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Artur Becker machte mit seiner Lesung aus dem Roman »Onkel Jimmy, die Indianer und ich« in Klagenfurt zwar keinen Preis, gewann dafür aber beim Publikum, bei Rezensenten und Lesern Komplizen fürs Leben.

Die Geschichten in »Die Milchstraße« spielen wieder in Artur Beckers Heimat, dem Gebiet zwischen Bartoszyce, Bremen und New York. Im stagnierenden Sozialismus und kapitalistischen Dschungel bewegen sich seine Figuren am Rande der Kriminalität, um ihre eigenen Vorstellungen vom Glück zu verwirklichen.

Die folgenden Seiten sind ein Ausschnitt aus der Erzählung »Der Pass«.



In der Nacht vor der Hochzeit saß Marek vor seiner Holzhütte, als er einen Brief von seinem Vater erhielt. Ein Priester aus Bartoszyce hatte ihm den Brief gebracht, wollte aber zu dem Postweg nichts sagen, als ihn Marek ausfragte. »Vertrauen Sie mir!«, waren seine beschwörenden Worte. Er machte eilig und furchtsam kehrt. Er hatte Natalias Eltern um eine Übernachtung gebeten.

Der Vater schrieb, dass seine Mutter an Krebs gestorben wäre. Ihre Leiche sei eingeäschert worden, wie sie es sich gewünscht hatte. In ein paar Wochen würde er Geld bekommen. Marek las den Brief, las ihn viele Male, in der Erwartung, dass jeder Satz verschlüsselt wäre, in der Finsternis der Buchstaben sich ein Geheimnis verbergen würde. Aber nein, nichts, keine Täuschung, nur Tatsachen: ... bis zum Schluss, mein Sohn, hat Deine Mutter daran geglaubt, dass Du eines Tages zurückkommen würdest. Dir verzeihen? Nein, das ist selbst für mich nicht leicht. Dein Entschluss, in Bartoszyce zu bleiben, hat sie umgebracht  – nicht die Krankheit. Aber das Geld für den Pass kommt trotzdem ...

Marek zerriss den Brief. Im Lichtkegel, der durch das Fenster auf die Terrasse fiel und im Schwarz des Flusses endete, spürte er die Kälte der Nacht nicht mehr.

Marek zog sein Hemd aus und trocknete sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn, die heißer war als seine Brust. Er wollte nicht in die Hütte gehen und sich ins Bett legen, weil er fürchtete, im Traum in seiner alten Wohnung in Bartoszyce aufzuwachen, in seiner Kindheit, und seiner Mutter zu begegnen, die sich nach den Abendnachrichten zu ihm ans Bett setzen würde, um vom nächsten Tag in der Schule zu erzählen und schöne Träume zu wünschen. Er fürchtete sich davor, die Mutter auf die Wange zu küssen, sie wieder aus dem Zimmer hinausgehen zu sehen und der kleine Junge zu sein, der morgens Milch und Brötchen holen würde, die Tageszeitung und ein Päckchen gemahlenen Kaffee für den Vater.

Marek setzte sich auf die Terrasse; auf der Zigarettenschachtel, die fast auseinander fiel, standen die Telefonnummern und Namen von Arbeitern oder Gewerkschaftskollegen aus anderen Städten, die er sich früher darauf notiert hatte. Von diesen Menschen war nichts mehr geblieben, keine Gesichter und Stimmen, keine Schicksale. Das feuchte Hemd wickelte er sich um den Hals und zurrte es an den Ärmeln fest. Er dachte: Das ist die Schlinge, die du dir selbst angelegt hast, weil du niemandem vertrauen kannst. Und was will Bogdan von mir? Wollte er mir nicht am ersten Tag etwas erzählen?

Er zog sich wieder an, verbrannte die Papierfetzen im Aschenbecher, holte das Sakko aus der Holzhütte und suchte darin den Füller, den er in eine rote Stoffserviette eingerollt hatte. Er hoffte, dass Natalia ihm schreiben würde, an seine zukünftige Adresse in Bremen, wo sein Vater wohnte. Vor dieser Stadt hatte er keine Angst, und auch nicht vor dem Anblick der Urne im Bücherregal, neben den Ordnern mit den Skripten des Vaters, aus denen er an der Universität Vorlesungen hielt. Das wäre ganz nach dem Geschmack des Vaters, ahnte Marek, wenn die leere Urne dort stünde. Er hörte ihn schon sagen: »Deine Mutter muss immer in meiner Nähe sein!«

Marek konnte kaum etwas sehen, als er über die glitschige Erde in die Nacht aufbrach, und er musste aufpassen, nicht zu stürzen und sich dreckig zu machen. Kleidung zum Wechseln hatte er nicht. Er kam zum Steg. Dort traf er Zange, der gerade vom Hechtfang zurückgekehrt war und das Boot aufräumte.

»Was ist? Hast du was gefangen? Zeig mal!«

Zange sagte: »Eh! Nichts Besonderes, nur zwei Hechte, und die sind zu alt. Hab gedacht, fange junge, kräftige, weil die noch am besten schmecken.«

Marek sah sich die Fische an. »Macht nichts, die Hechte sind doch gut. Hab schon seit Ewigkeiten keine mehr gegessen. Sag mal, hast du Natalia gesehen? Schläft sie?«

»Bin doch grad erst gekommen, keine Ahnung  – wer kann heute Nacht schon schlafen? Du etwa?«

»Ich helf dir, ich nehm die Ruder.«

Zange hatte ein puderweißes Gesicht und roch nach Knoblauch; im Mund hatte er nur noch ein paar Zähne, oder das, was von ihnen übrig geblieben war, nach den Schlägereien mit seinen Feinden, den anderen Trinkern. Zange trug einen alten Lederhut. Jedes Mal, wenn man ihn als Cowboy beschimpfte, lief er vor Wut unter den Augen blau an.

»Natalia, was für eine Braut! Eine kluge, schöne Frau, hätte sie gern selbst geheiratet! «

Marek antwortete nicht. Sie schleppten ihre Sachen, brachten die Ruder und Spinnruten in die Scheune, die Hechte nahmen sie mit zu Natalias Mutter. Sie bereitete in der Küche die Speisen für das Hochzeitsfest vor, briet die Hühnerschenkel und die Schweinekoteletts. Töpfe voller Kohl und Wurst und Speck für den Bigos standen überall, wohin man blickte.

Die Mutter sagte: »Zange, leg die Hechte in den Eimer.«

»Wo ist Bogdan?«, fragte er. »Heute ist Zahltag, wir haben noch nicht abgerechnet.«

»Er ist bei Natalia, zusammen mit dem Priester. «

»Zange, lass uns bitte allein«, sagte Marek.

Er verschwand. Die Mutter rieb die Hände an ihrem blutbefleckten Kittel. Sie sagte: »Tun Sie ihr nichts. Sie ist zu jung  – und Sie gefallen ihr, Natalia mag Sie.«

»Möchten Sie, dass ich Ihnen etwas verspreche? «

»Es gibt nichts Schlimmeres für ein junges Mädchen als das Warten auf einen Mann, der nicht zurückkommt.«

 

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