dahin ist nur eine Frage der Zeit.

Und ganz anders als bei den Entdeckern und Naturwissenschaftlern geht es den Schriftstellern um Expeditionen zu geistigen Inseln. Selten liegt das Rei-seziel so klar auf der Hand wie in der Empfehlung Jean Paul Sartres an seinen Erzfeind Albert Camus, auf die Galapagosinseln auszuwandern, als der sich einmal sehr kritisch über die Mängel unserer politischen, demokratischen Sys-teme geäußert hatte. Camus' Reise wäre damit sehr kurz und das Leben in Einsamkeit auf die Dauer eine Qual gewesen.
So wie die wirklichen Forschungsreisen zu fernen Zielen zu einem le-bensgefährlichen Abenteuer werden können, gibt es auch geistige Inseln, die durch so viele Meere und Ozeane vom Rest der Welt abgeschnitten sind, dass für die meisten Menschen die Reise gar nicht in Frage kommt, und manche, die sich trotzdem auf die Suche begeben haben, mussten umkehren oder für ihre Neugier mit ihrem Leben bezahlen. Giordano Bruno zum Beispiel. Und Federico García Lorca. Und viele unbekannte Helden, deren Namen nicht in den Lexika stehen.
Die geistige Insel, auf der der Trappist, Philosoph und Dichter Thomas Merton gelebt hat, liegt sogar in einer anderen Dimension. Der Weg zu Mer-tons Universum der Kontemplation und Harmonie ist entbehrungsreich und mühevoll, und nur sehr wenige sind ihn gegangen.
Und die schwimmenden Inseln sind wohl jene, die sich zwar in allen Ge-wässern der Welt wunderbar bewegen können, jedoch vor allem ein Zuhause für Verlorene sind wie für Meursault in "Der Fremde" oder Walter in "Homo Faber", die nicht wissen, wonach sie auf ihrer nicht enden wollenden Reise suchen. Sie sind wie Schildkröten und tragen ihre schwere Last auf dem Rü-cken, ohne zu versuchen, ihr Leid zu beenden.

Ich habe diesem kurzen Text ein Motto aus Joseph Conrads Roman "Der Verdammte der Inseln" vorangestellt - mit der Absicht, noch auf einen sehr wichtigen Punkt hinzuweisen. Conrad hat die moderne Romanfigur geschaf-fen: den Verdammten, den Gesetzlosen, den "Out-law" und den Entfremdeten - lange Zeit vor Céline, Hemingway, Camus, Kerouac, Miller und Genet. Sein Verdienst für die moderne Prosa ist vergleichbar mit dem Baudelaires für die Dichtung - die Moderne war plötzlich geboren, um der Romantik Pa-roli zu bieten.
Willems, die Hauptfigur in "Der Verdammte der Inseln", zeigt auf eine so dunkle und leidenschaftliche Weise, wie einsam unser Dasein auf Erden ist, dass dem Leser ein Schauder über den Rücken läuft. Es sind wohl die letzten Inseln unserer Existenz, die schwarzen Abgründe, die Conrad beschreibt. Bei ihm ist es umgekehrt: das Wasser drumherum erweist sich eher als Rettung, und das kleine Stück Erde, das uns eigentlich zum Leben bestimmt ist, wird für Willems zu einer harten, existentiellen Prüfung: Das Sein zum Tode klingt hier plötzlich als Leitmotiv an.
Aber vielleicht müssen wir genau wie Willems alle irgendwann auf exoti-sche Reisen gehen und jedes Risiko auf uns nehmen, um den Geheimnissen unserer Seele auf die Schliche zu kommen. Und natürlich, um ein Zuhause zu finden.


II. Der "Blankiwerder" - zum Thema "Schicksalhafte Inseln - gegensätz-liche Inselerfahrungen"
Der Ermländer August Kuglowski ertrank im Januar 1988 im Blankisee. Er ertrank in seinem Mercedes, etwa fünfzig Meter vom Ufer seiner Insel "Blan-kiwerder" entfernt.
Er war ein fleißiger Mann, der Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts auf seiner Insel Holzhütten für Touristen aus Deutschland, Skandinavien, Warschau und Schlesien baute. Er verdiente viel Geld damit und freundete sich mühelos mit Menschen jeden Schlags und Mundwerks an. Doch von Zeit zu Zeit raubten ihm Dämonen seine Seele. Dann trank er und vernachlässigte seine Frau und sein Geschäft.
An jenem Abend hatte sich August Kuglowski eine Flasche Wodka be-sorgen wollen, aus der Stadt, die am östlichen Seeufer liegt. Nachdem er be-reits alkoholisiert und vom schlechten Gewissen geplagt seiner Frau Renata gebeichtet hatte, dass er sie ab und zu mit leichten Mädchen betrog, war es zu einem Streit gekommen. Wutentbrannt hatte er sich in seinen Mercedes ge-setzt und war losgefahren.
Der See friert im Winter sonst immer vollständig zu. Von Anfang De-zember bis Ende Februar kann man eine Abkürzung über das Eis in die Stadt nehmen. Doch in jenem Januar gab die Eisdecke einmal nach. August Kuglowski schaffte es noch, seine Winterstiefel und Socken auszuziehen, be-vor der Mercedes den Grund des Sees erreichte. Als ihn am nächsten Morgen die Taucher der Miliz in sieben Meter Tiefe fanden, an Land holten und auf einer Bahre in die Scheune brachten, waren sein Mund und seine Augen weit aufgerissen, seine nackten Füße weißblau und die Finger schrien um Hilfe, als hätte Michelangelo sie gemalt.

Der "Blankiwerder", wie die Bewohner eines nahe gelegenen Dorfes die In-sel nennen, gehörte bis 1945 einem Deutschen. Der Deutsche lebt nicht mehr, und die Erbin, seine Tochter, ist inzwischen zweiundsiebzig und verkaufte schon kurz nach Stalins Tod den "Blankiwerder" an August Kuglowski. Für eine lächerliche Summe - und erst nach so manchem Geschenk von August Kuglowski wie Strümpfen, Seife und Pralinen, von den süßen Komplimenten ganz zu schweigen. Sie wanderte dann 1956 nach West Berlin aus, im Gepäck zwei Kleider zum Wechseln und ein Paar Schuhe vom polnischen Schwarz-markt.
Die Insel von August Kuglowski sieht aus dem Fensterchen eines kleinen Passagierflugzeugs wie der Abdruck eines Gummistiefels Größe 43 im Schlamm aus. Sie ist etwa zwei Kilometer lang und siebenhundert Meter breit. Eine Brücke aus Eisenbahnschienen verbindet sie mit dem Binnenland. Zwei kleinere Inseln schützen sie vor dem Wind und den Wellen des offenen Blankisees. Auf den beiden Geschwisterinseln grasen Schafe und Ziegen, die nach dem Sommer mit einem Ruderboot zum Überwintern auf den "Blanki-werder" gebracht werden.
Als die Rotarmisten betrunken und süchtig nach Rache von Königsberg und Suwalki her ins Ermland einfielen, nachdem sie zuvor alle Städte an den masurischen Seen erobert hatten, suchten Dutzende von Flüchtlingen auf dem "Blankiwerder" Zuflucht. Der Großvater des Deutschen erzählte dann den verängstigten, frierenden Flüchtlingen eine Legende, die wahrscheinlich noch nie jemand aufgeschrieben hat, und falls doch, dann verbrannte der letzte Text im Feuer der gefürchteten Katjuschen. Der Blankisee brauche Menschenop-fer, sagte der Großvater, weil er trauere. Einst sei er ein hübsches Mädchen gewesen, das der unberechenbare Gott, der über die Pruzzenstämme waltete, in einen See verwandelt habe. Und die vielen Inseln seien die Tränen des Mädchens Blanka, das seinem Geliebten Janek nachweine. Janek selbst spuke am Blankiufer, sein Klagen nach Mitternacht sei immer noch zu hören. Er sei schuld, weil er seine Frau nicht geliebt und den Armen von seinem Reichtum nichts abgegeben habe, nicht einmal den Hungernden.
Heute kämpft die Witwe von August Kuglowski um ihr Eigentum. Die Kommunisten, die 1989 am Runden Tisch in Warschau ihre Macht eingebüsst haben, sind für sie keine Bedrohung mehr. Sie können ihr den "Blankiwer-der" nicht mehr wegnehmen, um ihn zu verstaatlichen. Aber die Hamburger Geschwister, Marian und Elisa, August Kuglowskis Kinder aus seiner ersten Ehe, fordern etwas vom Erbe ihres verunglückten Vaters. Ein Stück Land, am besten die ganze Insel. Sie spielen mit dem Feuer und ahnen es nicht.


III. Gezeitenwechsel. Oder die Zeit der Stinte
Erst als mir der Hausmeister einen neuen Schreibtischsessel, einen bequemen Drehstuhl mit Rückenlehne, gebracht hat - nach etwa drei Wochen meines Aufenthaltes am Wannsee -, konnte ich wieder schreiben und mich selbst er-tragen. Gezeitenwechsel für meinen Hintern, Rücken und die Seele, von der ich soviel einem russischen Kollegen und Autor hier in Berlin zwischen ei-nem Wodka und Schnitzel erzählt habe - als wäre ich selbst ein Russe. Ich musste zum Schluss über mich lachen.
Dabei geht es nur um eine neue Geschichte. Sie fordert von einem, der schreibt, jedes Mal Unmögliches, nämlich Frisches und Unverfälschtes. In der Literatur darf die Routine nicht siegen, weil sie tödlich ist, für den Text und den Leser. Jedes Buch ist wie ein Baby, aus dem später ein Mensch, eine ge-lebte Zeit und ein gelebter Tod, also eine Biographie, werden soll. Und meine neue Geschichte fängt 1947 an. Wo und von wem ich sie gehört habe, verrate ich niemandem, und ob sie wahr ist, spielt für die Fiktion keine Rolle. Sie fängt im Frühling an: Drei nur mit Messern aus Wehrmachtsbeständen be-waffnete Männer steuern ihr Flugboot der Lufthansa Richtung Geserichsee, der 27 Kilometer lang ist, und landen auf dem Wasser, in der Nähe des Ufers, an dem ein gewisser Abrahamowski mit seiner rheumakranken Mutter lebt. Sie bringen ihn um und fliegen wieder zurück nach Deutschland, dann später zu ihren Familien nach New York, wo sie Immobiliengeschäften nachgehen.
Was war passiert?
Der Bauer Abrahamowski hatte während des 2. Weltkrieges auf seinem Bauernhof ein Zwischenlager eingerichtet, sozusagen eine Filiale des KZ Stutthof bei Danzig. Und er hatte schon immer geahnt, dass irgendwann drei Todesengel vom Himmel in die Tiefe purzeln und ihn bestrafen würden. Er wollte sich dann nicht wehren und wollte nicht fliehen, und so war es auch geschehen - nach acht Stunden eines mal heißen, mal kalten und mal völlig sinnlosen, aber allzu menschlichen Anklagens baumelte er an einem Balken. Die Männer vom Himmel waren seine Häftlinge gewesen, die er nach Stutthof geschickt hatte. Die weißen, die schwarzen Engel. Gute oder böse? Gerettete. Rächer.
Aber das ist noch nicht das Ende. Gezeitenwechsel. 56 Jahre später kommt eine fast dreißigjährige Frau nach Bremen, die Mona Juchelka heißt. Sie ist weit gereist, doch noch nie in Europa gewesen. Sie kommt aus New York, und einer der weißen, schwarzen Todesengel vom Himmel über dem Geserichsee sei ihr Großvater, erfahre ich. Sie hat mich in Bremen mit Hilfe der Mormonen ausfindig gemacht. Dass sie eine deutsche Jüdin ist, jiddischer Kultur wie ihr Großvater Gerald Juchelka aus Bromberg, der Rächer aus dem Himmel, stört die Mormonen nicht. Ihre Religion ist ein symbiotisches Ge-schäft, für beide Seiten, den Kunden und den Verkäufer.

Ich heiße Chrystian Brodd, bin Mitte Dreißig und arbeitslos - immerhin Au-tor eines unveröffentlichten, unvollendeten Handbuches über Binnengewäs-serfische. Mein Großvater Werner arbeitete als Koch auf dem Hof von Abra-hamowski (Kartoffeln- oder Rübensuppe war damals ein beliebtes Gericht). Und mein Onkel Horst Brodd, ein pensionierter Förster, lebt immer noch am Geserichsee. Mona hat ihn besuchen wollen. Sie ist angehende Journalistin und wird in diesem Jahr dreißig. Vielleicht interessiert sie sich deswegen plötzlich für ihre europäischen Wurzeln. Für die Geschichte der rastlosen, un-tereinander religiös, politisch gespaltenen Juden aus Osteuropa, deren Ab-kömmling sie selbst ist - eine Überlebende, wenn man so will. Aber ich habe sie überredet, mit mir nach Spanien zu reisen. Dass mein Freund Volley und ich dort einen Haschischdeal abzuwickeln hatten, bei dem es 100 000 Euro ging, hatte ich Mona nicht verraten.
Nach unserer Rückkehr nach Bremen ist Mona verschwunden, wie ein Stint, der im Frühling in die Weser kommt, mit der Meeresflut gewisserma-ßen, um sich zu vermehren und zu hungern. Und mit ihr das Geld, das wir im Garten von Volleys Eltern vergraben haben.
Ich ahne, dass der Besuch aus Übersee eine tiefere Bedeutung hat. Sollte sich die Historie wiederholen? Wo ist Mona? Bei meinem Onkel Horst? Will sie den letzten Zeugen sprechen? Will sie ihn vielleicht töten? Kommt sie zu mir zurück? Bin dann auch ich dran? Absurd. Oder ist sie ein Traum gewesen, vertrieben zurück nach New York?
Das ist die Zeit der Stinte, die auch in den Geserichsee gelangen, wie all-jährlich. Das ist überhaupt die Zeit, die nie aufhören will. Gut oder böse? Gerettet. Gerächt.

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