Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang
Roman
© weissbooks.w, Frankfurt 2013

ERSTER TEIL
ALLER TOTEN FEIER
I
»DIE KLEINE MARÄNE«

»Komm, lass uns ein letztes Mal ›Die Kleine Maräne‹ spielen − unser altes Spiel vom Weltende!«, sagte Mariola, als sie um Mitternacht splitternackt und nur mit einem Regenschirm gerüstet das Zimmer des Toten betrat, in dem ihr Cousin Arek Duszka die Totenwache hielt. Sie legte sich auf dem kalten Dielenboden auf den Rücken und spannte den Regenschirm über ihrem Kopf auf.
Das Platschen ihrer Füße, das Klicken des Schirmknopfs und das bedrohliche Geräusch beim Aufspannen des wasserdichten Stoffs zerstörten die Stille, in der Arek seit einer Stunde schon mit seinen Erinnerungen beschäftigt war.
Ausgerechnet an Allerseelen musste Onkel Karol sterben, ausgerechnet in dieser polnischen Novembernacht, die so unerwartet und tötungswütig ihre einheimischen Gefilde verlassen hatte, von Bartoszyce und dem Lutrysee in Warmia und Masuren nach Verden an der Aller gezogen war, um hier ihr Unwesen weiterzutreiben − in Areks angenähtem Land der Findlinge, Sachsen und Nordseeinseln, in der Heimat der Stinte und der evangelischen Friedhöfe, im Orkanauge der deutschen Sprache.
In Bartoszyce wurde Arek 1964 geboren, genauso wie seine eineinhalb Jahre jüngere Cousine Mariola, die mittlerweile auch nicht mehr in Polen lebte, sondern in England. Arek hatte von seiner Cousine seit einer Ewigkeit nichts mehr gehört, sie seit vielen unüberschaubar gewordenen Jahren nicht mehr gesehen. Er war längst an dem Punkt angelangt – viel zu schnell −, an dem man plötzlich feststellt, dass man dem Tod näher steht als dem Leben, das nur noch aus Erinnerungen und immer wieder aufbrausenden Wogen der Verachtung gegenüber jedweder Unreife zu bestehen scheint, obwohl Arek als Mittvierziger noch gar nicht so alt war.
»Mädchen, dein Vater ist gestorben«, sagte Arek, »und hier liegt er mit gebrochenem Hals und Herzen, aufgebahrt für den letzten Gang,  aber du denkst nur an dich … Hauptsache, dir geht’s gut! Und unser altes Kinderspiel habe ich nicht vergessen, o nein …«
Mariola unterbrach ihn: »Du liebst mich nicht mehr … Und ihr seid in Wahrheit alle froh, dass der Fabrikdirektor endlich den Löffel abgegeben hat … Aber glaubt bloß nicht, dass ich dumm und verblendet bin! Auch ich weiß, wer mein Vater gewesen ist und was er getan hat.« 
Arek hörte ihr aufmerksam zu. Warum hat sie diese Bedenken?, fragte er sich. Keiner von uns Duszkas zweifelt an der Glaubwürdigkeit ihrer Erlebnisse und Urteile …
Mariola war unnachgiebig und forderte ihn erneut heraus: »Komm jetzt bitte zu mir: Lass uns ein letztes Mal unser altes Spiel spielen!«
Er schaute seine Cousine verstört und sogar ein bisschen wütend an: Was sollte er ihr antworten ‒ angesichts der Tatsache, dass Onkel Karols Tod mehr oder weniger einer missglückten Zirkusnummer glich? *Vor wenigen Stunden erst war Mariola auf dem Flughafen in Bremen gelandet – glücklich und voller Neugier auf das von allen lang ersehnte Familientreffen. Arek, der mit Edyta Frycz aus Poznań verheiratet war und mit ihrer gemeinsamen fünfzehnjährigen Tochter Natalia in Bremen wohnte, hatte seine Cousine vom Flughafen abgeholt: erst sie, dann wenig später vom Busbahnhof gegenüber einem dieser XXL-Kinos ihren Vater, der mit einem Fernreisebus aus Olsztyn angereist war. Onkel Karol war seit 2004 Witwer,  seine Frau, die gute Tante Hania, war einem Hirntumor erlegen.
Das Familientreffen sollte im nahe gelegenen Verden stattfinden, wo Areks Eltern seit einem Vierteljahrhundert lebten und ein bescheidenes und dem Verfall preisgegebenes Einfamilienhaus bewohnten − samt einem schon vor langer Zeit außer Kontrolle geratenen Garten; sie waren Rentner und schuldeten der Bank noch einige Kreditraten für ihr Domizil im Sachsenhain, einer grünen Wohngegend am Rande des Städtchens. Und dann war Mariolas Vater die Kellertreppe im Verdener Haus von Areks Eltern hinuntergestürzt − in ihrer Botschaft der Volksrepublik Polen an der Aller, wie sich ihr Sohn oft spöttisch auszudrücken pflegte − und hatte sich dabei offenbar das Genick gebrochen oder vielleicht einen Herzstillstand erlitten: am 2. November 2010 kurz nach 19 Uhr. Er wurde vierundsiebzig. Sein Bruder Witek, Areks Vater, war zwei Jahre jünger. 
Der einst mächtige Fabrikdirektor, der unverbesserliche Onkel Karol, ein kommunistischer Exorzist und Inquisitor, der bis zum Schluss dem Marxismus-Leninismus treu blieb, war tatsächlich tot, obwohl er und sein Sozialismus Jahrzehnte in behaglicher Unsterblichkeit gelebt hatten. Und schon bald, da er sich wahrscheinlich nicht einmal im Totenreich von seiner Ideologie trennte konnte, würde er Nacht für Nacht aus dem Lutrysee auftauchen, ein Bild von Marx, Engels und Lenin in die Höhe halten und den Menschen am Ufer zurufen: »Seht nur, Ihr Narren! Wir leben weiter!«
Doch selbst Karols sozialistische Unsterblichkeit musste ihr irdisches Ende finden – in diesem Fall sogar ein klägliches, dem normalerweise nichts hinzuzufügen wäre, dachte Arek am Totenbett, aber leider wurde ihm schnell klar, dass durch Onkel Karols Tod die vermeintlich ad acta gelegte Vergangenheit wieder richtig lebendig werden würde, und zwar für alle Beteiligten: für Mariola und Edyta, für Areks Eltern, aber vor allem für ihn selbst und für seine Mutter Ula, die vor Kurzem siebzig geworden war und sich in ihrem Verdener Haus eine Art Zeitmaschine errichtet hatte. Ula reiste regelmäßig in die Vergangenheit ihrer sozialistischen Heimat und Jugend zurück, indem sie sich für lange Tage und Nächte in ihrem Zimmer einschloss, um alte Briefe, Fotos, Zeitungsausschnitte, Schallplatten und Filme ihres privaten, konstant wachsenden Archivs zu studieren und neu zu sortieren. In den Pausen, in denen sie kaum ansprechbar war und ziemlich selbstvergessen wirkte, besuchte sie ihren verwahrlosten, krebsartig wuchernden und liebesbedürftigen Garten, um auf der Bank eine Zigarette zu rauchen. Während dieser häufigen und ausgedehnten Zeitreisen, die Ula meist unerwartet unternahm, musste Arek seinen Eltern im Haushalt helfen; er erledigte dann für sie die Einkäufe, kochte das Mittagessen und putzte das Bad und die Toilette. Sein Vater war ihm dabei keine große Hilfe. Witek hatte sich in seinem neuen Land zu einem Angsthasen entwickelt, der nicht einmal imstande war, sich Zigaretten zu kaufen, und der nur vor dem Fernseher in den eigenen vier Wänden ein Großmaul abgab; dabei warf er alle in einen Topf, besser gesagt: in einen Fleischwolf, denn in seinen Augen waren alle Menschen böse, durchtrieben und hinterhältig. Die regierenden Parteien, die Arbeiter und die Unternehmer, die Künstler und die Philosophen, die Ausländer und die Neonazis, die Sünder und die Priester, Russland und Amerika, die Homosexuellen und ihre Gegner − einfach alle waren ihm willkommene Opfer. Die Charakterzüge eines unbestechlichen, freiheitsliebenden Streikführers aus der Provinz hatte er nach seiner Ausreise in die BRD vollkommen eingebüßt: Sein eiserner Wille war gebrochen, sein einst wacher und strahlender Geist hatte angesichts der fremden Übermacht der Einheimischen kalte Füße bekommen und den ewigen Winterschlaf gewählt. Die Einzigen, die er nicht in seinen gnadenlosen Fleischwolf steckte, waren die Juden, weil ihm erst in Deutschland klar geworden war, was das Wort Holocaust bedeutete. In der Volksrepublik Polen hatte man vor allem von polnischen Opfern der Nazidiktatur gesprochen, und er hatte daran lange Zeit geglaubt, an diese für den Parteisekretär Gomułka und seine Anhänger bequemere Version der Geschichte. »Komisch«, sagte er einmal, »ich wusste damals nicht, dass ich ein Antisemit war … Bei uns sprach man immer nur von zionistischer Propaganda. Schaut euch die Zeitungen aus jener Zeit an, vor allen Dingen Trybuna Ludu. Und ausgerechnet die Deutschen haben mich von meiner schlimmen Krankheit des Antisemitismus geheilt, in der Emigration … Ich habe einmal wirklich an eine jüdische, bei uns in Polen seit Jahrhunderten währende Verschwörung geglaubt … Die żydokomuna hat für mich wirklich existiert!« Aber Arek vertraute Witek nicht: Der Vater hatte wahrscheinlich wieder Angst davor, von den Einheimischen und seinem eigenen Sohn missverstanden zu werden.
Arek war nüchtern: Er hatte nur einen Wodka getrunken, um seinem trauernden Vater Gesellschaft zu leisten ‒ und um sich ein bisschen zu beruhigen. Witek hatte sich aus Verzweiflung im Eiltempo besoffen und schlief nun auf dem Sofa im Wohnzimmer seinen Rausch aus. Und Mariolas Aufforderung – sie wollte ihm wie immer ein schlechtes Gewissen machen − kam ihm in dieser Nacht brutal und vollkommen fehl am Platz vor, denn das Spiel »Die Kleine Maräne« war für Arek eine der wenigen Erinnerungen, welche die Prüfung der Zeit bestanden hatte: Er wollte sie um jeden Preis als gute Erinnerung bewahren, als unbezahlbaren Schatz in seinem Bernsteingedächtnis behalten, dieses alte Liebesspiel zwischen zwei Kindern, die ihre damals nicht aufhören wollenden Sommerferien Jahr für Jahr im Erholungszentrum »Die Kleine Maräne« am Lutrysee verbracht hatten und die wahrscheinlich immer noch dort in diesem sommerlichen Niemandsland lebten und spielten, befreit von der Wirkung der Zeit und ihrer Ausgeburten.
Der Ostpreuße und Waldarbeiter Rudolf Szutkowski lag dort betrunken im Gras und wachte kurz auf: Eine Libelle tanzte ihm buchstäblich auf der Nase, ihr Tanz hatte ihn geweckt, und da die untergehende Sonne ihn blendete, versuchte er, das Insekt mit seinen Pranken zu fangen und im Lutrysee zu ertränken; auf der Koppel, ganz nah am Ufer, grasten seine Kühe, während seine Bienen gerade aus dem Wald zurückkehrten. Da sie immer noch arbeitswütig waren, suchten sie sich leere Bier- und Limonadenflaschen, die von den Touristen am Wegesrand ins Gebüsch geschmissen worden waren.
*»Mädchen, dein Vater ist gestorben …«, wiederholte Arek, doch seine Cousine schwieg jetzt, als ahnte sie allmählich, dass er in seinen Erinnerungen zu den verborgensten Winkeln der Vergangenheit vorgedrungen war, in diesem Totenzimmer an der Aller zu Allerseelen.
Onkel Karol – da lag er also tot im Gästezimmer seines Bruders und seiner Schwägerin, der mächtige Fabrikdirektor, niemand würde ihn vermissen, ihm die Auferstehung wünschen, und dennoch hatte sein Tod keine sichtbare Erleichterung gebracht. Man fragte sich eher: Warum musste es ausgerechnet hier und jetzt geschehen?
Arek hatte seinen Onkel überschwänglich begrüßt – ihn nach all den Jahren des Bruderkrieges in der Familie Duszka herzlich in seine Arme geschlossen. Sie hatten zur Begrüßung nur ein paar Worte gewechselt, altbekannte Worte der Freude, und selbst Areks zweiundsiebzigjähriger Vater, der zum Busbahnhof mitgekommen war, hatte diese Freude mit seinem Sohn teilen können: Schließlich war er seinem älteren Bruder Karol seit mehr als fünfundzwanzig Jahren nicht mehr vor die Augen getreten. Auf einmal schien der ganze Hass von früher, der unter anderem dazu geführt hatte, dass Witek 1983 mit seiner Frau nach Westdeutschland geflüchtet war und dass auch ihr Sohn ihnen viele Jahre später in die Freiheit hatte folgen wollen, vergessen zu sein. Etwas schier Unvorstellbares war passiert, als hätte Areks Vater sein Gedächtnis gelöscht und in seinem Kopf Platz für einen Neuanfang geschaffen. Der größte Feind, den der ehemalige Gewerkschaftler und Streikführer des August 1980 je gehabt hatte, war ihm und seinem Herzen endlich willkommen: Einer Versöhnung stand scheinbar nichts mehr im Wege, obwohl niemand von den Älteren in Bartoszyce den Tag vergessen würde, an dem Witek seinen Bruder auf einer Schubkarre vor das Einfahrtstor der Textilfabrik »Die Kleine Maräne« gefahren hatte, begleitet vom jubelnden Beifall der streikenden Belegschaft.
Und dann, als die Gäste das Haus von Areks Eltern in Verden betreten hatten, geschah alles so schnell, dass man den Eindruck hatte, dieser Unfall wäre schon vor langer Zeit geplant worden. Onkel Karol, der auch von Areks Mutter und von Areks Frau versöhnliche Begrüßungsworte empfangen hatte, wollte doch bloß seinen Mantel aufhängen.
Ula geriet aber bei der Begrüßung in für sie typische Hektik, die immer dann zum Vorschein kam, wenn sie in Gesellschaft von mehreren Personen umringt war.
Onkel Karol kannte natürlich die Störung, an der seine Schwägerin litt, die Demophobie, diese Unversöhnlichkeit mit seinen Nächsten auf kleinstem Raum. Ulas hektisches und nervöses Verhalten übertrug sich schnell auf die Gäste, die sich kaum davor schützen konnten, was ihnen so unvermittelt und aggressiv an übertriebenen Reaktionen von Areks Mutter bei der Begrüßung dargeboten wurde: Ula riss Onkel Karol und seiner Tochter die Mäntel aus den Händen, doch anstatt sie aufzuhängen, reichte sie die winterlichen Kleidungsstücke an ihren Mann weiter; sie redete pausenlos wirres Zeug, stellte eine Frage nach der anderen. Wie sei die Reise gewesen? Habe man im Bus oder Flugzeug schlafen können? Ob sie hungrig seien? Sie ließ die Gäste gar nicht antworten, da schon die nächste Frage blitzschnell aus ihrem Mund geschossen kam. Und sie umarmte und küsste die Ankömmlinge mehrere Male, sodass man Ula schlussendlich ins Wohnzimmer abführen musste, damit sie sich dort auf einem Sofa wieder beruhigte. Areks Vater rührte sich indes praktisch nicht von der Stelle: Der Panikausbruch seiner Frau und die Wiederbegegnung mit seinem Bruder nach so langer Zeit hatten ihn für eine Weile paralysiert. Und dann geschah, was offensichtlich hatte geschehen müssen: Onkel Karol nahm seinem Bruder die beiden Mäntel ab und wollte sie aufhängen; dabei stolperte er im Flur unglücklich und stürzte die Kellertreppe hinunter – die beiden Mäntel noch in den Händen.
Wie konnte die verrückte Cousine aus Southampton angesichts des Umstands, dass ihr Vater vor wenigen Stunden vor ihren eigenen und aller anderen Augen umgekommen war, von Arek verlangen, dass er jetzt mit ihr »Die Kleine Maräne« spielte? Dass er sich nackt auszöge und neben sie legte, um für einen Augenblick von der Weltbühne zu verschwinden und sich dem trügerischen Gefühl hinzugeben, sie seien Kleine Maränen und würden endlich alles – ihre Namen, ihre Freunde, ihre Geliebten, Familien, Eltern, den Lutrysee, das Erholungszentrum − vergessen und ungeachtet dessen weiterleben können, nach dem Ende aller Welten und Zeiten, in ihrer eigenen Geschichte, in der es dann nur noch sie geben würde? Und diese schmackhaften Fische schwammen unsichtbar in den silbernen Tiefen des Lutrysees, und sie wussten nicht, dass es noch andere Seen gab, und sogar Wälder und Städte mit Menschen und Fabriken. Ja, sie wussten nicht einmal, wer sie waren – sie mussten erst gefangen werden, damit ihnen klar wurde, dass es auch für sie einen Anfang und ein Ende gab.
»Herr, ich bin nicht würdig«, murmelte Arek vor sich hin, als nähme er in Bartoszyce an einer Totenmesse teil, »dass Du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund ...«
Er wunderte sich, dass ihm diese Gebetszeilen spontan eingefallen waren. Was rede ich da, und wo bin ich? In Bartoszyce? Und wer ist eigentlich gestorben, wer von uns Duszkas ist tot? Vielleicht sind wir die Toten, und Onkel Karol lebt weiter?
Mariola ignorierte sein Gemurmel und sagte: »Du hast mich einmal geliebt, und wir waren unzertrennlich.«
»Das war vor dreißig Jahren.«
»Deine Edyta hat dich mir gestohlen.«
»Mariola, ich bin dein Cousin, dein eigenes Blut. Das muss ich dir doch nicht erklären, oder?«
»Doch, ich will es hören! O ja, bitte, erklär mir, wer wir sind!«, grinste sie. *In den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als sie Kinder waren und Sommer für Sommer zusammen mit Areks Eltern in das Dreiseelendorf Kikity fuhren, um dort im benachbarten Erholungszentrum am Lutrysee, in dieser toskanischen Moränenlandschaft der pruzzischen Stämme, ihre zweimonatigen Schulferien zu beginnen, hatte für sie nur eines gezählt: dass sie wieder jeden Tag ihr Lieblingsspiel spielen konnten – eben das vom Ende aller Zeiten und Welten. Areks Mutter war in Bartoszyce Lehrerin gewesen, sein Vater hatte das Erholungszentrum »Die Kleine Maräne« geleitet. Es gehörte der gleichnamigen Textilfabrik aus Bartoszyce – der Fabrik, die Onkel Karols ganzer Stolz war und die er zu einer der wichtigsten Produktionsstätten für Wirkwaren in Polen mit fast zweitausend Mitarbeitern ausgebaut hatte (der Großteil der Belegschaft rekrutierte sich aus Frauen, denen der Fabrikdirektor häufig nachstellte). Und für zwei Monate wurden Arek und Mariola zu einem unzertrennlichen Paar. Doch worum ging es bei ihrem Spiel, das die beiden Kinder nach dem Erholungszentrum und der Fabrik benannt hatten?  
Was diese Strolche sich am Lutrysee auszudenken vermocht hatten, war schier unglaublich: Mariola und Arek rannten oft allein in den Wald, der im Nordwesten den Lutrysee und seine Ufer in die Zange nimmt. Dort bauten sie – meist an einem schwer zugänglichen Ort im Dickicht – eine Schutzhütte aus Kiefernzweigen, jedoch nicht nur, um sich unter ihrem grünen Dach vor den Feinden zu verstecken. Sie wollten sich für alle Augen der Welt unsichtbar machen, selbst für ihre eigenen. Sie fragten sich, und das war das Ziel ihres Spiels, was von ihnen übrig bliebe, wenn sie für einen Augenblick von der Erdoberfläche verschwänden. Und überhaupt, sie fragten sich noch andere Dinge, die ihnen keine Ruhe ließen: Wie musste man sich zum Beispiel das Ende der Welt vorstellen? Und wer waren sie eigentlich? Waren sie diese Stimme, die für sie sprach? Dieses Herz, das für sie schlug? Diese Lunge, die für sie atmete? Und wer waren die Kleinen Maränen? Was machte sie zu Fischen? Arek und Mariola zogen sich aus, legten sich nackt in ihre Hütte und bestaunten erschrocken ihre Nacktheit. »Wer bin ich?« − »Und wer bin ich?«, fragte jeder laut für sich und staunte über die Zerbrechlichkeit des Körpers, der − was ihnen seltsamer schien − gänzlich mit sündiger, nackter, katholischer Haut bedeckt war: Wie ein unbeschriebenes Blatt Papier kam sie ihnen vor, diese sonderbare Verkleidung. Und was verbarg sich hinter dieser Nacktheit? Wo war das Ich? Und wie arbeitete das Herz oder die Lunge? Sie hatten Angst, ihr Herz könnte plötzlich stehen bleiben oder platzen. Aber am Wichtigsten war die Frage: »Wer bin ich?«
Rudolf Szutkowski vom Lutrysee, der schon seit Langem nicht mehr am Leben war, hatte ihnen beigebracht, diese Frage zu stellen. Wenn er einen seiner berühmten Wutanfälle bekam und einen x-beliebigen Mann zusammenhauen wollte, floh er vor sich selbst in den Lutrywald, schrie die Bäume an, als wären sie seine Gegner im Boxring, und schlug mit seinem Holzfällerbeil auf einen Baumstamm ein. Dabei schrie er die ganze Zeit: »Wer bin ich?!« Verließen ihn die Kräfte, sank er weinend und am ganzen Leib zitternd zu Boden und verlor nicht selten das Bewusstsein. Danach, wenn er nach wenigen Minuten wieder zu sich gekommen war, schleppte er sich schwerfällig nach Hause zu seiner Mutter Gizela zurück, um ins Bett zu fallen und ohne Unterbrechung bis zum nächsten Abend durchzuschlafen. *Aber Arek und seine Cousine waren jetzt hier im Sachsenhain an der Aller, im Haus von Karols Bruder und nicht in ihrer Schutzhütte im Lutrywald. Areks Mutter, die regelmäßig von Verstorbenen träumte − meist von ihrer eigenen Mutter −, wollte auf keinen Fall bei sich zu Hause übernachten, als sie mit ihrem Mann darüber beratschlagte, wo man seinen Bruder beerdigen sollte, in welchem Land, unter welchem Himmel, in welcher Sprache. Sie hatte Angst vor ihrem verunglückten Schwager, Angst davor, er würde ihr nachts die Bettdecke stehlen oder sie an den Fußsohlen kitzeln. Mit den Verstorbenen, die partout die Erde nicht verlassen wollten, habe sie schon unglaubliche Dinge erlebt, sagte sie zum Schluss: Diese verwirrten, toten Lümmel seien dreiste, skrupellose Wesen, die vor nichts und niemandem Respekt zeigten, und es sei schwer, sie loszuwerden. Ula fuhr schließlich mit Areks Frau und Areks Tochter Natalia nach Bremen. Witek war während des Gesprächs mit Ula mehr mit dem Wodka und dem Trauern beschäftigt gewesen als mit der Beerdigungsplanung für seinen Bruder. Im Eifer des Gefechts sagte er einige Sätze, die selbst den größten Feinden von Karol nicht gefallen dürften. Über Tote mache man keine Scherze und auch keine dummen Bemerkungen, hatte man Arek erklärt, als er klein war. Sein Vater meinte nämlich beim Wodka: »Warum wollte er nicht bei sich zu Hause in Bartoszyce sterben? Und warum muss er nach seinem Tod immer noch das letzte Wort haben, immer noch den Fabrikdirektor herauskehren? Er will uns wieder Befehle erteilen, der Drecksack!«
Edyta wiederum hatte schon gleich nach dem tödlichen Sturz von Onkel Karol angekündigt, dass sie mit ihrer Tochter bestimmt nicht unter ein und demselben Dach mit einem Toten schlafen würde. Areks Frau und Areks Mutter, die einander eigentlich nicht ausstehen konnten, waren also gemeinsam geflüchtet, und Witek lag betrunken in seinem Bett. Niemand war im Übrigen auf die Idee gekommen, die Polizei oder einen Krankenwagen zu rufen. Das schien allen Mitgliedern der Familie Duszka, nicht notwendig zu sein. Es sei ein Tod, der die Einheimischen nichts angehe, hatten sie gemeinsam beschlossen.
Witek schlief berauscht den Schlaf eines unschuldigen Zaungastes, während Arek versuchte, diese Nacht in die Morgendämmerung hinüberzuretten. Er hatte ganz allein Onkel Karols Leichnam über die Treppenstufen des Kellers und die des ersten Stockwerks ins Gästezimmer hochgezerrt und ins Bett gelegt. Er hatte ihm sogar das Gesicht und die Hände gewaschen. Er sprach mit Onkel Karol wie mit einem Schwerkranken und sagte zu ihm, als er ihn mit der Bettdecke zudeckte, damit er nicht fror: »Ite, missa est! Oto ofiara spełniona! Unser Pfarrer Józef Michałowski aus Bartoszyce meinte damit: Es ist vollbracht!« ‒ »Anstatt mit Toten zu sprechen, solltest du dich lieber um mich kümmern …«, meinte Areks Cousine, die ihm beim Schleppen des Leichnams nicht geholfen hatte. Aber er hörte nicht auf sie, er redete mit Onkel Karol weiter: »Meine Mutter hat dich heute Abend getötet ‒ weil du sie gehasst hast!«
Mariola, die seit sechs Jahren in Southampton lebte und ihre Bilder, Skulpturen und Installationen in England sogar ausstellen und verkaufen konnte, hatte ihren Vater schon vor ihrer eigenen Auswanderung nicht oft besucht.
2004, als Mariolas Mutter starb und die Polen anfingen, die britische Insel und Irland auf der Suche nach Glück und Arbeit zu belagern, zögerte sie nicht und nutzte die Gelegenheit, die die Öffnung der Grenzen und Arbeitsmärkte in einigen westlichen Ländern jedem Wagemutigen aus den frisch getauften EU-Staaten bot. Aber für all die abenteuerlustigen Emigranten, für ihre eigenen Landsleute, die sich im wohlhabenderen Ausland nach gesegneter Normalität und ökonomischer Verbesserung ihrer Lebensumstände sehnten, hatte Mariola nur Verachtung übrig.
Im Geiste spuckte sie auf diese Wirtschaftsflüchtlinge von oben herab und sprach offen von ihrer abgrundtiefen Verachtung für sie: »Die leben nur für kaku, papu i lulu, fürs Kacken, Mampfen und Pennen«, meinte Mariola, als Arek mehr von ihr über Southampton und die Emigranten dort wissen wollte. Seine Cousine sagte noch wie zur Entschuldigung, sie sei immerhin die Tochter des in Bartoszyce einst mächtigsten Fabrikdirektors, ein sozialistisches Kind des von dem belgischen Kommunisten Gierek künstlich geschaffenen und kurzlebigen Wohlstands der frühen Siebziger, protzte sie vor Arek, und obendrein eine anerkannte Künstlerin, die etwas zu sagen habe und die man ernst nehme, während Areks einst heller Stern schon vor Langem zusammengeschrumpft und erloschen sei.
Sie betrachtete Arek, der als Kind in einigen TV-Serien und Filmen für Jugendliche und Kinder mitgespielt hatte, und der in Masuren, wo diese Filme gedreht worden waren, ein Star gewesen war, nicht als einen ihrer strahlenden Größe würdigen Liebhaber. Aus ihm, ihrem kleinen Arek vom Lutrysee, war ja nichts geworden, kein berühmter Schauspieler und auch kein erfolgreicher Ingenieur der Holztechnologie, die er in Poznań von 1983 bis zu seiner Ausreise nach Deutschland 1988 studiert hatte. Seine Cousine wollte etwas anderes von ihm haben: Sie hatte es auf sein altes Kinderherz abgesehen, das er im Erholungszentrum »Die Kleine Maräne« zurückgelassen hatte, damit es dort an den Ufern des Lutrysees weiter pochen und die vergangene Zeit messen konnte.

zurück