Artur Becker: Das Herz von Chopin
Roman
© Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2006

Erster Teil

Mein Piano, mein Brasil, deine Lila Eule

1

Jedes Mal, wenn ich ganz beiläufig erwähnte, ich, Chopin, sei ein Soldat der Ewigen Nacht und der Roten Fahne, wurde ich mit Fragen bombardiert, auf die ich keine Antworten hatte.
Ich wollte ja nie so werden wie mein Vater aus Polen.
Ich war hier in Bremen nicht aufgewachsen, aber ich saß im Piano, meinem Stammcafé, und wartete auf meine Verabredung. Es war brechendvoll an diesem Samstagabend, und obwohl ich wusste, dass Maria Magdalena nicht mehr kommen würde, wartete ich und versuchte, meinen Liebeskummer im Johnnie Walker zu ersaufen. Eigentlich hatte ich nie wieder mit der Trinkerei anfangen wollen, aber mein Herz und ich waren seit vier Jahren, dem 11. August 1999, in diese Frau verliebt, und das war mehr als ein Mann aushalten konnte.
Ich bot der Prohibition die Stirn. 
Es war Sommer, der heißeste in diesem neuen Jahrhundert, und Maria Magdalena und ich hätten auf meiner Dachterrasse faulenzen und uns mit Eiswürfeln bewerfen sollen. Stattdessen  herrschte zu Hause der Tod. Maria Magdalena hatte mich vor sechs Tagen verlassen, und seit diesen sechs Tagen wohnte ich mit ihm zusammen. An allen Wänden und Türen unseres Reihenhauses im Fesenfeld stand sein Name: »Ich bin der Tod, willkommen in meinem Reich, Chopin!«, höhnte es von überall.
Ich war zerstreut und müde, doch ich hatte noch genug Kraft, um zu bemerken, dass ich beobachtet wurde. Ein Mann an der Theke mit einem Pils vor der Nase, der etwa Mitte Sechzig war, sah mir seit einer halben Stunde mit ungenierten Blicken zu, wie ich mich betrank.
Ich erwiderte einen seiner neugierigen Blicke. Er grinste herüber, stand dann unvermittelt von der Theke auf und steuerte mit dem Glas in der Hand meinen Tisch an. Er fragte, ob er sich zu mir setzen dürfe. Da er einen sympathischen Eindruck machte und es mir in meinem  trostlosen  Zustand gleichgültig war, mit wem ich mich betrank, sagte ich zu ihm: »Nur zu, setzen Sie sich.«
Er stellte sich als Leo Bull vor und orderte für uns beide neue Getränke: für mich einen Johnnie Walker, was sehr aufmerksam von ihm war.
Er trug eine Brille, war glatt rasiert und auf dem Zeigefinger seiner linken Hand prangte ein Siegelring mit Familienwappen, offensichtlich ein Erbstück. Seine Jeans brauchte dringend einen Vierzig-Grad-Waschgang, aber  sonst war seine Kleidung tadellos. Der schwarze Marco-Polo-Pullover verlieh ihm Autorität und unterstrich noch die Wirkung des goldenen Siegelrings.
Ich sagte: »Ich heiße Chopin.«
»Wie der …«, wunderte er sich.
»Ja, wie der …«, unterbrach ich ihn.
»Sind Sie etwa mit ihm verwandt?«
»In gewisser Hinsicht. Wir kommen aus demselben Land. Der Unterschied zwischen uns beiden ist jedoch, dass er berühmt und unsterblich ist und ich weder das eine noch das andere bin.  Dabei gäbe  ich alles darum,  unsterblich zu sein.  Denn ich  könnte  dann wenigstens meine Fehler korrigieren …«
»Sie machen sich unnötig Sorgen«, sagte mein Gast, »wir sind unsterblich.«
Ich war verblüfft.
»Und das wissen Sie ganz genau?«
»O ja. Verlangen Sie aber keine Beweise von mir. Es gibt Dinge, die lassen sich nicht ans Tageslicht befördern und dann in aller Ruhe betrachten und zerlegen wie bei einer Leichenschau. In einem Seziersaal werden Sie die Unsterblichkeit nicht finden, sondern nur Fleisch und Knochen − leblose Atome, wenn man so will.«
»Und Sie sind sich vollkommen sicher, dass ich auch unsterblich bin, wie Sie und all die anderen?«, fragte ich, weil ich unsere Unterhaltung aufrechterhalten wollte.
»So ist es«, bejahte er und wirkte dabei so ernst und würdevoll, dass ich mich nicht traute, etwas zu sagen.
Er merkte rasch die Verunsicherung, die er bei mir hervorgerufen hatte, und musste offenbar lachen. Zu meiner Überraschung tat er das  hinter  vorgehaltener  Hand, und zwar mit einer Geste, die ebenso gekünstelt wie weibisch wirkte, indem er mit den Fingerspitzen seine Oberlippe berührte. Er fragte plötzlich: »Warum sind Sie dabei, sich voll laufen zu lassen? Ich habe Sie eine Zeitlang beobachtet, und ihr trauriger Blick verriet mir nichts Gutes. Sie haben die ganze Zeit wie versteinert die Eingangstür des Cafés angestarrt.«
Ich stieß einen Seufzer aus und sagte: »Ach! Ich bin von einer Frau verlassen worden.  Sie wollte sich hier mit mir noch ein letztes Mal treffen, und ich hatte die Hoffnung, dass sie kommen würde. Aber umsonst.«
Ich hatte Zweifel: Sollte ich mich dem Fremden anvertrauen oder nach dem Drink, den er bestellt hatte, einfach aufstehen und gehen?
»Wollen Sie mir nicht erzählen, warum Sie verlassen wurden?«, kam mir der Fremde zuvor und erleichterte mir meine Entscheidung. Ich schaute Leo Bull geradeheraus in die Augen. Sie waren winzigklein, aber das mochte an der Stärke der Brillengläser liegen. Ich habe nichts zu verlieren, dachte ich und sagte: »Doch.  Aber  dann müsste ich bei Adam und Eva anfangen, und ich weiß nicht, ob Sie mir so viel Zeit schenken wollen.«
»Keine Sorge. Ich habe heute Abend nichts vor. Und ich kann zuhören. Fangen Sie irgendwo an. Oder, wenn Sie wollen, helfe ich Ihnen ein bisschen mit einer Frage: Was würden Sie tun, wenn Sie König der Welt wären?«
O ja! Bin ich schon gewesen!, grinste ich vor mich hin, ich kenne den Geschmack der Macht!
Er überraschte mich erneut mit seiner offensiven Art, sich einem unbekannten Menschen zu nähern, und da es mir gefiel, beschloss ich, zu bleiben.
»Und wer sind Sie?«, fragte ich zurück.
»Ich?« Er staunte. »Ich bin Linguist und leite einen kleinen Verlag für Sprachwissenschaft an der Bremer Uni. Wir publizieren Schriften, Promotionen und Bücher. Nichts Großes. Eigentlich muss ich bei diesem Geschäft sogar draufzahlen.«
»Wer sich’s leisten kann!«, kommentierte ich sein Geständnis und machte eine Pause; ich musste nachdenken, bevor ich Leo Bulls Frage beantworten würde. Ich wollte kein dummes Zeug reden.
»Was ich tun würde?«, murmelte ich. Aber dann wusste ich, was ich sagen wollte, und begann: »Als König der Welt würde ich als erstes das Geld abschaffen. Dabei bin ich Gebrauchtwagenhändler und verdiene einen Haufen Kohle. Achttausend Euro bringe ich monatlich nach Hause, im Portemonnaie versteht sich. Mein Vermögen ist für den Staat tabu. Einmal im Monat zahle ich bei der Sparkasse eine kleine Summe ein, und alle sind zufrieden: Maria Magdalena, das Finanzamt und die Bank. Dabei bin ich nur ein kleiner Fisch. Lukas und Volley, meine beiden Geschäftspartner und Freunde, verdienen noch mehr. Aber inzwischen weiß ich, dass das  Geld eine Erfindung des Bären aus Hannover ist. Dort  hat  nämlich die Leasingbank, von der wir die Autos kaufen, ihren Sitz. Herr Bär ist ihr Inhaber. Er besitzt Millionen und uns im Grunde genommen auch. Spätestens nach drei Jahren laufen die Leasingverträge ab, aber die Karren bleiben, und auf die lauern Autohändler. Aus ganz Deutschland reisen wir an, studieren die Listen mit den Angeboten und schlagen zu. 
Die meisten Menschen würden, wenn sie zum Leben kein Geld bräuchten, wahnsinnig werden. Sie wüssten mit ihrer Zeit nichts anzufangen. Sie würden niemals vor einem Baum niederknien und ihn anbeten. Ich hingegen, ob zu Hause oder auf Reisen, gehe, bevor ich mich schlafen lege, zu einem Baum, falle vor ihm auf die Knie und sage zu ihm: ›Du bist ein großes Wesen. Viel größer als ich. Du besitzt kein Gehirn und kein Herz. Aber du hast Wurzeln und Zweige. Die Wurzeln verbinden dich mit der Erde, und die Zweige mit dem Himmel. Ich habe weder Zweige noch Wurzeln. Ich bin ein Mensch. Ich kann fliegen, schwimmen und laufen, sogar unterirdische Gänge graben. Aber ich bin ein kleines Wesen, weil ich weder mit dem Himmel noch mit der Erde verbunden bin. Für dich ist das Universum dein Blut, deine Luft – für mich ein See, in dem ich ertrinken kann, kurwa!
So bete und rede ich dann, wenn ich alleine bin, und muss über mich weinen und lachen. Denn schließlich bin ich kein König der Welt, sondern ein Kleinkapitalist, obgleich ich mir aus Geld nichts mache.
Als zweites würde ich für Frauen und Männer einheitliche Kleidung einführen. Frauen müssten hellblaue Kostüme tragen, Männer rote Anzüge, Kinder Felduniformen einer modernen Armee. Diese strenge Kleiderordnung würde bewirken, dass niemand mehr auf die Idee käme,  über  andere herrschen zu wollen. Jeder wäre jedem ebenbürtig und gleichrangig, wie in den kühnsten Träumen der Kommunisten, als sie noch aufrichtig an ihre Ideale glaubten. Außerdem würde sich unser sexuelles Verhalten ändern, vielleicht nicht gänzlich, aber bestimmt zum Positiven hin. Vor einer Uniform hat jeder Respekt, und Aggressivität, Sadismus und Eifersucht würden automatisch abnehmen. Liebespaare müssten dann zwangsläufig glücklicher werden – unter anderem auch ich und Maria Magdalena. Sie besteht nur aus Eifersucht, als wäre sie ihr Lebenselixier.
Die letzte Reform wäre religiöser Natur. Den Glauben an das unbeschreibliche Nichts nach dem Tod würde ich verbieten. Es würde nur noch einen Glauben geben: an die Unsterblichkeit. Meine Maria Magdalena würde nicht mehr sterben müssen. Friedhöfe und Beerdigungen hätte ich bereits an meinem ersten Königstag abgeschafft. Sollte jemand dennoch unbedingt sterben wollen, würde ich ihm sagen: ›Tu’s, lieber Freund, wundere dich jedoch nicht, wenn wir uns bereits am nächsten Morgen wiedersehen – unter welchem Namen auch immer. Vielleicht wirst du der Direktor sein und ich dein Sekretär, dein Untertan.‹«
Mein Vortrag war zu Ende, und Leo Bull schwieg eine Weile, dann sagte er: »Sie lernen sehr schnell.«
»Meinen Sie?«
Die Kellnerin brachte uns die Getränke. Ich zündete mir die nächste Gauloises an und stieß mit meinem Gast an.
»Auf ewiges Leben!«, sagte er.   
Der Scotch floss durch meine Speiseröhre wie ein Bach in den Bergen. Ich wurde vierzigprozentig wach. Ich wusste aber, dass der nächste Scotch, nämlich der fünfte, bereits meinen Untergang bedeuten konnte. Ich erreichte dann den Samsara-Zustand, den höchsten Berg der Illusionen, und ich kannte ihn gut, diesen Kilimandscharo und Chomo Lungma, trotz der zweijährigen Prohibition, ich hatte nichts vergessen.
Da Leo Bull wieder schwieg und ich mich mit sicheren Schritten dem Chomo Lungma näherte, versuchte ich, meinen ausschweifenden Monolog fortzusetzen, doch diesmal über den Berg der Illusionen: »Wissen Sie, nach dem fünften doppelten Scotch ... werde ich ganz sanft. Frauen werden bildhübsch, und zwar alle, und Männer meine besten Freunde oder ärgsten Feinde, und obwohl Feinde dazu da sind, geschlagen zu werden, tue ich ihnen nichts, selbst dann nicht, wenn sie mich angreifen. Das Wichtigste ist jedoch, dass der fünfte Drink das Bewusstsein verändert: Du bist endlich zur Liebe fähig. Du liebst die ausgedrückte Zigarette im Aschenbecher. Du liebst die Kellnerin, die dich bedient. Du liebst die schlechte Musik, die im Piano gespielt wird. Du liebst die Straßenbahn, die vorbeifährt. Du liebst das Flattern einer zerlesenen Zeitung, die niemand von der Straße aufheben und in den Papierkorb stecken will. Du liebst die Junkies und die Penner, die Schulter an Schulter in ihrem Delirium einschlafen. Du liebst die schwangere Frau, die vorbeigeht und dich nicht einmal anguckt. Du liebst den Rosenverkäufer und kaufst ihm eine Blume ab. Du liebst die Menschheit. Du liebst den Bundeskanzler und seine Minister. Du liebst dich selbst. Deine Liebe wird unermesslich groß, und du liebst sogar deine Eltern. Du liebst die Liebe selbst und bist nicht imstande zu begreifen, dass es noch etwas anderes geben könnte. Und weil du alle und alles liebst, fängst du auch an, deine Liebe zu zeigen. Du sprichst jeden an. Und du bist niemandem böse, wenn du einen Korb kriegst, voller  Absagen.  Weil du liebst. Du hast nur das enorme Bedürfnis, zu reden und dich zu offenbaren.
Und wenn du Maria Magdalena siehst, denkst du plötzlich, dass sie dich auch liebt. Mit derselben unerschütterlichen Kraft. Und du begreifst nicht, warum sie schweigt. Du denkst lediglich, sie liebt mich, und weil deine eigene Liebe unendlich groß geworden ist und nicht gebremst werden kann, möchtest du auf der Stelle Maria Magdalenas Schweigen brechen. Und da es dir nicht gelingt, dieses Schweigen zu besiegen, obwohl du seit einer halben Stunde redest und keine Pause findest, beginnst du entsetzlich zu leiden. Dann bestellst du dir den sechsten doppelten Scotch, und ich weiß, was passieren wird, sobald ich ihn trinke. Ich werde dann nicht nur leiden, ich werde Selbstgespräche führen und zwar laut, sodass jeder zuhören kann. Der zweite Chopin wird geboren, mein Gesprächspartner (in der Kirche wurde ich auf einen anderen Namen getauft, aber ich habe ihn vergessen).
Doch so weit ist es noch gar nicht. Mein Gott, ich habe mich wohl ein bisschen verlaufen. Der Chomo Lungma ist noch in weiter Ferne. Alles ist in bester Ordnung. Selbst mein Handy schläft. Keine Anrufe von Kunden aus Litauen, Rumänien, Bulgarien, der Slowakei und Tschechien, aus Russland und Polen. Neunzig Prozent meiner Kunden sind Osteuropäer. Die Deutschen geben kein Geld mehr aus und sparen für ihr nächstes Leben. Ihre Körper heben sie in der Gefriertruhe auf. Die Bulgaren, Litauer und all die anderen existieren hier und jetzt, zusammen mit mir, und jeden Tag preise ich den Schöpfer dafür, dass er Osteuropa geschaffen hat. Die Deutschen, insbesondere Privatkunden, haben an meinen Fahrzeugen immer etwas auszusetzen. Nie  sind sie zufrieden, und manch einer versucht es sogar mit einer Klage, selbst, wenn sein Auto nur sechshundert Euro gekostet hat. Sie sagen, aber Herr Schopän, auf Ihrer Internetseite stand, die Reifen seien noch wie neu. Und die Bremsbeläge wären ausgetauscht worden. Und der Auspuff ebenfalls. Und die Beule hinten links – die war auf dem Internetfoto nicht zu sehen. Ich sage, ja, dann müssen Sie zu Ford gehen und einen Neuwagen bestellen. Diese Kiste hat zwei Jahre TÜV. Zwei Jahre! Und sie fährt einwandfrei.
Jeder Russe oder Pole ist mir da lieber. Denn auch wenn sie etwas zu bemängeln haben, kaufen sie schließlich das Fahrzeug, wie verabredet, und schenken mir noch eine Flasche Wodka oder eine Stange Marlboro dazu. Danach sehe ich sie nie wieder. Sie bringen die Opel nach Kiew oder Stettin, wo sie so lange zaubern, bis die Karren tatsächlich wie neu aussehen. Das nenne ich anpassungsfähig. Und mutig. Denn solange sich die Räder drehen, der Motor läuft und Personen von A nach B befördert werden können, ist die Fahrgestellnummer schließlich vollkommen unwichtig. Brauchen Sie eine, kann ich Ihnen eine ausstellen. Alles nach Wunsch. Wen interessiert die Kilometerlaufleistung? Ich schicke meine Tachos an Herrn S. – seine Identität und seinen Wohnort werde ich natürlich nicht preisgeben. Der Spaß kostet mich jedes Mal hundert Euro. Aber da bin ich nicht knausrig, denn hunderttausend Kilometer sind keine zweihunderttausend. Die Rechnung ist schön einfach, deshalb gefällt mir mein Job.
Horst Sobotta, Maria Magdalenas Vater, kümmert sich um den technischen Zustand unserer Kisten. Zu seiner Rente  verdient er sich auf unserem Autohof Super-Gebrauchte aus  Bankverwertung jede Menge Knete hinzu. Ich nenne Horst Papa, obwohl ich mit Maria Magdalena gar nicht verheiratet bin. Und Papa kann jedem bestätigen: Wenn Deutsche auf  den Hof Super-Gebrauchte  aus Bankverwertung kommen, erwarten sie für sechshundert Euro einen Neuwagen. Am besten mit einer Ein-Jahresgarantie für den Motor. Sie zitieren Gesetze, die zum Schluss besagen, dass der Autoverkäufer, also ich zum Beispiel, für seine Kunden und ihr Leben die volle Verantwortung trägt. Sie drohen uns mit ihren Gesetzen, die die Bundesregierung für sie erlassen hat, selbst Horst Sobotta, der nie jemand anderes als ein waschechter Norddeutscher aus Jever gewesen ist, schlägt des Öfteren die Hände über dem Kopf zusammen und klagt: ›Lieber Gott! Schick uns wieder einen Russen!‹
Manchmal habe ich auch Angst. Maria Magdalena hat schnell kapiert, dass sie unsere Privatadresse an ausländische Anrufer nicht rausgeben darf. Ich möchte nicht eines Nachts aufwachen und zwei Kalaschnikows auf mich gerichtet sehen. Ich möchte nicht wegen dieses Papiers, das sich in meinem Tresor stapelt, überfallen und von Maschinengewehrpatronen durchlöchert werden. Schließlich bin ich rein zufällig Autohändler geworden; und wenn es den Zufall nicht gibt, dann ist es Schicksal. Meine Bestimmung ist nämlich eine ganz andere. Doch eigentlich wollte ich Ihnen ja erzählen, warum mich Maria Magdalena verlassen hat, und dafür muss ich weit ausholen.«
Leo Bull sagte: »Ich bin ganz Ohr! Und gucken Sie genau hin!« Er schob die Haare über seinem linken Ohr beiseite. »Es ist aus Kautschuk! Jean-Paul, mein Fox Terrier, hat mich letzten Frühling in die Wade gebissen, und während ich mich wehrte, griff er mich auch  am Kopf an! Ich musste den verrückten Köter einschläfern lassen, in der Blüte seines Hundedaseins – er war gerade fünf Jahre alt geworden!«
»Sie haben … ein Gummiohr?« Die Bestie Jean-Paul war mir schnuppe.
»Ich kann es zum Schlafen sogar abnehmen!«, antwortete er stolz. »Die Ohrmuschel wird am Brillengestell befestigt wie ein Hörgerät! Mein Gehörsinn ist bei dem Biss nicht zu Schaden gekommen, das Trommelfell ist intakt!«
Ich war perplex. Man musste wahrhaftig sehr  genau hinschauen. Unter dem dunkelgrauen Haar versteckte sich die Prothese der plastischen Chirurgie, und was diese heutzutage zu leisten vermochte, war ernorm. Der Farbunterschied zwischen der echten und der nachgebildeten Haut war fast nicht zu sehen.
»Gummiohr!«, sagte ich. »So nannten wir in Bartoszyce, wo ich 1965  geboren wurde, den politischen Volksarmeeoffizier Puzoń, der ein Spion der kommunistischen Arbeiterpartei war: ›Gumowe Ucho‹!«


2

In meinem polnischen Heimatstädtchen Bartoszyce an der Łyna grassierten zwei Krankheiten: der Tod und die Liebe. Es verging kein Tag, an dem nicht jemand an einer dieser beiden Krankheiten oder gar an beiden gleichzeitig starb. Die schwarz umrahmten Todesanzeigen, die klepsydry, klebten an jedem Haus, und als Schüler war ich fast täglich damit beschäftigt gewesen, die Namen der Verstorbenen zu notieren. Ich führte eine Liste, die immer länger wurde, und ich nannte sie die »Todesliste«. Am anfälligsten für die beiden Seuchen waren dreißigjährige Männer, so auch mein Vater, und dass er immer noch lebte, hatte er wohl den ekstatischen Gebeten meiner Mutter zu verdanken, die eine Schwester der Heiligen Maria war. Jedenfalls stellte ich irgendwann fest, dass die Dreißigjährigen selten älter als fünfzig wurden. Sie tranken sich zu Tode oder brachten sich vor Liebeskummer um. Des Weiteren herrschte in Barto-szyce Die Ewige Nacht des Dezembers. Selbst in den heißen, ostpreußischen Sommern der Deutschen und Pruzzen ließ sich diese Ewige Nacht nicht vertreiben. Ich mochte sie zwar, weil sie mir die Sterne näher brachte, aber sie jagte mir doch ab und zu Angst ein.  Besonders  an  manchen Abenden, wenn ich zur katholischen Kirche gehen musste. Dort lehrte man mich verschiedene heilige Formeln und Gebete. Zusammen mit anderen Schülern. Und dort war auch der Sitz dieser Ewigen Nacht, die Bartoszyce Tag für Tag heimsuchte und verhüllte. Zu allem Übel hatte sie auch  noch gute Freunde und Verbündete, die sie mehr oder weniger tatkräftig unterstützten. Sie saßen in Häusern, auf deren Dächern die Rote Fahne wehte. Diese Verbündeten trugen schwarze Anzüge und veranstalteten am 1. Mai Siegeszüge durch die ganze Stadt. Alle waren betrunken, die Frauen und Männer gingen fremd, wir Kinder ließen Luftballons und Drachen in den Himmel steigen, zogen in  Räuberbanden durch die Stadt und verprügelten die Schwächeren unter uns.
Die Ewige Nacht und ihre Verbündeten befahlen uns Kindern, ihre heiligen Figuren und Ikonen zu lieben. Wir sollten mit ihnen sprechen, sollten sie anhimmeln und in unsere intimsten Geheimnisse einweihen. Ich fühlte mich  wie ein Verbrecher.
Erst, als ich fünfzehn wurde, entdeckte ich die Sonne. Ich verliebte mich an einem nahe gelegenen See in ein Mädchen. Und diese Liebe entpuppte sich als meine Rettung. Zum ersten Mal hatte ich keine Schuldgefühle. Zum anderen war sie mein Untergang, weil ich anfing zu trinken und auf dem besten Wege war, genauso zu werden wie die Dreißigjährigen aus Bartoszyce. Man sollte meinen, ich wäre glücklich gewesen. Aber Jolka lebte in Warschau. Uns trennten ein paar Hundert Kilometer, und ich konnte sie nur selten besuchen. Die Sehnsucht nach ihr zerfraß meine Eingeweide, und das Bier war so schlecht, dass ich mich dem Wodka und dem Hering zuwenden musste.
Dann steckten mich meine Eltern in eine ehemalige Wehrmachtskaserne, wo ich den Beruf des Kfz-Mecha-nikers erlernen sollte. Die Lehrer hassten mich wegen meiner langen Haare. Gleich zu Beginn des Schuljahres in der Wehrmachtskaserne gastierte in Bartoszyce die Rockband Bank. Die Rockkonzerte im Kulturhaus endeten meistens mit einer Schlägerei. Rocker gegen Punks. Ich hatte mich schon darauf gefreut. Und da ich mit fünfzehn Jahren so ausgewachsen war wie ein Bulle, prügelte ich die schwarz-weiß gestreiften Republika-Fans windelweich. Sie mochten mich nicht, weil sie mich für einen Hippie hielten − für den letzten in unserem Städtchen.
Der Auftritt von Bank war ihr bester. Die Songzeile »Ich bin der Herrscher der Welt« war mir damals wie auf den Leib geschnitten gewesen. Ich gewann meinen Kampf gegen die schwarz-weißen Punks und trug nicht einmal ein blaues Auge davon. Dafür standen mir die Haare zu Berge, als hätte ich einen Stromschlag gekriegt. Ich drohte, unter meiner elektrischen Frisur zu verbrennen, doch erntete ich großen Applaus, und aus der Menge rief mir mein Kumpel Andrzej aus vollem Hals zu, bedächtig wie Moses zu seinem Volk: »Hey! Du siehst so stinkegeil aus wie der Chopin nach seinen Konzerten!«
So kam ich zu meinem Spitznamen, und selbst meine Eltern nannten mich Chopin.
Eines Tages (ich war schon in der zweiten Klasse) ging ich direkt nach der Schule zu Andrzej und ließ mir mein Haar scheren. Die Lehrer begriffen nicht, dass ich sie nicht hasste, als ich mit meiner schreienden Glatze vor sie trat. Und das, was sie mir im Unterricht beizubringen hatten, konnte ich auf den Straßen von Bartoszyce nicht verwenden. Ich setzte ihre Namen auf meine »Todesliste«, obwohl sie noch am Leben waren: Nicht mehr lange, dachte ich mir damals.
Die Straßen von Bartoszyce waren Sackgassen. Sie endeten an Mauern, Friedhöfen, Kasernen und Wäldern, in denen Mörder Frauen- und Kinderleichen vergruben. Wie es draußen in der Welt aussah, wusste ich nicht. Ich stellte mir wohl vor, dass es noch andere Welten gab, aber ich glaubte nicht daran, sie jemals zu Gesicht zu bekommen. Und die Erwachsenen von Bartoszyce führten Kriege, die ihnen  tägliche Nahrung waren. Im Grunde genommen waren in meinem Städtchen alle Soldaten. Soldaten der Ewigen Nacht oder der Roten Fahne. Des Todes und der Liebe.
Eines Nachts rollten Panzer über die Straßen, und mir wurde klar, dass ich aus Bartoszyce fliehen musste. Ich fragte Jolka, ob sie mit mir abhauen würde, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen wäre. Sie war fest entschlossen, mit mir zu gehen, und als meine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker abgeschlossen worden war und ich meinen Musterungsbescheid bekam, rief ich sie an und bat sie, Vorbereitungen zu unserer Flucht zu treffen − sie machte gerade das Abitur.
Ich wollte kein Soldat werden. Weder im Dienste der Ewigen Nacht noch der Roten Fahne. Des Todes und der Liebe. Ich schlug den Atlas meines Vaters auf und suchte  nach einem Land in Westeuropa, in dem wir um Asyl bitten konnten. Meine Wahl fiel auf Deutschland. Es war unser bester Nachbar und Feind. Außerdem wurde ich in Bartoszyce geboren, und bis 1945 hieß mein Geburtsort Bartenstein. Ich hatte in der ehemaligen Wehrmachtskaserne eine Ausbildung absolviert, und auf dem katholischen Friedhof in der Nähe der ostpreußischen Molkerei standen immer noch Grabsteine mit deutschen Inschriften. Ich hatte also gute Voraussetzungen, dachte ich mir, eines Tages ein Bundesdeutscher zu werden, zumindest auf dem Papier, und mehr erwartete ich nicht.
Ich wollte in einem freien Land leben.
Um vorzutäuschen, dass ich mich weiterbilden würde, bestand ich die Aufnahmeprüfungen für das Technikum, in dem die Kfz-Mechaniker das Abitur erlangen konnten. Für den drei Jahre dauernden Schulbesuch wurde ich von der Armee freigestellt, und als ich es schwarz auf weiß hatte, beantragte ich den Pass und wenig später das Visum.

Im Winter 1983 setzte ich mich in den Zug und fuhr nach Warschau, um Jolka abzuholen. Doch ihre Eltern hatten unseren Plan entdeckt und ihre Tochter in der Wohnung eingesperrt. Ich stand eine ganze Nacht lang vor den Fenstern ihres Hauses. In meinem Rucksack hatte ich die Ausreisepapiere und die Einladung nach Bremen, die ich mir von Andrzejs Verwandten besorgt hatte. Mein Pass war sorgfältig zwischen den Pullovern und den Schallplatten von Bank verstaut. In meinem Portemonnaie steckten eintausend Mark, die ich meinen Eltern gestohlen hatte. Ich war bereit. Ich wartete, und sie, meine Jolka, zeigte sich kein einziges Mal hinter den Fenstervorhängen.
Am frühen Morgen − es war Winter, und ich spürte nichts mehr, war gänzlich zu einem Eiszapfen geworden − kam Jolkas Vater zu mir und verjagte mich mit übelsten Beschimpfungen wie einen streunenden Hund. Er schmiss mit Schneekugeln nach mir, und hätte er Steine zur Hand gehabt, wären sie bestimmt auch in meine Richtung geflogen. Ich heulte und lief so schnell ich konnte zum Hauptbahnhof.
In dem Zug nach Berlin, der berühmten Berolina, schloss ich mich auf der Toilette ein und leerte in Rekordzeit eine Flasche Wodka. Ich goss ihn mir in den Hals wie Wasser und heulte weiter. Nach einer halben Stunde öffnete der Schaffner mit einem speziellen Schlüssel die Tür, und ich erbrach mich vor seine Füße. Ich versuchte, ihm vorzugaukeln, dass ich zum Frühstück verdorbenes Tatarbeefsteak gegessen hätte. Er glaubte mir natürlich nicht, weil ich entsetzlich nach Wodka stank. Trotzdem  schmiss er mich nicht auf dem nächsten Bahnhof raus: Gott sei Dank war ich schon volljährig, und er stellte mir einen Straffzettel aus und sagte, ich müsse bis zur Grenze nüchtern werden, und wenn ich es nicht schaffen solle, würde er mich der Miliz übergeben. Die Toilette blieb noch für eine weitere halbe Stunde besetzt. Der Schaffner hielt davor Wache. Ich hatte keine Wahl. Ich musste es mit Gewalt versuchen und steckte mir mehrmals die Finger in den Mund. Ich pumpte meinen Magen leer und trank anschließend im WARS-Speisewagen vier Flaschen Pepsi Cola und zwei Kaffee.
Ich hatte Jolka Liebe geschworen, Liebe bis zum letzten Atemzug, und nun hatte ich sie in Warschau im Stich gelassen. Ich holte meine »Todesliste« aus dem Rucksack und setzte meinen Namen darauf. Ich stand ganz unten. Ich war der Letzte, und wenn es nach mir ginge − Bartoszyce sollte ausradiert werden.
Die Zugfahrt wollte nicht enden. Ich erinnerte mich an all die Zugfahrten, die ich in den letzten drei Jahren erlebt hatte. Ich war einmal im Monat zu Jolka nach Warschau gefahren. Ich hatte die Schule schwänzen müssen. Jedes Mal dachte ich mir einen anderen Grund aus, aber die Lehrer wollten mir nicht glauben. Doch diese Zugfahrt (nach Deutschland) sollte meine letzte werden. Ich hatte eine Reservierung und, was ich bis dato nicht kannte, einen Sitzplatz. Auf sämtlichen Reisen nach Warschau hatte ich nachts im Gang des Eisenbahnwagens gestanden, meist im Zigarettenqualm, und gegen den Schlaf und die kommunistische Regierung gekämpft. Die Fahrgäste  schimpften  mit mir über die Kommunisten, wir brachten sie alle um, einen nach dem anderen, und schickten ihre dreckigen Seelen zur Hölle. Ich log, ich hätte ein Jahr im Gefängnis gesessen, ich wäre ein berühmter Dissident, und man hätte mich nach Bartoszyce verbannt. Und meine Mitreisenden schenkten mir Glauben und Gehör.
Aber nun sollte ich in Deutschland ankommen, in einem freien Land, und ich schwor mir kurz vor der Grenze, ein besserer Mensch zu werden. Ich stellte mir die Frage, wer und was will ich denn in Deutschland werden? Ich dachte an meine Lieblingsfilme, in denen Alain Delon die Hauptrolle spielte, meist als Verbrecher. Ich sah im Geiste sein eiskaltes Gesicht und seinen schwarzen Ledermantel, und mir wurde plötzlich klar, dass ich in Deutschland ein eiskalter, schwarzer Engel werden wollte: nein, nein, kein Verbrecher! Ein Polizeikommissar! In der Rolle eines Polizeikommissars gefiel mir Alain Delon am besten. Ich hatte plötzlich ein Ziel vor Augen.  Ich schmiedete Pläne, wie ich Jolka aus Warschau herausholen könnte, aber sie waren alle unrealistisch. Es würde Jahre dauern, unüberschaubare Jahre, bis wir endlich zusammen sein dürften,  und ich zweifelte, ob wir beide unsere Trennung aushalten würden. Außerdem war ich tot.

Wir passierten die Grenze und waren in der DDR. Unsere sozialistischen Brüder und Schwestern! Unsere lutherischen Atheisten! Sie waren uns nicht wohlgesinnt. Sie hassten uns − wir durften ja reisen. Und wir waren Polen, und Polen waren keine Menschen. Ich fragte mich, ob sie sich überhaupt als Deutsche fühlten. Was waren sie eigentlich? Eingesperrte, die eingesperrt sein wollten? Warum streikten sie nicht? Warum setzten sie nicht die sowjetischen Kasernen in Brand? Hatten sie Angst vor dem Dritten Weltkrieg? Am Zweiten waren sie als Mitverursacher beteiligt gewesen, aus freien Stücken, dachte ich. Genauso hätten sie auch den Dritten anfangen können, aber diesmal im Namen ihrer Freiheit. Doch vielleicht tat ich ihnen Unrecht: Ihr ganzer Staat war ein einziges Minenfeld. Sie konnten nicht fliehen. Ich ja. Ich war auf der Flucht. Ich würde nicht mehr zurückkehren.
Sie ließen mich weiterfahren, und plötzlich war ich im Westen.

Meine Landsleute waren mir ein Buch mit sieben Siegeln. Sie machten sich gegenseitig das Leben schwer und führten ihre Kriege im Westen weiter. Sie waren in ihrem neuen Land Soldaten geblieben. Ich merkte schnell, dass sie die Nasen voneinander gestrichenvoll hatten, und so hatte auch ich von ihnen die Nase gestrichenvoll. Sie trugen unter ihren Jacken Messer, lächelten einander an und stachen im passenden Moment hinterrücks zu. Und sie schämten sich, Polen zu sein, und so sprachen sie im Supermarkt oder auf den Ämtern miteinander Deutsch, schlechtes Deutsch, und ich kam mir vor wie in einem Zirkus, in dem drittklassige Akrobaten auftraten. Auf alle Fragen hatten sie immer nur eine Antwort: »Das musst du anders machen. Ich erkläre dir, wie!«  Gut dass es mir nie in den Sinn kam, auf sie zu hören. Ich wäre noch zum Idioten geworden. Manchmal holten sie ihre alten Gitarren aus den Schränken und Koffern und spielten und sangen Lieder, die in Polen keinen überzeugten Zuhörer mehr fanden. Und man musste einigermaßen  angetrunken sein, um  diese seltsamen Konzerte überhaupt zu begreifen, von Mitsingen ganz zu schweigen. Doch sobald die Musik verklungen war und sie einander keinen Honig mehr um den Bart schmieren mussten, schlüpfte wieder ein jeder für sich in die Rolle des leidenden Immigranten und Klugscheißers, und nicht selten begegnete ich auch solchen, die echoten, was ich selbst oft sagte: »Ich habe mit meinen Landsleuten kaum was zu schaffen − zum Glück!« Vielleicht war ich doch ein Idiot geworden!  

Ich hielt mich an die Deutschen, was ich übrigens bis heute tue. Die Deutschen gaben mir einen Job, brachten mir ihre Sprache bei, ließen mich auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur machen und schenkten mir schließlich einen Studienplatz − an der Hochschule in Bremen. Wenn ich schon kein echter Dissident aus Osteuropa war, konnte ich wenigstens in die Fußstapfen von Alain Delon treten, von einem guten Alain Delon, und den Verbrechern dieser Welt ordentlich Feuer unter dem Arsch machen. Schließlich lebte ich in einem freien Land, und Feinde dieser Freiheit gehörten auf den Scheiterhaufen. Diese, meine wahre Motivation, Kommissar zu werden, verriet ich aber den Deutschen nicht, weil sie die Bedeutung von Wörtern wie Scheiterhaufen oder ausmerzen nicht mehr verstanden. In ihrer eigenen Sprache. Sie dachten sofort an ihre Konzentrationslager − Buchenwald, Dachau, Bergen-Belsen; ich konnte es ihnen natürlich nicht verübeln, dass sie so dachten. Wenn mich jemand fragte, warum ich Kommissar werden wollte, hielt ich mich bedeckt und sagte meistens: Es ist ein sicherer Job. Und das Wort sicher wie auch die Sicherheit standen in Deutschland auf Platz eins der Top Ten ihres Wortschatzes. Wenn man hierzulande sagte, dass etwas sicher oder unsicher sei, wurden alle hellhörig; entweder machten sie sich in die Hose oder sprangen hoch wie kleine Kinder und freuten sich überschwänglich.

In den ersten Jahren in der Bundesrepublik war ich glücklich. Mit einer Ausnahme: Jolkas Briefpost verebbte nach acht Monaten. Von einem Freund aus alten Zeiten hörte ich später, dass sie ein Studium abgeschlossen, geheiratet und einen Tomek oder Romek geboren hatte. Ich war plötzlich glücklich, dass mich ihr Vater an jenem schweren Wintermorgen in Warschau verjagt hatte, denn einen Romek oder Tomek wollte ich mit Jolka nie haben. Das war das Ende unserer Liebe, und ich setzte ihren Namen auf meine »Todesliste«, die ich immer noch besaß. Jetzt war Jolka die Letzte, und ich war gespannt, wer ihr folgen würde. Ein Deutscher vielleicht? Alles war möglich.
Ich studierte, hielt mich weiter an die Deutschen und lernte sogar Englisch.
Meine Eltern verziehen mir meine Flucht − was hätten sie auch anderes machen sollen? Ich zahlte ihnen die eintausend Mark zurück und begann sogar, ihnen zu Weihnachten Geld zu schicken. Aber besuchen wollte ich sie nicht. Schließlich hatte ich Bartoszyce doch von meiner Landkarte radiert. Zumindest in meinem Kopf − leider nicht in meinen Albträumen. Wir telefonierten ab und zu miteinander, und als ich mir finanziell endlich mehr leisten konnte als nur die Lebensmittel und die Kleidung und einen elf Jahre alten VW Golf, lud ich sie zu einem Besuch ein. Sie blieben zwei Wochen bei mir, weinten jeden Abend, und jeden Tag ging mein Vater zum ALDI, kaufte sich Wodka und Wurst und betrank sich zusammen mit mir. Als die zwei Wochen vorüber waren, schienen beide Parteien erleichtert zu sein, und wir verabschiedeten uns herzlich. Plötzlich waren zehn Jahre verstrichen, und ich verspürte immer noch kein Bedürfnis, nach Bartoszyce zu fahren.

Mitte der Neunziger, als die Deutschen ihre Vereinigung einigermaßen verdaut hatten und anfingen, über Probleme zu reden, stellte ich fest, dass auch ich Probleme hatte.
Ich war solo und hatte es satt, von Bett zu Bett zu hüpfen. Seit meiner Ankunft aus Polen wechselte ich in regelmäßigen Abständen meine Beziehungen. Sie hielten nie länger als ein halbes Jahr. Danach war immer Schluss, und ich musste mich erneut auf die Jagd begeben.  Und davon hatte ich allmählich die Schnauze voll.
Ich wollte mich wieder verlieben, wollte der Sonne noch einmal in die Augen sehen, nur war ich mir überhaupt nicht klar darüber, wie ich es anstellen sollte. Kein Mensch ging doch auf die Straße, lauthals schreiend: »Ich will mich verlieben!«
Außerdem hatte ich vom Studium die Nase voll. Alain Delon war nach wie vor mein Held, besonders in seiner Rolle in »Der eiskalte Engel«, seinem besten Film, aber der Kommissar, der ich nun mal werden sollte, war mir plötzlich lästig und suspekt geworden. Was und wen wollte er eigentlich darstellen und vor allem retten? Er würde ja doch  für den Staat arbeiten, und der hiesige Staat schien mir nur an einem interessiert zu sein: GELD. Darüber hinaus geriet ich mit diesem Staat in einen Konflikt. Finanziell und moralisch, wenn man  so will. Es handelte sich um keine großen Dinge, aber zum ersten Mal  war ich  im Westen unzufrieden.
Erstens: Es gefiel mir nicht, dass ich eine Geldstrafe zahlen musste. Das Arbeitsamt hatte nämlich herausgefunden, dass ich während meiner zweijährigen Arbeitslosigkeit vor dem Beginn des Studiums etwa zweitausend Mark verdient und nicht angegeben hatte. Ich musste zusätzlich zu der Geldstrafe auch noch die mir unrechtmäßig gezahlten Leistungen erstatten. Summa summarum viertausend Mark. Ich dachte mir: So hab ich mir das nicht vorgestellt! Als ich auswanderte! 
Zweitens: Ich begriff nicht, wie es sich die bundesdeutsche Regierung anmaßen konnte, über die Parteifunktionäre, Spitzel und Henker der ehemaligen DDR zu richten. Die ganze Sache ging mich als Polen zwar nichts an, aber da ich selbst in einem sozialistischen System aufgewachsen war und gelebt hatte, wusste ich, wie absurd und psychisch krank dieses sozialistische System gewesen war. Ich fand, wenn überhaupt jemand hier zu richten hatte, waren es die Ostdeutschen selbst, und sie schienen mir in großem Maße bei wichtigen Entscheidungen, die alle Bürger betrafen, ausgegrenzt worden zu sein. Man hatte ein paar zu Vorzeigemännchen aufgepäppelt  und ins Rampenlicht geschickt und gesagt −  so kam es mir zumindest vor, wenn ich fernsah oder Zeitung las −, das seien gute Ex-DDR-Bürger, nehmt euch an ihnen ein Beispiel,  und das Volk musste wieder in die Tischkante beißen. Ich war freilich kein Freund des gemeinen Volkes − irgendeines −, doch die ganze Sache stank zum Himmel. Im Laufe der Jahre fühlte ich mich in meinem Urteil bestätigt, weil die Deutschen selbst anfingen, davon zu reden, dass zwischen Ost und West eine tiefe Kluft bestünde.
Es mochte sein, dass ich mich in der großen Politik nicht auskannte, aber darauf pfiff ich − ich gefiel mir in der Rolle eines unbefangenen Beobachters (manchmal tat es gut, Pole zu sein) und roch den Braten schon von weitem; die Deutschen wollten wieder reinen Tisch machen, um jeden Preis, und da dachte ich mir: Damit will ich nichts zu tun haben.
1996 beschloss ich kurzerhand, das Studium an den Nagel zu hängen. Das unwiderstehliche Angebot von zwei Bekannten, in ihre Gebrauchtwagenfirma einzusteigen, besiegelte die Entscheidung. Lukas und Volley, für die ich gelegentlich aus dem Polnischen und Russischen übersetzte, boten mir an, ihr Kompagnon zu werden, weil sie sich vergrößern wollten. Überdies nahmen die Geschäfte mit Osteuropa Überhand, und sie brauchten jemanden, der nicht nur die Sprachen beherrschte, sondern sich auch mit der osteuropäischen Mentalität gut auskannte. Und das war ich, Chopin, ihr Übersetzer.
Gemeinsam mit meinen beiden Partnern Lukas und Volley würde ich ein Gewerbegrundstück  in der Nähe des Flughafens mieten, und wir würden auch gemeinsam bei derselben  Quelle einkaufen, nämlich einer Leasingbank, aber wir machten getrennte Kasse.
Und, um ehrlich zu sein, mir gefiel es, Geld zu verdienen. Ich dachte mir, wenn das Interesse des deutschen Staates, dieses Menschenfressers und Sklavenhalters, nur dem Geldscheffeln galt, so würde ich versuchen, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um diesem Staat möglichst viel Geld vorzuenthalten. Tak mi dopomóż Bóg, sagte ich mir, als spräche durch mich meiner Mutter Stimme: So wahr mir Gott helfe. Und mit Göttern kannte ich mich gut aus − ich kam doch aus Bartoszyce, aus der Ewigen Nacht und von der Roten Fahne.

In knapp drei Jahren als Autohändler hatte ich rund dreihunderttausend Mark beiseite gelegt. Ich war ein gemachter Mann und spielte sogar mit dem Gedanken, mir eine Wohnung oder gar ein kleines Reihenhaus im Viertel zu kaufen, vielleicht sogar mit einer Kneipe im Erdgeschoss, die ich hätte verpachten können. Ich würde jedenfalls irgendwann das verdiente Geld vernünftig anlegen müssen. Aber da ich mit Lukas und Volley zwei gute Berater hatte, machte mir das kein großes Kopfzerbrechen. Was sollte da schon schief gehen?! Der Kommissar in mir ruhte sich ein wenig aus (seine Fähigkeiten und sein Wissen konnte ich jederzeit wiederbeleben und zum Einsatz bringen), und der Chopin entdeckte sein Element: Er spielte, er pokerte, er lebte, er boxte. Ich lernte, welche Automarken möglichst schnell einen großen Gewinn einbrachten, und ich konnte sogar meine Englischkenntnisse anbringen, falls die Kunden Schweden oder Holländer waren (die Franzosen sprachen nur Französisch).
Die ersten zwei Monate waren ein rein Vabanquespiel gewesen. Ich musste aufpassen, dass ich das Geld, das mir meine neuen Geschäftspartner für Einkäufe geliehen hatten, gut investierte. Doch ich hatte Anfängerglück, und so flossen rasch die ersten Gewinne − einerseits. Andererseits erkannte ich, dass die Philosophie, mit der ich im Autohandel zu tun hatte, so verlogen war, dass ich begann, mir um meine intellektuelle Gesundheit Sorgen zu machen.
Die Verkäufer der Leasingbank in Hannover waren nicht blöd. Wenn sie kein gutes Geschäft witterten, hörten sie auf, von ihrem Privatleben zu reden. Und das war immer ein schlechtes Zeichen, wenn Herr Henning oder Herr Wencke schwiegen und mir oder Lukas und Volley nicht erzählten, ob sie am Wochenende guten oder schlechten Sex gehabt hatten. Dann würden sie die Autos, die auf der Liste standen, auf keinen Fall uns anbieten. Dann hatten sie bessere Käufer, als wir es waren, die mehr boten.
1999 zeichnete sich ab, dass die Anzeigen in den Zeitungen in absehbarer Zeit den Kürzeren ziehen würden und dem Internet das Feld vollständig räumen müssten. Wir wachten gerade noch rechtzeitig auf und stellten unsere Wagen ins Internet, auf die Homepage von »www.mobile.de«, und plötzlich waren wir wieder im Geschäft (Volley nannte die Homepage »www.debile.de«). Unsere Nokias mussten hart ran. Pausenlos riefen Russen und Polen, Tschechen und Rumänen an. Wir hofften nur, dass uns die Leasingbank und Herr Bär, ihr millionenschwerer, fettleibiger Direktor, weiterhin gewogen blieben, und dass das Privatleben der Verkäufer sich positiv entwickelte, sie in der Liebe auf keine all zu großen Hindernisse stoßen und auf Abwege geraten würden.
Ich war nicht reich, aber ich hatte endlich Geld (in der Hand, unterm Kissen, auf dem Konto), und ich rächte mich an dem deutschen Staat. Jeden privaten Kunden fragte ich, ob ich die Rechnung etwas kleiner schreiben dürfe. Wenn ein Kunde damit einverstanden war, dass wir in seinen Kaufvertrag einen etwas kleineren Betrag setzten, als mündlich vereinbart, konnte Lukas in unserer Steuererklärung die Zahlen entsprechend manipulieren, und wir hatten weniger Steuern abzuführen; so einfach war das. Ich begann allmählich, an Wunder zu glauben, und das war nicht gut. Für  Wunder waren die Götter aus Bartoszyce zuständig, aber niemals der blöde Mammon. Doch ich behielt meine Zweifel an meinem neuen Job erst einmal für mich.

Es stellte sich schnell heraus, dass meine Kompagnons Menschen ganz nach meinem Geschmack waren − zumindest zu Beginn unserer Freundschaft.
Lukas war schwierig, undurchschaubar und so  wahnsinnig wie der 1. Mai in meinem Geburtsstädtchen an der Łyna.
Eines Abends nahm er mich  mit auf einen Ausflug. Er sagte: »Ich will dir zeigen, wo ich angefangen hab.« Mit »anfangen« meinte er seine »Autohändlerkarriere«. Da es schon spät war, kauften wir auf einer Tankstelle zwei Sechserträger  Bier und fuhren weiter. Unterwegs hörten wir Joe Jackson, den in Europa nur echte Freaks kannten, und tranken Beck’s, unser heimatliches Bier. Wir hatten keine Angst vor einer Polizeikontrolle und waren, als wir unser Ziel erreichten, schon gehörig benebelt.
Was er mir zeigen wollte, irgendwo auf dem Lande, in einem kleinen Kuhdorf in der Nähe von Bremen, war großartig.
»Und das ist der berühmte Anfang«, sagte ich, als er das Tor seiner Garage öffnete; mir bot sich ein Anblick, den ich nie vergessen würde: Reifen stapelten sich in ungeordneten Haufen bis zur Decke,  und zwischen diesen schwarzen Bergen stand ein rotes Cabrio, der Spider 850 von Fiat  aus den frühen Siebzigerjahren. Ein Meisterstück. So hübsch … wie Claudia Cardinale. Das Cabrio sah nagelneu aus.
»Ja. Hier hab ich an den 2CVs geschraubt und gute Musik gehört. Meine Kundinnen waren meistens Frauen, und da ging es ganz schön ab. Hemmungslos waren sie alle«, sagte er, »und ich sowieso!«
Lukas hatte an einer Hochschule für Bauwesen studiert und war Ingenieur. Er glaubte nur an das, was er sah und mit seinen Pranken anfassen konnte. Leben gab es nur auf unserem Planeten, und alles, was hier geschah, musste eine Ursache haben. Wunder gab es in seinem Universum nicht.
Binnen kurzer Zeit hatte sich sein Hobby zum Beruf entwickelt, und da er keine Lust hatte, Angestellter einer fremden Firma zu sein, machte er sich selbständig. Das war das Jahr 1992 gewesen, und Lukas wurde dreißig.
Lukas war Single wie ich, doch gaben sich bei ihm die Frauen die Klinke in die Hand. Ich war inzwischen wählerisch geworden, denn ich wollte mich wieder verlieben.
»Jetzt zeig ich dir noch was«, sagte er nach der Besichtung seiner Garage und des Cabrios.
Wir gingen los und landeten zu meiner Überraschung in einem Bordell. Ein Bordell auf dem Lande war etwas ganz Besonderes. Man hatte gar nicht das Gefühl, etwas Verpöntes zu tun: Es war »Futtern wie bei Muttern«, meinte Lukas.
Während ich mich mit den achtzehnjährigen, vollbusigen Polinnen, Slowakinnen und Russinnen über ihren Alltag und ihre Probleme zu Hause unterhielt und ihnen einen Sekt nach dem anderen ausgab, was ein Vermögen kostete, verschwand Lukas irgendwann mit der hübschen Agata aus Wrocław aufs Zimmer. Bereits nach zwanzig Minuten kam er wie ein tollwütiger Hund wieder rausgeschossen, nur in Unterhose und mit den restlichen Kleidungsstücken und Schuhen unterm Arm, und bellte: »Wo gibt’s denn so was? Kaum dass ich mich ausgezogen habe, klopfen sie schon an die Tür und verlangen nach dem nächsten Hunderter! Komm Chopin, wir hauen ab.«
Er zog sich im Vestibül an, zwei männliche Aufpasser mit bösen Mienen assistierten ihm dabei, und wir verließen die Mädchen − zu ihrem Bedauern, denn sie hätten sich mit mir gerne weiter unterhalten. Ich hatte mich als verständnisvoller Kommissar ausgegeben, was sie als erotisch und fürsorglich gefunden hatten. Sie vermissten einen Vater.    
Nach dem Besuch im Bordell machten wir eine Probefahrt mit dem Spider, der an jeder Ecke stehen blieb. Lukas ärgerte sich nicht, sondern holte gelassen seine Taschenlampe und seinen Werkzeugkasten heraus, fummelte geduldig unter der Motorhaube an den elektrischen Leitungen, und nach wenigen Minuten konnten wir unsere Probefahrt fortsetzen.
Auf den ersten Blick war es ein gelungener Abend. Doch in unseren Gesprächen waren wir uns nicht näher gekommen. Lukas war von einer Mauer umgeben, die nicht einmal ich erklimmen konnte, um zu sehen, was es auf der anderen Seite gab. Ich beschloss, mich mit irgendwelchen Fragen zurückzuhalten und Lukas in Ruhe zu lassen. Lukas war ein Perfektionist. Packte er etwas an, so war sicher, dass die Sache von Erfolg gekrönt sein würde. Das imponierte mir, wie auch Volley, doch hätte ich lieber etwas von Lukas’ Seele erfahren. War sie kalt? War sie krank? Hatte sie keine Augen? Oder war sie lediglich schläfrig? Wartete sie auf eine Spritze, die Lukas von den Toten hätte wecken können?
Leider waren wir an dem besagten Abend so betrunken, dass wir auf einem Feldweg in einer Kurve ins Schleudern gerieten und in einen Zaun fuhren. Die Stoßstange und der Grill wurden leicht eingedrückt, und der rechte Scheinwerfer ging zu Bruch, und Lukas, der sich nie irgendwelche Fehler erlaubte, verlor auf einmal die Nerven. Er beschimpfte sogar mich. Ich sei ein Tollpatsch und hätte ein bisschen aufmerksamer sein müssen; es gefiel mir nicht, dass er mit mir redete, als wäre ich sein Angestellter, zumal ich gar nicht am Steuer gesessen hatte.
Er schloss seine Garage, und da der kleine Unfall uns nüchtern gemacht hatte, fuhren wir nach Bremen zurück. Lukas spielte gerne den Golem. Er hatte sich auf der Rückfahrt in trübsinnigem Schweigen geübt. Es herrschte Grabesstille zwischen uns, als wollte er mich töten. Und das wollte schon was heißen, mich töten zu wollen, der ich doch meinen Namen auf meine »Todesliste« aus Bartoszyce gesetzt hatte.

Volley war von einem ganz anderen Kaliber. Er war zehn Jahre jünger als ich. Er konnte zwar lesen  und schreiben, doch ich, der Pole, musste des Öfteren seine deutsche Sprache in Ordnung bringen. Sie war rau und wüst und tat meinen Ohren weh. Ich war kein Germanist, aber immerhin hatte ich vier Semester an einer Hochschule studiert und wäre beinahe Beamter geworden.
Außerdem konnte Volley nicht tanzen. Ich finde immer, Männer, die nicht tanzen können − egal, zu welcher Musik −, taugen oft nicht als Liebhaber, weil sie nach Feierabend lieber mit den Kumpeln Bier trinken gehen, anstatt ihre Frauen bei einem Glas Sekt auf dem Sofa zu Hause zu verwöhnen: Und so war es auch in seinem Fall, als käme er aus Bartoszyce, und nicht ich.
Freilich, er war ein guter Junge − er träumte von tapferen Frauen, die im Untergrund an seiner Seite kämpften, doch am Ende war er nur am Geld interessiert, das er mit dem Autohandel verdiente. Die Dollar-Zeichen, die in seinen Augen leuchteten, ließen ihn alles andere vergessen, sogar seine Freundin Karola. Sie war Jahrgang 1979, kam aus  Rostock,  studierte in Bremen Kunst und wohnte im Studentenheim. Karola jobbte in einer Kneipe, wo sie auch Volley kennen gelernt hatte. Sie war zierlich, und sie hatte den für ostdeutsche Mädchen typischen slawischen Einschlag, vor allem im Gesicht: hohe Wangenknochen, traurige Augen und ein Mund wie geschaffen zum Spucken von Kirschkernen. Sie hatte einfach nichts Strenges in ihrem Aussehen und Verhalten, und es war jammerschade, dass man im Westen dazu neigte, Mädchen von ihrem Schlag für naiv und sogar für ein bisschen einfältig zu halten.
Karola lief durch die Bremer Straßen wie ein unglückliches, von den Eltern verstoßenes Kind und lechzte nach Liebe, die ihr nur Volley schuldig war. Es war ein großes Verbrechen, dass er Karola keine Liebe schenken wollte und auch nicht konnte. Er vögelte sie ab und zu im Suff, und das war’s: »Wie soll ich denn mit ihr zusammenleben? Sie versteht mich nicht! Und immer, wenn ich versuche, mit ihr über unsere Beziehung zu reden, fängt sie an zu heulen!«
Ich, der ich eigentlich ein Kommissar war − im schwärzesten Abgrund meines Herzens −, hätte Volley sofort ins Gefängnis sperren sollen. Für ihn gab es nur seine Autos. Er schlief mit ihnen. Er wachte mit ihnen auf, und es schien absurd, aber er war sogar in einem Pkw, einem Peugeot, zur Welt gekommen. Und trotz alledem: Er wurde nach wenigen Wochen unserer Bekanntschaft zu meinem Freund, und nur deshalb, weil er immer geradeheraus sagte, was er dachte. Weil er sein eigenes Leid beschreiben konnte. Weil ihm bewusst war, dass er Karola wie ein Spielzeug behandelte. Weil er keine Mauern um sich herum baute wie Lukas. Dafür liebte ich Volley über alle Himmel, die mir bekannt waren. Und Himmel ließen sich nicht aufzählen wie die Fußballmannschaften der Bundesliga. Sie waren zahlreicher als die Sandkörner am Meer.
Und so kam es auch, dass eines Winterabends ich statt Karola der Adressat von Volleys Liebeserklärung wurde.
Es war an einem dieser Donnerstage, an denen für uns Autohändler oft das Wochenende begann; wir plünderten zu dritt den Getränkemarkt, die Fleischabteilung und die Fischtheke des METROS, in dem nur Gewerbetreibende mit Ausweis einkaufen durften, und veranstalteten bei Volley eine kleine Party. Wir aßen uns satt, betranken uns und hörten Volleys Lieblingssänger: Herbert Grönemeyer. Wir legten die alten Scheiben von den Bee Gees auf, und ich tanzte mit Karola bis zur Erschöpfung, unsere Fersen brannten, und sogar Volley ließ sich verführen und kam auf die Tanzfläche. Er hüpfte wie ein Basketballspieler, und wir lachten uns über ihn kaputt.
Wir lachten auch über Lukas, und über uns beide, die wir letztendlich genauso geldgierig waren wie unser Partner.
Ja, das liebte ich an Volley,  dass er über sich selbst lachen konnte. »Ich, der Halbanalphabet«, witzelte er gerne, »hab mich hoch gemausert. Ich könnte mir in Bremen jeden korrupten Politiker oder Beamten  kaufen, aber was sollte ich mit seiner Macht anstellen? Wovor und wie würde er mich denn retten? Nein, ich bin nicht zu retten.«
Zu später Stunde eröffnete Volley mir, dass er ein schlimmes Geheimnis mit sich herumschleppe, das ihm manchmal den Schlaf raube.
»Du bist einer der Wenigen – wenn nicht der Einzige –, der mich verstehen wird. Karola kann ich nichts anvertrauen. Sie denkt nur an Partys, Zigarettenrauchen und Rotweintrinken. Außerdem ist sie ständig pleite, obwohl sie mehr jobbt als studiert. Was will sie denn nach ihrem Kunststudium machen? Betteln gehen? Die Ossis haben uns doch schon genug Geld aus der Tasche gezogen. Besser, ich schickte sie dahin zurück, wo sie hergekommen ist!«
Sie war längst schlafen gegangen, und wir pichelten weiter. Volley wurde windelweich, seine Lippen fingen an zu lispeln. Er erzählte mir sein Geheimnis, und mir liefen Tränen  über  meine  heißen  Wangen, und Volley sagte: »… aber das behältst du nur für dich. Solltest du eines Tages …« Drohend hob er die Stimme. »… ich versprech’s dir! Ich bringe dich um!«
»Ich werde schweigen! Du kannst dich auf mich verlassen«, antwortete ich.

Und so lebte ich in der BRD Herbert Grönemeyers weiter. Ich arbeitete hart und trank jeden Tag Bier. Ich verbrachte meine Freizeit im Café Piano und ließ mich fürstlich bewirten. Ich warf das Geld zwar nicht zum Fenster hinaus, aber ich ließ es mir gut gehen. Trotz Volleys schlimmem Geheimnis und Lukas’ Mauern. Und obwohl ich meine »Todesliste« aus Bartoszyce jederzeit fortführen und damit jeden umbringen konnte (auch Lukas), zumindest auf dem Papier. Und dann kam der 11. August 1999. August und September waren immer die schönsten Monate in meinem Leben gewesen. Prachtvoll, symbolisch und kabbalistisch.
1999, in dem Jahr, in welchem eigentlich laut der Propheten die Welt hatte untergehen sollen, traf ich am 11. August zum ersten Mal Maria Magdalena: vor genau vier Jahren, zur Sonnenfinsternis.
(Jetzt verstehen Sie, warum ich so weit ausholen musste. Das ist nur der Bogen, der sich weit über mich und M. M. spannt. Aber ich bin noch nicht fertig).

 



 

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