Artur Becker: Kino Muza,
Romanfragment

(...)

2

Saigon. Antek hatte die Szene in Saigon aus »Apocalypse Now« geträumt: Offizier B. L. Willard, der nackt und blutbeschmiert im Bett eines schäbigen Hotels lag und seit Tagen Whiskey trank. Es war später Nachmittag, und Antek hätte alles dafür gegeben, dieser Offizier zu sein, mit einem geheimen Auftrag der CIA für den Dschungel, am Ende des Flusses, wo der glatzköpfige und wahnsinnig gewordene Colonel Kurz, der beseitigt werden sollte, über abtrünnige GIs und Einheimische und Schnecken und Rinder regierte und mit ihnen den Tod feierte, indem er sie alle wahllos abschlachtete, Menschen und Tiere, und darüber Gedichte schrieb. Aber Antek Haack lag  hier in Bartoszyce, in seinem Zimmer, das Bettlaken war sauber, über ihm drehte sich nicht der Propeller eines riesigen Deckenventilators, das Radio spielte keine Stücke von den Doors, und draußen herrschte Frieden. Und er hatte keinen geheimen Auftrag für den Dschungel. Er hatte nur alles Geld verloren, obendrein  wartete Lucie auf seinen Anruf, und er musste sich um sein Auto kümmern, den Schrotthaufen, und sich bei Beata melden, später, am Abend.

Karol, Kimmo und Robert waren nicht mehr da. Irgendwann am Morgen, kurz bevor Antek eingeschlafen war, hatte er sie tief über seinen Kopf gebeugt gesehen; sie standen neben dem Sofa – ihre Gesichter registrierte er nur noch als verschwommene, schwebende Flecken – und flüsterten ihm irgendwelche magischen Beschwörungsformeln zu, damit er wieder zu seinen alten Kräften zurückfände: »Schlaf, Antek, schlaf wie ein Stein!«, hörte er noch.

Er  war froh,  dass er jetzt in aller Ruhe duschen und sich überlegen konnte, was zu tun wäre.

Es zählte nur, dass er endlich Beata wiedersehen würde und dass ihr Mann tot war: Er konnte sich trotzdem nicht vorstellen, wie August Kuglowskis Mercedes gesunken war. Er strengte seine ganze Phantasie an und fragte sich, was dieser Mann in den letzten Minuten gedacht haben mochte. Ob er überhaupt imstande gewesen war, irgendetwas zu denken. Vielleicht war man in so einem Moment mit anderen Dingen beschäftigt, die in dieser Welt keine Namen und Bedeutungen mehr hatten, die aber plötzlich aus der Tiefe des Blankisees auftauchten wie aus einem fremden Universum. Ertrunkene, dachte er, sterben doppelten Todes, da ist kein Zurückkommen mehr möglich, in unsere irdische Welt; das Wasser nimmt ihnen den Atem für alle Ewigkeit, endgültig; sie werden zu Dämonen.

Oder sollte er mit Lucie telefonieren? Sich den Zeigefinger wund drehen? Zweiundfünfzigmal ihre Nummer wählen, bis die Leitung nach Deutschland endlich frei wäre?  

Antek  Haack und Lucie Weigert hatten das Standesamt schon mit vier Besuchen beehrt, und Lucie war entweder in Ohnmacht gefallen und musste mit Blaulicht ins Krankenhaus gebracht  werden,  oder sie sagte deutlich Nein. Zugegeben: Antek verlangte viel von ihr, sehr viel.

Er rasierte sich, trank ein Glas Milch, was gut für die Raucherlunge war – zumindest bildete er sich das ein –, und aß ein trockenes Brötchen.

Bevor er das Gebäude verließ, klopfte er noch bei Gienek Pajło an, um ihm guten Tag zu sagen, aber er war noch nicht da. Der Vorführraum war geschlossen. Gewöhnlich kam er eine Stunde vor Vorstellungsbeginn.

Draußen vermisste Antek das Gezwitscher der Vögel. Der Sommer war so heiß, dass sich alle Viecher irgendwo in den dunklen, schattigen Winkeln der Stadt verkrochen hatten. Man sah nicht einmal einen Sperling in einem öffentlichen Mülleimer nach Essensresten wühlen. Aber dafür war Iwan da, der Kleinkriminelle, der von den Leuten »ältester Schüler der Welt« genannt wurde – seit drei Jahren wiederholte er die achte Klasse und konnte sich jeden Film ab achtzehn ansehen, sogar den mit der kahl rasierten Gei-sha, die ihren Mann betrog.

Mit dem Rücken an einen Stützpfeiler gelehnt, saß Iwanauf dem Betonboden der Terrasse des Muza und ruhte sich aus. Er hatte Stil. Er war gut angezogen – ein helles kurzärmeliges Hemd und eine schwarze Hose. An seinen Füßen Sandalen. Sein kahl rasierter Kopf glänzte in der Sonne. Er rauchte lässig eine Zigarette und starrte auf die Straße. Es war halb fünf, und für niemanden in Bartoszyce gab es mehr Wichtiges zu tun. Die Einzigen, die noch arbeiteten, waren die Verkäuferinnen.

Iwan erkannte Antek und fragte: »Wo gehst du hin, Mister Muza?«

»Und du? Was treibst du? Ich war lange weg und bin erst seit heute Morgen wieder zu Hause.«

»Bist du blöd ...«, staunte Iwan. »Ich haue eines Tages ab. Wenn es sein muss, auch nach Russland oder China. Hier hält mich keiner! Verdammte Stadt ...«

Antek hockte sich neben den Jungen, holte die Sonnenbrille aus der Brusttasche seines Polohemdes, setzte sie auf und sagte: »Musst du nicht bald zur Armee?«

»Jo. Unser Schuldirektor Lampik meint, ich bräuchte am 1. September gar nicht wiederzukommen. Aber einen Einberufungsbescheid hab ich noch nicht erhalten. Lieber bringe ich jemanden um, als dass ich Soldat werde.«

»Da  steh ich  dir als Leiche gerne zur Verfügung«, sagte Antek und grinste. »Ich muss jetzt los. Meine Eltern warten. Mach’s gut, Iwan.«

Der Junge sagte: »Deine Sonnenbrille – leihst du sie mir mal?«

Antek setzte sie wieder ab, gab sie ihm und sagte: »Ich bin pünktlich zur Abendvorstellung wieder da. Zwanzig Uhr. Dann krieg ich sie zurück, Kumpel.«

Iwan machte seine Zigarette aus und nahm die Sonnenbrille. Er schwieg, und Antek ging auf die andere Straßenseite und kaufte sich in einem Lebensmittelladen ein Eis. Er hatte Angst, erkannt zu werden. Er wollte mit niemandem sprechen. Aber da war kein bekanntes Gesicht, nirgendwo. Alte Frauen luden ihre Taschen mit Milchflaschen und dicken Brotlaiben voll. Er musste sich wieder an den Geruch von Heringen, Sauerkraut und Wurstwaren Made in Poland gewöhnen, an den schweren sauren Geruch, der sich überall ausbreitete wie eine Smogwolke.

Er überquerte die Hauptverkehrsstraße, die nach Kaliningrad. Das Eis schmeckte ihm nicht, er schmiss es ins Gebüsch und wischte sich die Hände mit einem Taschentuch ab. Sie waren klebrig und rochen süßlich. Er erinnerte sich sofort an seine Kindheit, auch weil er sich der Wohnung seiner Eltern in der Lidzbarska, der Heilsbergerstraße, näherte. Hier war das mittelalterliche Tal, wo einst Mauern die Altstadt umschlossen und vor Angreifern schützen sollten. Von dieser Anlage war nur das Brama Lidzbarska, das Heilsberger Tor, übriggeblieben, mit der riesigen Uhr und den Schießscharten für Bogen- und Armbrustschützen.

Antek blickte auf das sechshundertjährige Gemäuer, dann nach rechts, auf den mittelalterlichen Graben, der so groß war wie ein künstlich angelegter Badesee in einer stillgelegten Sandgrube und zu einem Defilierplatz umgebaut worden war. Er war fünfundzwanzig gewesen. Eine junge Russin aus dem benachbarten Grenzort Bagrationowsk – eine zwanzigjährige fremde Schönheit – war nach Bartoszyce gekommen, um ihre Verwandten zu besuchen. Es war ihre erste Reise ins Ausland. Bei einem spontanen Nachtspaziergang passierte es dann. Und Antek war zufällig in der Nähe des Tatorts gesehen worden. Er hatte wie immer nicht einschlafen können und in den astronomischen Jahrbüchern rumgelesen, wo er kleine, unbedeutende Entdeckungen gemacht hatte, über die sich vermutlich jeder kaputt lachen würde. Und doch kam er zuweilen auf Ideen, die  ihn stolz  machten, obwohl sie ihm verrückt erschienen. In jener Nacht, als die Russin ermordet wurde, war er überglücklich auf dem Marktplatz herumgeschlendert, dann zum Mietshaus seiner Eltern spaziert, die schon schliefen, und zum Defilierplatz der Kommunisten. Dort hatte er sich auf die Tribüne gesetzt und sich über seine Entdeckung gefreut: Seine Stadt lag an einem  Fluss, den die Deutschen die Alle nannten – wie das All, dachte er, und die Woiwodschaftshauptstadt Olsztyn hieß einmal Allenstein – wie der Kern des Alls, das Zentrum jeder Galaxie, dachte er.

Muracki hatte  Zeugen gefunden, die gegen Antek aussagten. Sie waren sich hundertprozentig sicher, dass es sein Gesicht war, das sie in der Dunkelheit hatten leuchten sehen, auf der Tribüne, nur wenige Meter von der Leiche entfernt. Das tote Mädchen lag unter einer Eberesche, zugedeckt mit Zeitungspapier. Es hatte Brandwunden. Von den Zigaretten und ...

Er kam für ein Jahr ins Gefängnis. Und ohne seinen Vater und die Hartnäckigkeit von Onkel Zygmunt säße er wahrscheinlich immer noch hinter Gittern. Das war 1978. Seine Eltern und Zygmunt waren nicht die Einzigen, die nicht glauben konnten, dass er der Täter gewesen sein sollte. Niemals. Der Fall Haack wurde wieder neu aufgerollt, und man fand sofort neue Spuren. Die wahren Mörder waren zwei junge Burschen, die in einem Schweinezuchtbetrieb in Kinkajmy arbeiteten. Sie hatten die Haut ihres Opfers mit einem Brenner versengt, den sie von der Arbeit mitgenommen hatten. Sie waren nicht einmal besoffen gewesen.

Und mehr als dreißig Jahre lang marschierten hier auf dem Defilierplatz am 1. Mai Arbeiter, Beamte, Soldaten und Schüler auf und hörten bei Hitze oder Regen stehend den Rednern zu, die auf der Tribüne ins Mikrofon brüllten und den Sieg des Sozialismus immer wieder aufs Neue verkündeten. Stundenlang. Sie hätten in ihrer gekünstelten und alkoholisierten Euphorie bestimmt nicht gemerkt, dachte Antek als Kind, wenn plötzlich auch noch die alten Pruzzenstämme, die Barten und die Natanger, und dann die Kreuzritter in langen Kolonnen herangeschwommen wären wie Gespensterschiffe. 

Antek hörte im Geiste die  Redner  noch einmal  wie  von einer  Kassette: »... wir werden den Mord an unserem geliebten Vater und Stadtdirektor nicht akzeptieren. Der imperialistische Täter, geschult von den bürgerlichen Banden, wird seiner gerechten Strafe zugeführt werden! Genossen! Niemand darf zerstören, was wir mit unserem Schweiß und Blut aufgebaut und bezahlt haben! Wir werden noch einmal siegen, wenn es sein muss, und jeder Parasit und jedes Ungeziefer, das uns bedroht, wird es bitter bereuen! Wir rufen hiermit den Namen unseres Helden ...«

Erst als er das zweistöckige Mietshaus betrat, eine alte Villa im Jugendstil, in dem seine Eltern wohnten, verließen ihn die Stimmen der Vergangenheit. Halbdunkel und kühle, feuchte Luft schlugen Antek im Treppenhaus entgegen. Er blieb kurz stehen und berührte mit den Fingerspitzen seine Stirn. Er schwitzte und keuchte, als hätte er aus dem Keller einen Eimer voll Steinkohle für den Kachelofen und den Herd geholt.

Eines gefiel ihm aber an diesem Gebäude: die riesigen Türen und Fenster und die hohen Decken, wie in einem Schloss. Nachdem der Eigentümer, ein deutscher Zahnarzt, vor der Roten Armee geflüchtet war, war das Haus auf sechs Parteien aufgeteilt worden. Der Vater hatte die Praxis im Parterre zu einer Wohnung umgebaut, um stets die Straße im Blick zu haben. Der alte Haack saß oft im Fenster und beobachtete das träge Geschehen der Heilsbergerstraße; manchmal sprach er jemanden an und verwickelte sein Opfer in endlose und hitzige Diskussionen über die vergreisten Hundesöhne aus Moskau, Warschau und Ostberlin, die nichts als Lügenmärchen verbreiteten, weswegen er den Fernseher gar nicht mehr einschalten würde – er höre nur noch den Sender Wolna Europa. Ganze Nachmittage und Abende konnte er mit diesem Straßenpalaver zubringen, wenn er nicht gerade wieder sturzbetrunken war, seine Survivalkost, eine Suppe aus Kartoffeln und Speck, kochte, in der der Esslöffel von alleine stehen musste, oder in der gegenüberliegenden Schusterwerkstatt mit seinen Freunden die Zeit totschlug, während die Mutter beim Fleischer Schlange stand oder wieder einmal ins Hotelowa gerufen wurde, um für Reisegäste aus Deutschland zu dolmetschen.

 

Antek klopfte an die Wohnungstür, und die Mutter machte ihm auf.  Sie warf sich ihm um den Hals und küsste ihn auf die Nase. Sie war sehr klein, und ihre deutschen Backen wirkten nach über vierzig Jahren des Lebens im sozialistischen Polen immer noch befremdend und exotisch – als hätte man ihr die Wangenknochen herausoperiert und Silikonpolster eingenäht. Ein Gesicht wie ein Luftballon. Sie hieß vor der Heirat Inge Döhring, und Berthold Haack fand eine schnelle Lösung für ihre ostpreußische Herkunft, nachdem sie sich das Jawort gegeben hatten: »Ab heute wird nicht nur Deutsch gesprochen: Du bist Inga und ich Bartek!«

Anteks Mutter hatte dann eine steile Karriere gemacht: Sie brachte es von der Putzfrau im Hotelowa, dem einzigen Hotel von Bartoszyce, bis zur Mathematiklehrerin – sie hatte es nicht mehr ertragen können, dass sie von den polnischen Hotelgästen immer wieder als Szwabka, als Deutsche, beschimpft wurde.

Das zweistöckige Haus bewohnten sechs Familien, und die Wohnung seiner Eltern bestand aus zwei großen Zimmern mit Kachelöfen. Die Eingangstür führte sofort in die Küche, einen Flur gab es nicht. Auf jeder Etage befand sich ein Klosett. Und zum Baden ging man einmal in der Woche ins Hotelowa.

Der Vater kam an Krücken aus dem Schlafzimmer. Sein künstliches Bein ruhte sich in der Rumpelkammer aus. Er fiel der Mutter ins Wort: »Hab schon alles geregelt! Der Zygmunt kommt gleich mit seinen Soldaten und dem Anhänger!«

Sein Vater lehnte sich an die Wand, stellte die Krücken ab und öffnete die Arme, als wollte er sie beide zusammen umarmen und beschützen – sein kleiner, spindeldürrer Vater mit den buschigen Leonid-Breschnew-Augenbrauen.

»Mein Sohn!«, rief er. »Was haben sie mit dir gemacht?! Um Gottes willen! Wer hat dich so zugerichtet?! Du siehst ja aus wie ein gerupftes Huhn!«

Antek gab ihm einen Wangenkuss und sagte: »Mir fehlt nichts. Ich habe einen Unfall gehabt und wurde überfallen.«

»Vielleicht von der ZOMO«, spottete Bartek: Die ZOMO war die Spezialeinheit der Miliz und ihre Hauptaufgabe, streikende Arbeiter und Studenten zu verprügeln.

»Na ja, ich bin auch gefahren wie ein Kamikaze ... Nächstes Mal guck ich immer schön  auf die  Straße  und sauf vorher einen Liter Kaffee ...«

»Keine Enkelkinder, kein Fußball, öde Sonntage, die verfluchte Messe in der Kirche! Wozu hab ich dich bloß gezeugt?«

»Soll ich jetzt sagen: wegen der schlaflosen Nächte, tatko

»Ach was!«, seufzte er. »Inga! Hol mir mein Bein! Ich muss mich fertig machen!«

Antek kannte die Rituale seiner Eltern. Inga war für die Orthopädie zuständig. Sobald der Vater etwas in der Stadt zu erledigen hatte, musste sie für ihn die Krankenschwester und den Orthopädiemechaniker spielen. Der Alte hasste die Krücken, und es hatte viele Jahre gedauert, bis er mit seinem Kunststoffbein einigermaßen bequem laufen konnte. Das amputierte Bein des Vaters – sein rechtes – wurde im Krematorium des Johanniter-Krankenhauses verbrannt, wo alle Haacks zur Welt gekommen waren. Das Bein war kein Kriegsopfer. Berthold hatte es selbst umgebracht, nachdem ihm die Polen gezeigt hatten, was für eine Zauberwirkung der Wodka auf die Seele des Mannes ausüben konnte. Er hatte es sich einfach weggetrunken. Und er war sehr stolz darauf, dass seine Leber und sein Kopf von den Trinkgelagen nach Feierabend in der Möbelfabrik von Bartoszyce keinen Schaden genommen hatten.

Und dann kam endlich Onkel Zygmunt. Er wünschte sich einen Kaffee, aber keinen gefilterten. Er nahm für ein Glas immer zwei spitze Löffel mit einer Prise Salz. Er machte es sich im Wohnzimmer bequem: »Wir brauchen uns nicht unnötig zubeeilen«, sagte er. »Wer stiehlt schon ein Wrack? Wahrscheinlich haben sie in der Zwischenzeit sowieso das Wichtigste längst ausgebaut – die Lichtmaschine und den Anlasser, sofern sie nicht beschädigt worden sind.«

Er war der geborene Panzerfahrer, aber vor allen Dingen war er ein alter Partisan, dem es nie an Mut mangelte. Zu seinen bekanntesten  Kunststücken  gehörte der Überfall auf die PKO-Bank. Er war in alle Zeitungen gekommen, und ein Fernsehteam aus Gdańsk hatte einen Dokumentarfilm über Onkel Zygmunts Krieg mit den Behörden von Bartoszyce gedreht. Kurz nachdem General Jaruzelski das Kriegsrecht aufgehoben hatte, waren in der Gelben Kaserne der Kościuszkowcy, in der Onkel Zygmunt diente, zehn Panzer auf einen Güterzug geladen und für den Abtransport nach Afghanistan vorbereitet worden. Den Sowjets ging anscheinend ihr Kriegsmaterial aus, und sie hätten in Barto-szyce bestimmt auch gerne Soldaten geordert, da aber in ihren Augen kein einziger Pole als zuverlässiger Kämpfer galt, weil er weder in seiner Heimat noch im Ausland das Maul halten konnte, beschränkten sie sich auf materielle Hilfe. Aus Protest über die halb leer geräumte Kaserne fuhr Onkel Zygmunt mit einer Strafkompanie zum Marktplatz und drohte, die PKO-Bank sturmreif zu schießen, wenn sie ihm nicht sofort so und so und so viele Millionen Dollar aushändigen würden, damit er neue Panzer einkaufen könnte. Ohne Waffen keine Verteidigung unseres sozialistischen Vaterlandes! stand auf einem Plakat geschrieben. Antek war dabei. Onkel Zygmunt wurde über Nacht zum Nationalhelden, sodass die Zensur keine Chancen hatte, diesen peinlichen Vorfall zu verheimlichen. Sie konnten ihn nicht mehr sauber beseitigen, ohne Zeugen. Im Gegenteil. Er wurde sogar befördert und genoss seitdem in der Stadt den Status des Unantastbaren. Sein hohes Ansehen machte selbst dem 1. Sekretär Kucior zu schaffen, der ihn oft zu Rate zog, aber mehr aus Angst vor neuen spektakulären Aktionen.

Und  deswegen wäre  Onkel Zygmunt genau der richtige Mann für Anteks Sorgen – so glaubte in seinem verdrehten Kopf der Vater, und Antek wusste, dass er dieser Logik nichts entgegenzusetzen hatte. Er konnte noch hundertmal die Geschichte vom Unfall in der Lindenallee erzählen, der Vater würde es ihm sowieso nicht glauben: Am Lenkrad eingeschlafen? Ausgeraubt? Blödsinn! Und ein Mercedes sei doch nicht totzukriegen, der Motor laufe wie eine Singer-Nähmaschine,  besser  seien vielleicht  nur die SS 20, aber das seien ja auch Mittelstreckenraketen. Was sollte Antek dazu schon sagen?

Zu allem Übel rief in der ganzen Hektik, die der Vater verbreitete, Lucie an. Antek hatte ihr für den äußersten Notfall die Telefonnummer seiner Eltern gegeben. Und was sie ihm zu verkünden hatte, war alles andere als erfreulich: »Warum meldest du dich nicht? Ich will nichts mehr von dir wissen, du ›Polski Fiat‹! Lass dich in Bremen nie wieder blicken! Ich kündige! Es ist aus! Du hast bestimmt eine niedliche Brünette, die dir jeden Wunsch erfüllt! Fahr zur Hölle, Haack!«

Es war immer dasselbe, nach jeder Rückkehr nach Bartoszyce. Lucie drehte jedes Mal durch und wollte sich von Antek trennen. Sie trank dann Baldriantropfen wie Flachmänner aus dem Bahnhofskiosk. Sie wünschte sich, ihn mit einer Frau im Bett zu erwischen, um ihn mit ihrer Handtasche zu verhauen und »Leb wohl!« zu sagen.

Lucie hatte Antek am Telefon zusammengestaucht und ihn nicht zu Wort kommen lassen. Sein Trommelfell war auf das Zehnfache angeschwollen, er hatte keine Gelegenheit gehabt, ihr seine übliche und professionelle Erklärung, warum er noch nicht angerufen hatte, zu liefern, und Onkel Zygmunt grinste breit und schüttelte nur den Kopf: »Du und deine Weibergeschichten! ›Abschleppdienst Antek Hak‹ – so müsstest du eigentlich heißen! Zähne putzen und ab ins Bett mit dir!«, was so viel bedeutete wie, dass ein Mann, der jeden Tag früh schlafen gehe wie seine Soldaten, nicht sündigen könne.

Wie dem auch sei – Antek spürte, dass es für ihn jetzt hieß, seine Pflicht zu tun: Im Geiste bereitete er sich allerdings schon auf die Debatten vor, die sein Vater mit Onkel Zygmunt führen würde, wenn er erst einmal den vollkommen zerstörten Benz gesehen hätte: »Der Junge kann froh sein, dass er das überlebt hat! Oder dass er nicht zum Krüppel wurde wie ich. Ich sag’s dir, Zygmunt – wir müssen doch an Gott glauben! Hilft nichts! Der Allmächtige weiß schon, was er tut! Er hat nämlich meinem Jungen neues Leben geschenkt!«

Die Mutter kochte für Onkel Zygmunt den Kaffee und stellte für Antek in Eile einen Picknickkorb zusammen, mit Brotschnitten und Hähnchenflügeln und Tomaten und Tee und Zigaretten. Es gab Zeiten, da aßen die Bewohner von Bartoszyce monatelang nur Käse und Hühnerfleisch. Was anderes, zum Beispiel saftige Schweine- und Rindersteaks, bekam man nur auf dem Lande bei den Bauern, für einen horrenden Preis allerdings, den vor allem die Parteibonzen und die Neureichen, wie Robert, bezahlen konnten. Antek hatte immer Westmark zur Verfügung – entweder aus Bremen oder von seiner Mutter, die Pakete und Spenden von ihren ehemaligen Schulfreundinnen aus Göttingen und Duderstadt und Paderborn erhielt. Selbst aus Schweden. Da kamen immer ordentliche Summen zusammen, die sie an alle großzügig verteilte. Sie spielte auch zu Hause mit den Nachbarn Bridge. Es gab Kaffee und Schokolade und Waschpulver und Toilettenpapier zu gewinnen, wobei vor allem auf den letzten Artikel alle scharf waren.

»Antek«, sagte die Mutter in der Küche. »Behalt den Vater im Auge. Du weißt ja, in seinem Kopf und seinem Herzen brodelt es ständig wie in einem Wasserkessel, und dann sagt er Dinge, die er nicht so meint. Der wird mich mit seinen abstrusen Monologen noch ins Grab bringen.«

»Ist schon gut«, sagte er, »und danke für das Essen. Ich bin zwar überhaupt nicht in der Stimmung, mit den beiden Kriegsveteranen zu Muracki zu gehen und mit ihm zu verhandeln, aber was soll’s!«

Inga fragte noch nach Lucie, und Antek wich ihr aus und sagte, er hätte alles unter Kontrolle, was natürlich nicht stimmte. Denn diesmal quälte ihn die dumme Ahnung, dass  Lucie es mit der Trennung ernst meinte und dass sie nicht mehr anrufen würde. Antek, dachte er, dein Land wird von fürchterlichen Plagen heimgesucht werden, und man wird dir die Augen ausstechen, damit du nie wieder begehren kannst – nicht einmal eine Hure –, und Lucie wirst du nie wieder sehen und Beata wird dich verfluchen und für den Tod ihres Mannes verantwortlich machen, den ihr ihm beide so sehnsuchtsvoll gewünscht habt, um endlich zusammen zu sein. Ab und zu werden die Götter mit dir reden, Antek, und dir Geheimnisse verraten, die ein Sterblicher besser nicht erfahren hätte. Das ist deine Zukunft im siebten Himmel, Mister Haack und Mister Muza!

Er dachte noch, als er mit Vater und Onkel Zygmunt in den Tarpan, den  polnischen Landrover, stieg, dass er gerne mit Iwan oder Kimmo getauscht hätte. Sie waren in seinen Augen glücklicher als jeder, den er kannte, und sie scherten sich einen Dreck darum, was mit ihnen passierte oder was die Leute über sie erzählten. Vielleicht bildete er sich das auch nur ein, aber es tat gut, zu wissen, dass auf dieser Erde nicht nur Zimmermaler und Kartenabreißer herumkrochen und sich mit ihren Ängsten herumschlugen, die sie gelegentlich in Drogen, Suff und Jazzmusik ertränkten. Zu entscheiden, was er lieben sollte, welches Mädchen, welchen Film, welche Jahreszeit, gehörte zum Schwierigsten überhaupt, weil nichts beständig und wirklich hässlich war.

 

Onkel Zygmunts Helfer, zwei junge Wehrpflichtige, saßen auf der Ladefläche des Tarpan und sahen aus, als würden sie zur Exekution in den Wald gefahren. Traurige, aschfahle Gesichter. Die beiden Jungen rauchten Zigaretten und schwiegen. Sie waren nicht älter als zweiundzwanzig. Richtige Rotznasen in Felduniformen, die an der Front mit Sicherheit als Erste fallen würden.

Onkel Zygmunt saß am Steuer, und als sie an Anteks Kino und dem Café Roma vorbeirollten, lief plötzlich jemand schreiend und gestikulierend auf die Straße und versuchte, den Tarpan zu stoppen. Zygmunt trat auf die Bremse, der Anhänger hüpfte wie verrückt, die beiden Wehrpflichtigen wurden durchgeschüttelt, und ihre brennenden Zigaretten glitten ihnen aus den Fingern auf den Boden – der  Anhalter war Karol, Zygmunts Sohn. Er kam zum Fahrerfenster und sagte: »Los! Aussteigen! Ihr braucht nicht weiterzufahren. Die Miliz hat soeben Anteks Benz geholt und auf dem Parkplatz im Hinterhof des Reviers abgeladen. Wirklich! Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen!«

Das waren keine guten Neuigkeiten. Das bedeutete entweder neuen Krieg in Bartoszyce, stundenlange Verhandlungen mit dem Staatsanwalt Sadowski, oder gar einen neuen Fall für den Staatssicherheitsdienst.

Das Milizrevier befand sich gleich neben dem Stadtgefängnis und der Hauptschule Nr. 2. Vom Café Roma und Kino Muza waren es nur wenige Minuten zu Fuß. Es waren alte deutsche Gebäude der ostpreußischen Garnisonsstadt Bartoszyce: Das  Haus der  Miliz war im Zweiten Weltkrieg der Sitz der SS und der Russen gewesen. Dort waren den Menschen Fingernägel ausgerissen worden, mal von den Totenköpfen der Nazis, ein anderes Mal von den Henkern der Stalinisten. Antek war der Einzige in dieser Runde, der nach seinem ersten Besuch in Westdeutschland zu einem vertraulichenGespräch auf das Milizrevier vorgeladen worden war. Die blauen Anzüge beabsichtigten, aus ihm einen Spion zu machen. Nur über seine Leiche. Onkel Zygmunt hatte die für ihn peinliche Situation schnell bereinigt – mit einer öffentlichen Petition an seine Vorgesetzten und mit Schmiergeldern, die Anteks Mutter hingeblättert hatte.

Onkel Zygmunt schickte sein technisches Bergungskommando mit dem Tarpan weg, und nach einem kurzen Abstecher ins Roma, wo sie Karol den Picknickkorb daließen und wo Robert und Kimmo mächtig am Bechern waren, gingen sie zum Milizrevier. 

3

Antek musste an den Herbst 1979 denken. Als er wieder frei war, hatte er sich in Warschau eine Single von Pink Floyd gekauft. Zur Belohnung sozusagen. Es war seine erste ausländische Schallplatte gewesen, so etwas vergaß man nie. Und er dachte auch daran, dass er sich damals nach der Entlassung aus dem Gefängnis tatsächlich vorgenommen hatte, Zbyszek Muracki umzubringen.

Jetzt, da Antek Haack seinem alten Schulfreund Muracki auf dem Milizrevier gegenüberstand und ihn anblickte, als wäre alles erst gestern gewesen, wurden Onkel Zygmunt und der Vater nervös.

»Jawohl«, sagte der Vater. »Wir wollen den Mercedes wiederhaben.«

Zbyszek Muracki sank auf seinen Stuhl und faltete die Hände über seinem Dienstbuch zusammen.

»Ich verstehe, aber der Wagen ist zusammengedrückt  wie eine Harmonika! Da ist nicht mehr viel, was einem Auto ähneln würde. Und Antek –  keine Sorge! In meinem Protokoll werde ich schreiben, dass du übermüdet warst ... So was ist ja gar nicht so selten ...«

»Das hoffe ich für dich ...«, sagte Antek.

Der Onkel erkämpfte sich eine Besichtigung, er wollte sich überzeugen, dass Muracki wirklich die Wahrheit sagte. Antek zuckte mit den Schultern. Er wusste, was er seinem Benz angetan hatte.

Sie verließen mit Zbyszek Muracki das Büro und gingen in den Hinterhof, wo das Auto abgestellt worden war. Die Sonne stand hoch am blauen Himmel, und als Antek sich umschaute, kam es ihm so vor, als würden das Gebäude der Miliz und die angrenzenden Wohnblöcke blassrot schimmern. Für einen flüchtigen Moment schien alles um ihn herum in Flammen zu stehen, aber als er wieder hinsah, kam ihm der Himmel ruhig und sogar etwas kalt vor und seine Stadt nicht größer als eine geballte Faust. Sie hielt alle Häuser und Straßen zusammen, und es war ihm, als könnte man aus diesem Kerker niemals fliehen, weil es nirgendwo einen Geheimgang gab, der aufs offene Feld hinausführen würde. Er fühlte sich gefangen und eingeengt und wünschte sich, so schnell wie möglich vom Hinterhof des Milizreviers und ins Roma zu kommen. Aber vor allen Dingen musste er sich endlich bei Beata melden. Und Robert wollte er fragen, ob er nicht vielleicht einen Job für ihn hätte, in seiner Gärtnerei. Dann könnte er ein bisschen Geld zur Seite legen.

»So, jetzt habt ihr alles gesehen«, sagte Zbyszek Muracki. »Mein Bruder ist Automechaniker, das wisst ihr, ich hab mit ihm gesprochen, und er hat sich Anteks Kiste angeschaut, da kann man nichts mehr geradebiegen, meinte er – kein Wunder. Ist mir überhaupt schleierhaft, wie du den Zusammenprall heil überstanden hast. Sag mal, Antek, bist du etwa stuntmanmäßig während der Fahrt rausgesprungen und hast den Wagen gegen den Baum knallen lassen? Unglaublich ...«

Der Vater sagte: »Das reicht, Zbyszek. Deine blühende Phantasie ist uns allen bekannt. Kommt, wir gehen.«

Antek nahm seine Nummernschilder mit und atmete erst auf, als sie wieder auf der Straße standen und ihm bewusst wurde, wie glimpflich er davongekommen war. Niemand wollte Strafanzeige gegen ihn erstatten, er musste auch kein Geld bezahlen. Weder für den Transport noch für die Verschrottung seines Wagens. Und Zbyszek Muracki hatte offensichtlich nicht vor, irgendwelche Nachforschungen anzustellen, ob Anteks Angaben zum Unfall wirklich der Wahrheit entsprachen. Er hatte zum Abschied nur angekündigt, dass er die Diebe suchen lassen würde, keine Sorge; er verdächtigte Zigeunerbanden, die von Olsztyn aus operierten und die Gegend um Bartoszyce herum unsicher machten, und Antek dachte, was der 1. Sekretär des ZK Gomułka nicht geschafft hat, wirst du schon gar nicht hinkriegen: »Juden und Zigeuner schicken wir nach Schweden und Frankreich und in die USA!« – von wegen, Zbyszek.

 

Er dachte oft, er hätte die Geschichte mit der jungen Russin aus Bagrationowsk längst vergessen. Aber dieses schwarze Etwas holte ihn immer wieder ein, verfolgte ihn in seinen Alpträumen, vor allem im Winter. Deshalb opferte er seine Nächte für andere Dinge: Da Antek normalerweise nur am späten Nachmittag und Abend im Kino Muza arbeiten musste, konnte er lange schlafen, das tat er meistens bis zum Mittag, und wenn er aufwachte, lag er noch eine ganze Weile im Bett und las Zeitungen und hörte Radio, und nicht einmal eine Schreckensnachricht vom Bürgerkrieg oder Einmarsch der Sowjets hätte ihn aus der Ruhe bringen und seinen gewohnten Rhythmus stören können.

Nach dem Dienst im Muza ging er meistens noch auf einen Drink ins  Roma zu Karol, blieb dort aber nie länger als ein oder zwei Stunden; dann begann seine Nacht – »Anteks ›Tanz der Vampire‹«, wie es Zocha spottend zu sagen pflegte.

Es gab viel zu tun. Mal vergrub er sich in alten Stadtplänen von Bartoszyce. Er verglich die alten deutschen Straßennamen mit den polnischen und fragte sich, wer in diesen Straßen, deren manches Haus seit 1945 unverändert geblieben war, einmal gewohnt haben mochte. Er konnte viele Stunden über bräunlichen, vergilbten Fotos verbringen, die ein unbekanntes Gesicht seiner Stadt zeigten. Die Synagoge und das Schloss der Kreuzritter gab es nicht mehr. Aber die eiserne, zusammengenietete Balkenbrücke, die über der Łyna, der Alle, hing, war immer noch da. Sie verband die Altstadt mit der Neustadt, wo die Plattenbauten, die Wohnblöcke und das neue Krankenhaus standen. Die Bewohner von Bartoszyce nannten dieses Viertel Hamburg, weil dort vor allem chamy und burki lebten: Bauern und Köter. In den Siebzigern hatte es viele Menschen vom Land in die Stadt gezogen, wo es Zentralheizung, warmes Wasser, Badewannen und saubere Toiletten gab.

Außerdem führte er ein Buch mit allen Filmtiteln, die seit 1979 im Muza gelaufen waren. Das tat er deswegen, weil er wissen wollte, wie oft es im Kinoprogramm von Bartoszyce zu Wiederholungen kam, denn viele Kopien tauchten spätestens nach fünf Jahren noch einmal auf. Dass die Lizenzen längst ungültig waren, kümmerte niemanden, solange es wiederum seiner Leiterin Teresa kein Kopfzerbrechen machte. Es war verbreitete Praxis – zumindest in der Provinz. Teresa verfügte über gute Kontakte nach Warschau und zu der für Lizenzen zuständigen Renatka. Sie verwaltete das provinzielle Chaos, so gut es ging. Bestellte sie bei Renatka »Die Geliebte des französischen Leutnants«, sandte man ihr einen sowjetischen Kriegsfilm mit sibirischen Birken und Frühlingen oder Winnetou von Karl May, und das noch mit der Bitte, die Drei-Tage-Frist einzuhalten. Danach sollten die Birken und Frühlinge aus dem Krieg gegen Gitler oder der tapfere Winnetou im Muza nicht mehr gezeigt werden. Von wegen!

»Wir wollen nicht über die Jämmerlichkeit und Nichtigkeit unserer menschlichen Existenz unterrichtet werden – wir wollen etwas Leichtes, Frivoles, das uns unterhält und entspannt und mit tiefer Freude erfüllt«, sagte Teresa spöttisch über manche Filme und setzte sie auf die Schwarze Liste. Die Schwarze Liste war ihre Erfindung. Der 1. Sekretär Kucior, ihr Boss, hatte nichts gegen diese Maßnahme. Für ihn war das Kino nichts weiter als ein ausgezeichnetes Propagandamittel, was es in Wirklichkeit sein könnte, ver-stand er nicht. Er saß in den Gremien und Jurys seine Stunden ab wie ein altes Weib aus Blanki und erhob jeden noch so beschissenen Film zu einem Kunstwerk, sobald jener der sozialistischen Sache nützlich werden konnte. Sein wahrer Beruf war das Sitzen. 

Doch es gab noch etwas zu tun. Manche Nächte opferte er den langen Zahlenreihen, die in den Himmelsjahrbüchern abgedruckt worden waren. Er hatte diese astronomischen Führer aus Paderborn geschenkt bekommen, in einem der Weihnachtspakete an seine Mutter. Es handelte sich dabei um längst vergangene Jahrgänge – ’71, ’76, ’77 und ’83. Er versuchte trotzdem zu verstehen, was sich am nächtlichen Himmel über Bartoszyce abspielte. Das war nicht einfach,  weil er kein Astrophysiker war, und das Ökonomiestudium an der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Toruń, das für viele gescheiterte Studenten  eine Art  Rettungsring darstellte, hatte er wegen des dummen Fehlers seines Schulfreunds Muracki abbrechen müssen. Er hatte es auch,  als alles vorbei war, nicht wieder aufgenommen (die Partei hätte es außerdem nicht erlaubt).

4

Er ging ins Café, der Vater und Onkel Zygmunt blieben vorm  Roma  stehen  und ärgerten sich immer noch – teils über Anteks Leichtsinn, teils über Zbyszek Muracki, dessen Amt ihm solche Überlegenheit verlieh.

Die Leckereien aus dem Picknickkorb, den die Mutter gepackt hatte, waren verschwunden. Antek fand nicht einmal die Schachtel Zigaretten, die sie obendrauf gelegt hatte. Die schöne Camel.

Er setzte sich an den Tisch zu Kimmo und Robert, der als sein eigener Chef gerne im Roma Kaffeepausen machte, und Karol brachte ihnen die Speisekarte, aber mehr aus Gewohnheit, denn die Auswahl war nicht gerade üppig, und niemandem fiel es schwer, sich für etwas zu entscheiden.

»Und? Alles gut gelaufen?«, fragte er.

»Was hast du mit meinem Abendessen angestellt?«, fragte Antek im Gegenzug und zeigte seinem Cousin den Picknickkorb. »Was  hattest du erwartet? Du hast den Benz doch gesehen, als er in den Hinterhof der Miliz gekarrt wurde.«

Ich fahr morgen zu Beata auf die Insel, dachte er, und bringe dort meinen unbezahlten Urlaub zu Ende, hoffentlich ohne weitere Zwischenfälle und nur, falls ihr Mann wirklich tot ist.

»Ich habe Semesterferien bald. Ich jette nach Karibik«, sagte Kimmo. »Mit dich, Antek.«

»Seit wann kannst du meine Gedanken lesen?«

»Schon lange.«

»Wolltest du nicht nächste Woche nach Hause fliegen«, wandte sich Robert an den Finnen, »und in der Keksfabrik deines Alten Kokosplätzchen backen wie jeden Sommer?«

Kimmo lachte, und Karol sagte: »Den werden sie nach Finnland nicht  mehr  reinlassen. Der ist doch längst Pole ... Kimmo – die werfen dich über der Ostsee ab wie’nen Müllsack. Und deinen Picknickkorb, Antek, hat Iwan geplündert. Er war hungrig, hatte wie immer keinen Groschen in der Tasche. Was sollte ich machen? Ihn abservieren, damit er irgendwann meine Kasse ausraubt? Nee.«

»Ist schon gut«, sagte Antek. »Ich seh ihn sowieso gleich. Er hat meine Sonnenbrille, und die ist mir wichtig. In meinem Kleiderschrank hängen nur ein Paar Hosen und ein Jeanshemd, mehr hab ich nicht. Ich müsste schon meine Schallplatten und Videos verkaufen, um an Geld zu kommen.«

»Jammer nicht«, sagte Robert. »Ich werde dich schon nicht im Stich lassen. Ich doch nicht, dein zuverlässigster Mäzen! Schließlich bist du mein Geschäftspartner. Wenn du willst, kannst du schon am Montag bei mir als Fahrer anfangen und meine ganzen Kunden mit Blumen beliefern!«

»Gerne!«

Antek freute sich, dass Robert von selbst auf die Idee gekommen war.

»Eigentlich sollten wir uns auf das Wesentliche konzentrieren: auf den Kinokauf. Reich wird man davon nicht. Ich stelle nur das Kapital zur Verfügung. Du bist der Künstler, der Regisseur. Und früher oder später müssen wir Teresa in unsere Pläne einweihen. Ohne ihre Unterstützung läuft gar nichts, Freundchen! So haben wir doch immer geredet. Mir nutzt wenig, wenn du für mich Blumen verkaufst ...«

»Trotzdem bin ich dabei, ich, dein neuer Blumenlieferant! Ab Montag! Jeden Vormittag!«

Sie bestellten sich drei panierte Schnitzel mit Kartoffeln und Rote-Bete-Salat und Wodka und Pepsi Cola. In der Dancingbar Relaks bekam man das gleiche Menü zum gleichen Preis. Was anderes gab es nicht. Natürlich, Bigos und Kuttelnsuppe und Hühnerbrühe – aber das stand auf jeder Speisekarte, von der Oder bis zum Bug.

Antek sagte: »Entschuldigt mal! Ich muss Beata anrufen!«

Er ging zur Garderobe, wo das Münztelefon war. Er wählte mehrmals ihre Nummer, aber sie war besetzt. Ihr Telefon hing im Speisesaal, und oft, wenn er sie anrief, nahm niemand ab. Man musste immer zu den Mahlzeiten anrufen,   wenn ihre Feriengäste im Speisesaal aßen. Dann war Beata da – sie oder ihre Köchin Stefcia. August Kuglowski war Gott sei Dank nie ans Telefon gegangen.

»Ich hab noch nichts von Zocha gehört«, fing Antek an, als er zurückkam. »Er muss doch heute Abend im Muza arbeiten – mein lieber Vertreter, wo bist du?«

Im selben Augenblick, als Robert sich anschickte, Antek eine Auskunft über Zocha zu geben, kam der Vater mit Onkel Zygmunt rein. Sie sahen nicht besonders freundlich aus. Es fehlte nur noch die Kriegsbemalung  auf  ihren Gesichtern. Am liebsten würden sie sich eine Flasche greifen und sie am Tresen zerschlagen, dachte Antek, um ihre Wut auf den sozialistischen Staat rauszulassen, die sie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit sich herumtragen wie eine Erbkrankheit.

Plötzliche Zornausbrüche gehörten im Café Roma beinah zur Tagesordnung. Sie waren Karols größte Sorge. Einmal hatten vier Abiturienten sein Café komplett zerlegt, und Karol war eine Woche außer Gefecht, weil er mit gebrochenen Rippen und Prellungen am ganzen Körper ins Krankenhaus gefahren wurde. Dabei waren alle glücklich, vor allem seine Frau, dass es ihm endlich gelungen war, einen Job länger als ein halbes Jahr zu behalten, denn er war ein ausgesprochener Pechvogel. Seine letzte Arbeit bei einem Beerdigungsinstitut hatte dazu beigetragen, dass es um seinen Leumund in Bartoszyce nicht gerade gut bestellt war: sein Unfall an einem verregneten Oktobersonntag, der ihn die Stelle als Sargträger gekostet hatte, kursierte in der Stadt als ein guter Witz: Er hatte sich während des Beerdigungsgottesdienstes für den Verstorbenen an einer Bier-bude betrunken. Und auf dem Friedhof von Bartoszyce in der Nähe der Molkerei war er dann beim Tragen des Sarges ausgerutscht wie auf einer Bananenschale und der Leichnam aus seiner Koje auf die Erde gerollt, weil der Sarg so hart auf die Steinplatten des Gehwegs aufgeschlagen war, dass sich der Deckel gelockert und vor aller Augen geöffnet hatte. Und Karol war direkt neben dem Kopf des Toten gelandet, hatte ihn auf die Stirn geküsst und gesagt: »Herr Leichnam! Verzeihen Sie mir, dass ich Sie geweckt habe!«

Nachdem sich der Vater und Onkel Zygmunt zu Antek und seinen Freunden gesetzt hatten, fingen sie an, Karol herumzukommandieren: ein alter Scherz. Sie gaben bei ihm Bestellungen auf, die ein Vermögen kosteten – französischen Cognac und russischen Kaviar und deutschen Kaffee, und all dies gab es in Bartoszyce nicht einmal im Hotelowa. Schließlich brachte er ihnen eine Flasche Bałtycka und die Kuttelnsuppe mit ein paar Scheiben Brot.

Irgendwann würden seine Mutter und Tante Bacha kom-men, um ihre besoffenen Männer nach Hause zu holen. Und Antek wollte sich dieses Theater nicht mehr mit angucken. Es war wie mit einem Horrorfilm, den man sich schon zigmal angeschaut hatte. Antek kannte sich damit aus: Irgendwann hatte man den Kanal voll, und dann mussten bestimmte Szenen aus dem Gedächtnis gelöscht werden.

Seitdem Karol im Roma arbeitete, war das Café zu einem Ort geworden, den die meisten Bewohner flohen. Hier trafen sich die Aufsässigen von Bartoszyce, die mit ihren störrischen Seelen oder mit den Regierungen in Warschau und Moskau kämpften, meistens über dem vollen Glas. Nur das Kino Muza konnte mit dem Roma konkurrieren, weil es keine Unterschiede zwischen Guten und Bösen machte und jeden anlockte wie ein Jungbrunnen.

Als der Vater endlich genug getrunken hatte und satt war und Onkel Zygmunt am Tisch fast einnickte, begann er mit seinen Tiraden – dem Nachtisch gewissermaßen. Es war erst kurz vor acht, doch Antek hatte sich mit Iwan verabredet und wollte Zocha treffen. Außerdem musste er sich ein paar Gedanken über seine Zukunft machen und Beata noch einmal anrufen.

Als Antek vom Tisch aufstand und seine Zigaretten in die Hosentasche steckte, sagte der Vater mit heiserer, entschlossener Stimme: »Setz dich wieder, Junge, ich bin noch nicht fertig! So viel Zeit wirst du wohl deinem tatko noch einräumen können, bevor er den Löffel abgibt! Außerdem: So weit ist es noch nicht!«

»Er hat nur Angst«, mischte sich Robert ein, »dass er gleich seine hübsche Theaterleiterin verpasst. Die Teresa wartet doch schon seit Wochen auf ihn. Das mit Iwan ist  doch nur eine faule Ausrede – oder, Antek? Wo sonst kriegt man jedes Jahr drei und vier Monate unbezahlten Urlaub? Da muss noch was anderes im Spiel sein! Die Teresa wird schon wissen, was sie tut ...«

»Du bist nur neidisch«, ärgerte sich Antek, »weil es bei dir mit den Frauen nie richtig funktioniert. Typen wie Robert Redford zum Beispiel in ›Die drei Tage des Condor‹­ –­­ die haben Stil und Klasse: wir Männer aus Bartoszyce nicht. Und was meinen unbezahlten Urlaub angeht, weißt du selbst, wie viel Zocha davon hat, dass ich jedes Jahr abhaue! Der  Frührentner  würde doch   sonst  seine Wohnung überhaupt nicht mehr verlassen. Er fährt ja nicht einmal zum Blankisee angeln oder segeln!«

Kimmo sagte: »Ja, ja. Aber Frau Leiterin ist nicht mit dem Kopf gefallen. Sie verliebt in Antek. Sie weiß, was sie hat mit dich: ein echten Stier! Ein echten Stier!«

Robert nippte an seinem Wodkaglas, schnalzte mit den Fingern und sagte nichts mehr. Er hatte Anteks Vorwürfe verstanden. Und Antek setzte sich wieder auf seinen Stuhl, so schwer, als hätte man ihn gerade zum Straflager verurteilt, und sagte: »Kimmo: Willst du mir Nachhilfeunterricht in Polnisch und Liebe geben? Bitte, ich hab nichts dagegen. Aber mit Teresa liegt ihr beide vollkommen falsch! Nahe liegender wäre, wenn sie mich morgen feuerte! ›Ab auf die Straße, Pan Haack! Du bist gekündigt! Einen Kartenabreißer, der ständig Urlaub beantragt, kann ich nicht gebrauchen!‹ – das lass ich mir aber von ihr schriftlich geben, wenn ich sie treffe. Das könnt ihr mir glauben!«

In Wirklichkeit war er froh, dass sie ihn noch nicht angerufen hatte.

Mit Teresa (sie war vierzig) verband Antek nur eine Sache: Sex. Sie hatte die Macht. Sie war seine Vorgesetzte, und diese paar Minuten im Vorführraum des Muza hatten damals, 1979, über seine Zukunft entschieden. Er bekam den Job des Kartenabreißers. Aber Teresa wollte ihn besitzen, sie stellte eine Bedingung. Er sollte immer bereit sein. Wenn er am Wochenende alleine war. Wenn das Kino geschlossen war. Und Antek wehrte sich mit Erfolg, und sie lachte ihn aus und spottete über Beata und Lucie und sagte: »Diese beiden jungen Mädchen! Was soll das? Du begehrst doch mich! Gib’s endlich zu!«

Andererseits durfte Antek seine Lieblingsstreifen behalten. Teresa sagte, es seien sowieso nur Kopien aus der Zentrale, dem Verleih. Ihre Kollegin Renatka, »die Schnattertante aus Warschau«, würde sie als »verschollen« oder einfach als »zurückgegeben« in ihren Akten dokumentieren. Teresa neckte Antek: »Herr Regisseur Kieślowski! Was willst du denn damit? Reichen dir deine Videos nicht?« 

Ein Freund von Lucie hatte Gienek Pajło drei Videogeräte gespendet, die im Westen veraltet und aus dem Handel gezogen worden waren. Ja, sie schickten nicht nur Aspirin und Salami und Kakao nach Ostpreußen: Ab und zu musste Antek über die Westdeutschen staunen. Entweder waren sie so großzügig oder vom CIA gekauft. Wer konnte das schon wissen? Niemand.

Wenn das Kino geschlossen war, zum Beispiel wegen einer Renovierung, organisierte er geheime Filmvorführungen für Auserwählte, meistens kurz nach Mitternacht – selbst der 1. Sekretär Kucior war ein gern gesehener Gast. Mit seiner schützenden Hand darüber war auch alles gut abgesichert, falls es einmal Ärger mit der Lizenzabteilung aus Warschau geben sollte. Und weiß Gott – »Der große Gatsby«, »Einer flog über das Kuckucksnest«, »Hair, »Taxi Driver«, »Das Schlangenei«, »Nosferatu«, »Unheimliche Begegnung der dritten Art« und »Kagemusha« - von all diesen Filmen konnte sich Antek nicht trennen.

Onkel Zygmunt wurde wach und sagte: »Bartek! Lass den Jungen gehen! Aber bevor er uns verlässt, solltest du eine von deinen berühmten Abschiedsreden halten. Erzähl uns noch einmal, wie dein künstliches Bein zum ersten Mal mit dir gesprochen hat! Und die Geschichte mit dem Mond und den Gespenstern! Ich könnte sie jeden Tag hören!«

Antek fasste sich an den Kopf, verbarg kurz das Gesicht in seinen Händen, holte Luft, atmete zur Beruhigung einmal tief durch und seufzte: »Na gut, tatko, erzähl uns dein Märchen! Aber dann geh ich!«

Der Vater wurde sofort munter. Sein mageres, trockenes Gesicht, das mehr einem Sterbenskranken ähnelte, lief knallrot an und wurde plötzlich so sanft und lebendig wie bei einem Komiker.

»1968 wurde ich operiert. Mein rechtes Bein wurde mir abgenommen. Aber die Ärzte hätten mir damals auch den Kopf abschneiden können, ich wusste, dass ich weiterleben würde. Der Mensch braucht die Knochen und den Schädel nur zum Laufen und Denken, aber nicht zum Träumen! Und dann, nach zwei, drei Wochen, die ich im Krankenhaus verbringen musste, träumte ich davon, wer auf dem Mond wohnt. Ich sah mein neues, künstliches Bein, das mit der Post aus Prag nach Warschau geschickt worden war und dann später zu mir nach Bartoszyce, in unser geliebtes Johanniter-Krankenhaus, das noch mein Vater gebaut hat – er war Maurer, aber zurück zu unserer Geschichte. Ich sah mein neues Bein, das wunderschön war und sogar sprechen konnte und mir eines Nachts im Traum erzählte, was nach dem Tod mit uns geschieht – gänzlich anders als in der Bibel. Aber ich bin nicht blöd. Als mein eigenes Bein noch lebte, hat es mit mir kein einziges Mal gesprochen, und da kommt diese orthopädische Wundertechnik aus Prag, die ich mit Westmark bezahlen musste, und redet plötzlich mit mir und sagt: ›Hör mir genau zu, du nichtsnutziger Erdling! Du weißt doch, dass in eurem Haus in der Heilsbergerstraße seltsame Dinge passieren, wenn ein Mensch in Bartoszyce stirbt: Seifenstücke und Kämme und Blumenvasen fliegen plötzlich von alleine durch die Luft; und während ihr schlaft, werden eure Bettdecken von unsichtbaren Händen auf den Fußboden heruntergezogen.‹ – ›Das stimmt, Eure Königliche Hoheit!‹, sage ich. ›Wir haben diese Vorfälle schon gemeldet, aber man hat uns nur ausgelacht.‹ – ›Na siehst du! Und weißt du, wie das alles zustande kommt? Du irdischer Wurm? Nein, das kannst du auch gar nicht wissen! Ich werd’s dir aber erklären: Euer Mond, auf dem die Verstorbenen wohnen, ist überbevölkert. Deswegen müssen viele Tote auf der Erde bleiben. Und wo sollen sie dann bitte schön leben? Etwa auf der Straße?‹ – ›Natürlich nicht! Mein Herr und Gebieter!‹, antworte ich. – ›Richtig!‹, freut sich das künstliche Bein aus Prag. ›Die ahnungslosen Toten irren durch eure Städte und suchen nach einem Unterschlupf und müssen hier auf der Erde lange, lange warten, und wenn sie ein bisschen Glück haben, kriegen sie vielleicht irgendwann auf dem Mond ein kleines Zimmer mit Küche und Bad. Komm mal mit! Ich zeig dir, wie sie dort hausen!‹ So’nen Unsinn hab ich geträumt! Jahre später  dachte ich dann, die Amis wissen gar nicht, was sie da tun! Die landen auf dem Mond und fragen mich nicht einmal, ob ich damit einverstanden bin. Ich war doch der erste Mensch, der auf unserem Trabanten spazieren gegangen ist – zwar nur im Traum und mit seinem künstlichen Bein, das sprechen kann, aber es war alles so echt, dass ich beim Namen meiner seligen Mutter schwören könnte, dass ich wirklich dort oben gewesen bin! Und das soll Gerechtigkeit sein! Niemand will mir glauben!«

Zygmunt orderte bei Karol noch mehr Bałtycka und sagte: »Ja. Die Gerechtigkeit! Für sie hab ich mein Leben lang gelebt und gearbeitet wie eine Ameise! Und was hab ich davon? Nichts! Die werden nach meinem Tod nicht einmal für jeden gut sichtbar eine Gedenktafel für den Oberstleutnant Zygmunt Biuro am Heilsberger Tor anbringen. Kein Mensch wird wissen, wer ich war – geschweige denn, dass ich überhaupt mal gelebt hab – also tatsächlich hier in Bartoszyce gewesen bin!«

Karol brachte die neuen Gläser mit dem Wodka und auch eines für sich und sagte: »Jawohl! Papa! Auf die Gerechtigkeit und auf das große Nichts, das uns alle erwartet! Prost!«

Antek hatte jetzt genug. Er sagte: »Robert, ich ruf dich morgen an! Könnte sein, dass ich dein Auto brauch. Und jetzt hau ich mich aufs Ohr.«

Er verabschiedete sich. Vielleicht würde er Zocha noch erwischen. Der Wodka und die Mondgeschichte des Vaters, die er auswendig kannte, hatten ihn betrunken gemacht. Draußen war die Sonne verschwunden, und roter Nebel bedeckte die Stadt.

(...)

37

Dietrich Pabst bewohnte in Lilienthal in einem Dachgeschoss bescheidene drei Zimmer zur Miete und war Pfeifenraucher, zumindest in seinen eigenen vier Wänden. Er züchtete in Zweihundert-Liter-Aquarien Kakteen, die von Kautschukschlangen bewacht wurden.

»Was mach ich nur mit dieser Frau?«, fragte Antek und schlürfte in der Küche an seinem Tee. »Ich kann sie doch nicht ins Gefrierfach stecken und so tun, als wäre sie ein Sonntagsbraten. Mich trennen nur noch ein paar Stunden von ihr, dann wird der Zug mit Teresa in Bremen einrollen, halten und seine Fahrgäste ausspucken. Ein junger Mann wird Teresa beim Koffertragen helfen wollen, und sie wird es mit einem schüchternen Lächeln ablehnen.«

Was er Dietrich Pabst zu erläutern versuchte, entsprach nur bedingt der Wahrheit, denn er war auch ein bisschen gespannt, welche Neuigkeiten aus Bartoszyce Teresa im Gepäck mitbringen würde. Von Robert und von den Eltern, Bartek und Inga, mit der er nach seiner fluchtartigen Ausreise nach Friedland nur einmal telefoniert hatte.

Ja, er freute sich, Teresa wiederzusehen. Er hatte zwar mit ihrer Ankunft erst in ein oder zwei Monaten gerechnet, doch da ihr Kommen unvermeidlich war, wollte er die Katastrophe schnell hinter sich bringen: »Ich werde sie in meiner Kontrollstation einschließen wie einen Schmetterling hinter Glas!«, fuhr er fort. »Ich werde Teresa einmal täglich zum Spazieren ausführen und dann wieder einschließen. Das ist die Lösung. Und sollte Lucie ihr begegnen, werde ich sagen: ›Schau! Diese Frau ist eine begabte Künstlerin aus Stettin. Sie hat in Krakau studiert. Und da ich ihr Landsmann und Bewunderer bin, hab ich ihr meine Wohnung zur Verfügung gestellt, damit sie malen kann. Die jungen Künstler haben Pani Teresa eingeladen. Der Güterbahnhof soll ein internationales Forum für Begegnungen und Austausch in der europäischen Kunstszene werden.‹ Na, wie klingt das? Und selbstverständlich werde ich Teresa heiraten. Ich stehe zu meinem Wort!«

Dietrich Pabst klopfte die Asche aus seiner Pfeife auf eine Untertasse, säuberte den Pfeifenstiel und machte eine neue Tabakfüllung fertig.

»Es ist meine letzte Reinkarnation auf Erden«, begann er. »Ich werde nicht mehr hierher zurückkehren. Der Höchste in uns und sein Paradies, die Ursuppe allen Seins, werden mich nach meinem Hinscheiden aufsaugen und nie wieder freigeben. Ich werde Gott! Das Universum! Aber wenn ich bedenke, was dir bevorsteht, gerate ich in Versuchung, mein erhabenes Ziel aufzugeben. Du fragst dich, warum? Nun, ich möchte dir mit Rat und Tat beistehen, wenn du Teresa, Beata und Lucie und andere Weiber zum millionsten Mal ehelichen wirst. Ich möchte dann Zeuge deines Scheiterns und deiner Erleuchtung sein. Denn irgendwann musst du den Spieß umdrehen und die Liebesspiele beenden. Sonst kann es dir passieren, dass du zum Beispiel in deinem vierhundertvierten Leben als Beata auf dem Blankiwerder wiedergeboren wirst. Und läuft noch etwas schief, wirst du vielleicht ihre Tochter oder ihr Mann August Kuglowski werden – so hieß er doch, ja? Du ahnst nicht, lieber Freund, wozu der Höchste in uns fähig ist. Geschweige denn sein Gegenspieler, der, als christlicher Priester verkleidet, leere Versprechungen macht, indem er Mitleid für Arme und Kranke vortäuscht. Dabei geht er nur auf Seelenfang. Und das von morgens bis abends.«

»Die Liebesspiele beenden?«, fragte Antek. »Lucie hat in ihrem Kleiderschrank ein echtes Kostüm eines BDM-Mädels hängen. Sie will es einmal für mich anziehen – wann, weiß ich nicht – und dass ich sie in diesem Kostüm vernasche ...«

Antek, der noch nie Pfeife geraucht hatte, auch nicht aus Spaß oder in der Pubertät, nahm von Dietrich Pabst zwei Züge, sog den Rauch in die Lunge ein und hustete: »Ist das Opium?! Da paff ich lieber meine Camel oder Marlboros.«  

»Ein BDM-Kostüm? Hm!«, sagte Dietrich Pabst. »Ich muss dir etwas gestehen. Die Story mit dem Impfstoff, den der Jude Max erfunden haben soll, habe ich einem Buch entnommen und geschickt in unsere Familiensaga eingeflochten. Mein Opa Heinrich hatte damit nichts zu tun. Er war bloß ein ganz gewöhnlicher  SS-Arzt, der in Berlin sogar kurz mit Alexander Mitscherlich, dem späteren Psychoanalytiker, befreundet war. Als die Nazis Alexander Mitscherlich verfolgten, versuchte Heinrich, für seinen Kumpel ein gutes Wort einzulegen – vergeblich. Der Rest meiner Erzählung stimmt aber: Die Selbstmorde und das Schreiben von meinem Vater, jedoch mit dem Inhalt: ›Heinrich war ein Verbrecher, lass uns Buße tun!‹ Ich fürchtete nur, dir die volle Wahrheit zu beichten, aus Angst, dass du mich mit Fragen überschütten würdest: ›Ein SS-Arzt? Wo? In einem KZ?‹ Und so weiter. Dabei wollte Heinrich nur dem Dienst in der Wehrmacht entrinnen. Er soll in einem Berliner Soldatenkrankenhaus tätig gewesen sein, nachweisen kann es aber niemand.«

Da Antek nichts sagte, setzte Dietrich Pabst seine Rede fort, wenn auch über ein anderes Thema: »Nietzsches Vorfahren stammten aus dem polnischen Adel. Wusstest du das? Du bist sein Verwandter – leider nicht ich! Und er schreibt an einer Stelle, er würde zu den angesprenkelten Deutschen gehören. Wie du quasi. Das fiel mir grad so ein. Keine Ahnung, warum. Vielleicht weil ich dir schon immer sagen wollte: Alter Schwede, nimm’s leicht! Du bist einer von uns, dein Polen läuft dir nicht weg!«

Antek ersparte ihm die Geschichte von seinen Bartensteiner Eltern und sagte: »Adelig ist nicht einmal meine Nase! So! Ich muss los! Von Lilienthal nach Bremen – das ist zwar keine Weltreise, aber Teresa soll am Bahnsteig nicht dumm rumstehen und nasse Hände kriegen. Sie kann kein Deutsch.«

»Gut, lieber Freund, gut! Hiermit entlasse ich dich! Du bist mir ein angenehmer Gesprächspartner. Und ich weiß das zu würdigen. Ich leihe dir ein Buch, das meine Bibel ist: ›Ecce homo‹. Lies es, und dann reden wir darüber. Oder auch nicht. Hauptsache, du liest es!«

Dietrich Pabst holte das Buch aus seinem Arbeitszimmer und legte es auf den Tisch.

»Bei dieser Gelegenheit: Ich habe erst in zehn Tagen wieder Dienst, bis dahin sehen wir uns wohl nicht – es sei denn, ich muss zwischendurch einspringen«, sagte er. »Nun ja – meine Mutter vermutete mal, ich sei schwul, weil ich mich nie mit Mädchen verabredete. Ich bin nicht schwul, obwohl ich Männer gut leiden kann. Doch ich steige mit ihnen nicht ins Bett – ebenso wenig mit den Weibern. Wenn du ein wahrer Mensch werden willst,  dich mit dem Höchsten und der Ursuppe allen Seins vereinigen, musst du koscher leben und Sex tunlichst vermeiden.«

Dann gönnte er sich eine kurze Verschnaufpause, kramte aus der linken Brusttasche seiner Lee-Jeansjacke ein schwarz-weißes Bild und sagte: »Aber ich hatte als Student eine Freundin. Susanne. Und das ist ihr Foto. Sie schreibt mir aus Kassel Briefe, die ich selten beantworte. Eine Zahnärztin. Ihre Kinder hätten auch meine sein können!«

Antek betrachtete das Foto und sagte: »Hübsch, die Lady. Hast du sie nicht geliebt?«

»Selbstverständlich habe ich sie geliebt. Sogar sehr. Nur, sie wurde schwanger – von meinem Freund Klaus. Und da ich strenger und konsequenter bin als jeder andere, den ich kenne, beschloss ich, nach diesem Verrat, koscher zu leben. Eine Bindung an ein Weib, die Eifersucht und das Verlangen, die Geilheit und die Kindererziehung – all diese Leidenschaft hätte mich nur gelähmt und den Illusionen und Gefühlen hörig gemacht. Ich hätte nicht an meinem Lebenswerk arbeiten können – an dem wahren Gesetz der Reinkarnation. Ich wäre wahnsinnig geworden!«

»Und?«

»Da gibt es kein Und. Wo sind bloß all die Jahre hin? Das ist das einzige Und. Außerdem hast du mir bei unserem letzten Treffen in deinem Güterbahnhof dieses Und entschärft. Das Foto von Susanne zeige ich dir, damit du bloß nicht denkst, ich würde die Liebe nicht kennen. Ich kenne sie sehr wohl. Hier ist sie: Susanne.«

»Ich bin im Bilde. Also, tschüs dann!«

 

Antek, dem vom langen Sitzen die Beine eingeschlafen waren, blieb nach ein paar Treppenstufen für Sekunden stehen.  Es war, als würde er in der Luft schweben, und ihm fiel ein, dass er vergessen hatte, Dietrich Pabsts Bibel einzustecken, aber er kehrte nicht mehr um. Er hätte sie sowieso nicht gelesen. Bücher, selbst die paar Romane von Lucie, bedeuteten ihm nicht mehr so viel. Während seines Ökonomiestudiums hatte er jeden Marek Hłasko in der Pariser Ausgabe oder jeden Julio Cortázar gelesen, zum Beispiel »Rayuela. Himmel und Hölle«. Dazu von A bis Z, oder, wie die Polen sagen, von Brett zu Brett. Iberoamerikanische Autoren waren damals unschlagbar und begehrt. Nachdem er jedoch im Kino Muza Kartenabreißer geworden war, änderte sich das schlagartig. Auf Papier war kein Verlass, schien ihm, da jedermann ganze Seiten vollkritzeln und seine Beschreibungen als Tatsachen deklarieren konnte. Dass ihn auch das Kino Muza mit seinen Bildern belog, war ihm klar. Das Zuschauen tat nur weniger weh.   

Auf der ganzen Fahrt nach Bremen spürte er ein elektrisches Zwicken in den Beinen und selbst noch auf Bahnsteig fünf, als eine Verspätung des Zuges aus Hannover um zwanzig Minuten angesagt wurde.

Er hatte nach Feierabend Lucies Krankschreibung im Übersetzerbüro vorbeigebracht und war dann zu Dietrich Pabst weitergefahren. 

Er nutzte die Verspätung des Zuges und rief von einer Telefonzelle Lucie an.

Er bestand noch einmal darauf, dass sie absolute Ruhe bräuchte, damit sie sich von ihrer Grippe erholte. Er versprach ihr, sie am Sonntag zu besuchen. Nach dem Frühdienst. 

Wäre  sie nicht  krank  und geschwächt gewesen, hätte es eine Atombombenexplosion gegeben. Lucie wäre in ihren Honda gesprungen und mit Bleifuß zu ihm gefahren. Sie hätte  ihm die Augen ausgekratzt oder ihn wenigstens geohrfeigt, weil er sie mit seinem Umzug zu ihr andauernd vertröstete. Das war jetzt egal. Er hatte Sehnsucht nach seiner Kontrollstation. Und auch nach Teresa.

 

Dann fuhr der Zug aus Hannover ein. Teresa stieg aus dem Waggon Nr. 9, blickte sich nervös in der Menschenmenge um und sah Antek nicht, obwohl er nur wenige Schritte von ihr entfernt war.

»He! Teresa! Teresa«, rief er, als sie ihm den Rücken zukehrte und mit ihrem Koffer Richtung Ausgang stiefelte.

Und taub war sie auch noch. Antek rannte hinter ihr her, riss ihr den Koffer aus der Hand und stellte ihn ab: »Teresa«, sagte er. »Ich bin hier!«

Sie trug einen schwarzen Mantel, der aufgeknöpft war, und einen Winterrock aus dicker Wolle.

»Wo wolltest du hin?«

»Zum Taxi, Antek«, sagte Teresa und fiel ihm in die Arme. »Ich hab doch deine Adresse! Uff!  Jetzt ist mir aber ein Stein vom Herzen gefallen!«

Ihre geschminkten Lippen schmeckten wie Zuckerwatte. Sie roch gut, und ihr schwarzer Mantel kam nicht aus dem Kommunismus, sondern aus einer Boutique in Amsterdam oder London. Er hatte Geld gekostet.

Teresa redete auf Antek ein und hielt sich an seiner Hand fest, mit der er den Koffer schleppte. Dazu bewegte sie ihren Kopf mal nach links, mal nach rechts, sie blickte nicht auf Antek, sondern auf die Reklamen und Lichter, die sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatte: »Das ist ja hier so hell wie am Tage!«, meinte sie.

Auf der Windschutzscheibe des DS, den Antek in Deutschland noch kein einziges Mal hatte waschen müssen, klebte eine Verwarnung der Hansestadt Bremen.

Er riss den Strafzettel ab und hörte Teresas Reisebericht zu.

Seine Fragen und ihre Antworten reduzierten sich auf Stichworte: Die Grenze? Kein Problem! Die Schäferhunde in Ost-Berlin? Nette, arme Tiere. Die Reisenden aus ihrem Abteil? Ja, ein Mann aus Lublin! Dreiundvierzig, ledig, Mike-Oldfield-Fan mit großen Füßen! Und der Proviant? Sie habe nicht gegessen. Sie habe nur Durst gehabt und für eine Dose Cola drei oder vier Mark bezahlt!

Erst in Anteks Wohnung wurde Teresa so, wie er sie aus Bartoszyce kannte. Sie löste den Reißverschluss und ließ den Rock von den Hüften gleiten.

»Du wohnst wie ein König!«, sagte sie und küsste seinen Mund. »Du besitzt ein Schloss. Deine Freundin – sie weiß nichts davon, dass ich da bin?«

»Nein. Und sie ist nicht meine Freundin. Nächste Woche erkundigen wir uns beim Standesamt, wann ein Termin frei ist, damit wir unsere Scheinheirat schnell über die Bühne bringen. Nach drei Jahren oder so kriegst du eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis – umsonst quasi –, danach werden wir uns scheiden lassen. Du hast alle Urkunden mit, bestätigt von der Botschaft der RFN in Warschau? Ja?«

Teresa nickte einige Male.

»Und ich bin ledig«, sagte sie. »Doch bevor ich dir im Einzelnen schildere, wie ich das mit dem Familienstand ge-deichselt hab, noch etwas vorweg: Was ist mit meinem Unterhalt?«

»Die Miete und Lebensmittel bezahl ich – aber nur solange du nicht jobbst. Für einen Sprachkurs kann man sogar ein Stipendium beantragen. Du bist eine attraktive Frau. Früher oder später wirst du jemanden kennen lernen.«

»Du hast schon alles geplant«, sagte Teresa. »Nein. Ich werde nicht heulen.« 

Sie stieß Antek von sich, legte aber ihren Mantel nicht ab, schaute sich kurz in seiner Kontrollstation um und setzte sich aufs Sofa. In Stiefeln, Strumpfhose, Pullover und Mantel schlug sie die Beine übereinander.

Antek kochte schwarzen Tee und schmierte für Teresa ein paar Brote.

»Heulen? Warum solltest du?«, fragte er.

»Ich hab keinen Hunger ...«

»Teresa, an dem Abend, als ich deinen Mann verprügelt habe ...«

Sie ließ ihn nicht weitersprechen und sagte zornig: »Spar dir die Erklärungen. Du liebst mich nicht. Na und? Und dass dir Brzeziński gedroht hat, ist für mich keine Neuigkeit. Er war am selben Tag auch bei mir: Ich sollte dich zur Zusammenarbeit mit ihm überreden.«

»Du kennst ihn?«

»Du bist eigentlich so strohdumm, dass ich vor Wut bersten könnte. Du kapierst nicht, wie ein Kleid zusammengeschneidert wird. Andererseits ist deine Dummheit genau das, was ich an dir mag: Sorglosigkeit, gepaart mit kindlicher Naivität lautet meine Diagnose. Brzeziński und der 1. Sekretär Kucior stecken doch unter einer Decke. Sie haben euch mit der Verpachtung vom Kino Muza eine Scheinselbständigkeit verliehen. Und Robert wird irgendwann alles ausbaden müssen. Sobald er einen Fehler macht, werden sie seine Firma überprüfen. Er kann im Handumdrehen seine Gewächshäuser verlieren. Im Muza geht das ganze Programm den Bach runter. Robert und Gienek Pajło veranstalten zweimal die Woche Videoabende, aber mit erotischen Filmen. Jetzt haben sie den ›Caligula‹ neu entdeckt. Die Zuschauer sind zahlreich. Sie lechzen nach Sex und Blut und Gewalt, obwohl die Videokopie von ›Caligula‹ grottenschlecht ist. Teilweise erkennst du nichts außer Schatten von nackten Körpern, die kopulieren. Den Liebesakt musst du dir vorstellen. Aber du hast ja nicht einmal eine Glotze, Hak, und keinen blassen Schimmer, wovon ich rede. Wie soll ich dir denn den ›Caligula‹ vorführen?«

»Von dem Streifen hab ich schon gehört, Teresa. Tinto Brass ist der Regisseur, Caligula die Hauptfigur, der dritte römische Kaiser, Sohn des Germanicus. Blutrünstig und sexbesessen. Ich war Kartenabreißer. Und an der Nikolaus-Kopernikus-Universität hab ich immerhin sieben Semester gepackt – das Ende ist Geschichte. So bekloppt, wie du das gerne hättest, dürfte ich also nicht sein.«  

»Ja, Pan Kartenabreißer. Kann man denn in deiner Stacja Kontrolna überhaupt ein Auge zumachen? Ich habe schon zwei Züge gezählt.«

»Die Mauern sind dick wie in Jericho. Du kriegst nachts wenig mit. Und nach drei Nächten hast du dich daran gewöhnt.«

Er servierte Teresa den Tee und aß die  Brotschnitten mit Leberwurst selbst. Er trottete dabei durch den halben Raum auf und ab.

»Auf meinem Bankkonto sind tausend Mark. Ein günstiges Darlehen der Bundesregierung hab ich ausgeschlagen. Sollen sie sich ihre Kohle für Spätaussiedler sonst wo hinstecken. Ich bin weder eine Spätlese noch ein Siedler aus einem Kuhdorf. Nach fast einem halben Jahrhundert kann man nichts mehr wieder gutmachen. Ich lass mich nicht kaufen. Und die Piepen, über die ich verfüge, sind ausreichend.«

Er erzählte ihr von seiner Arbeit im Allertal. Teresa zog ihre schwarzen, knielangen Stiefel mit hohen Absätzen aus und stemmte ihre Füße gegen den Rand der Tischplatte. Sie hatte schöne Füße, ohne Hühneraugen, die Beata und Lucie im Sommer plagten.

»Kannst du nicht zwei Kerzen anzünden und das Licht ausmachen?«, fragte Teresa. »In meinem Koffer unter meinen Pullovern sind einige Kassetten und LPs von dir, aus deiner alten Wohnung im Muza! Das ist das Einzige, was ich retten konnte. Und dreh bitte die Heizung auf, ich friere.«

Antek erfüllte ihre Wünsche und wählte Musik aus. An seiner taiwanesischen Stereoanlage aus der Kaufhalle funktionierten nur der Plattenspieler und das Kassettendeck. Der Verstärker streikte manchmal, die Bässe dominierten.

»Und ... Ja, wie geht es meinem Vater und Inga?«, fragte er, als er sich zu Teresa setzte.

»Nicht gut. Inga ist ein Nervenbündel. Und dein Alter? Na ja. Sie muss ihn sogar wickeln.«

»Solch ein jämmerliches Finale hat er nicht verdient.«

Sie brachen die Stange Marlboro an, die Teresa im Pewex gekauft hatte, weil sie dort billiger war als im Westen, und rauchten.

»Und Robert? Was treibt er so?«

»Er lässt dich grüßen. Ich bin durchgebrannt wie du. Mein Mann denkt, ich bin in Warschau, bei der Schnattertante Renatka. Der wird sich schon nicht aufhängen, höchstens vor Kummer totsaufen. Wo sollen sie mich suchen? Bei einem Liebhaber in Warschau? Renatka hat von mir die Order zu bestätigen, dass ich sie besucht habe, falls jemand nach mir fragt. Mehr nicht. Die Miliz und den Zbyszek Muracki wird Seweryn mit einer Vermisstenanzeige nicht belästigen. Dazu ist er zu feige. Vor den Nachbarn wird er von Scheidung faseln und dergleichen. Und der Robert hat mich heute Nacht nach Olsztyn zum Bahnhof gefahren. Er konnte seine Eifersucht darauf, dass ich zu dir nach Brema auswandere, nicht verbergen, hat mich kaum verabschiedet. Aber dank seiner phänomenalen Kontakte und Bestechungskünste konnte ich als eine ledige Frau nach Deutschland reisen. Im Pass ist mein Geburtsname eingetragen: Knapowicz. Meine Dokumente sind sauber. Bei den Ämtern hat niemand etwas beanstandet, und schon gar nicht bei der Botschaft der RFN. Allerdings musste ich Robert für seine Protektion in natura vergüten.«

»Das würde er mir nie antun. Er ist mein Freund.«

»Für eine heiße Nummer spielt ihr schon mal va banque, da seid ihr Männer alle gleich. Außerdem sind wir kein Paar, Antek, oder täusche ich mich? Der untreueste Hund von uns allen aus Bartoszyce und Brema bist nämlich du.«

Er war unbeeindruckt und küsste die Strumpfhose von Teresa, die akrobatisch ihre Beine eingezogen hatte, sodass ihre Knie auf den Busen drückten und die Füße in der Luft baumelten. Sie war rasiert.

»Wer ist im Muza mein Nachfolger geworden?«

»Es  gab nur einen, der mir geeignet schien: der Kollege Iwan«, antwortete sie und strich ihm mit den Fingern durchs Haar. »Dein Onkel Zygmunt hat ihn von der Wehrpflicht entbunden, aufgrund eines psychologischen Gutachtens. Iwan ist  ein  wenig enttäuscht. Er träumte doch von den UNO-Truppen ...«

»...  durchgeballert,  nicht enttäuscht ...«, sagte Antek, »... ich  liebe diesen  Jungen,  als wäre er mein eigener Sohn ...«

Teresa wurde still, als sie dieses Bekenntnis hörte, und fixierte ihn  mit  Blicken, die sagten: »Liebe mich, nicht Iwan und schon gar nicht Beata. Ich bin manche Nacht in Hamburg wach geworden ... Dann dachte ich an dich und hab mir auf den rechten Daumen gebissen – vor Begierde – und um Seweryn mit meinen Schreien nicht zu wecken ...«

38

Am folgenden Morgen, gleich nach dem Frühstück mit Teresa, telefonierte er mit Lucie. Lucie war ziemlich kratzbürstig, weil er sie mit ihrer Grippe alleine gelassen hatte: Aber es ging ihr schon etwas besser. Sie hatte ihrerseits mit ihrer Mutter in Dubai telefoniert, die ihr mitteilte, dass sie zum Weihnachtsfest nach Bremen fliegen wolle. Ihr Scheich habe im Park-Hotel schon eine Suite reservieren lassen.

Schön, schön. Ich werde mit Teresa einen Karpfen zubereiten, hatte sich Antek gedacht. Keine Lust auf Kartoffelsalat mit Knackwürstchen und Götterspeise aus dem Allertal! Dieses Weihnachtsmenü nämlich hatte der Küchenchef des Behindertenheimes auf fotokopierten Zetteln angekündigt, die auf den Tischen in der Kantine auslagen.  

Sie mussten einkaufen. Im Supermarkt hatte Teresa Angst, laut Polnisch zu sprechen: »Dann schauen sich die Leute ja nach mir um. Das möchte ich nicht.«

»Du hast jetzt schon eine Phobie«, sagte Antek. »Wie soll das in ein paar Monaten werden? Tu so, als wärst du unsichtbar.«

Grüne Augen, lange Beine und slawische Wangen. Diese Frau zu einem Stadtspaziergang auszuführen war die Hölle. Alle Männer drehten sich nach ihr um. Ein Autofahrer hätte beinah eine Karambolage verursacht, fuhr dann aber nur ein Baustellenschild platt. Die Betonbauten der Stadtränder okkupierten Arbeiter, Rentner und Ausländer. Hier im Steintorviertel aber war Babel. Hier ging Lucie mit ihren Kolleginnen aus dem Büro frühstücken, meistens ins Piano. Hier hatte  Teresa keine  Angst,  Polnisch zu sprechen. Es war egal, wo einer herkam und was seine Muttersprache war. Und hier waren alle Passanten jung. Die Achtundsechziger und die Hochschullehrer und die Trinker. Und es war alles zu erwerben. Der goldene Schuss und Schmuck und Kleider und Nutten. Teresa hatte die kleinen Boutiquen lieb gewonnen, und am Abend waren sie in die Schauburg gegangen, aber der Film war schlecht. Das war Teresas  erster Tag im Westen. Schlechtes Kino, fettes Essen beim Türken, Versprechungen der Reklamen. Ewige Jugend im Viertel.

Die Straße mit den Kaufhäusern Karstadt und Horten hatte ihr Antek vorenthalten. Diesen Rausch sollte sie selbst entdecken. Zwanzig Sorten Essig und Butter. Hundert Paar Schuhe Größe 42. Tausende Bratwürstchen. Sprechende Schaufenster. Musizierende Häuser. Flughafenrolltreppen. Kein Stacheldraht, keine Wachtürme, dachte er.

Beim Bäcker hatte Antek ein kurzes Gespräch belauscht, in dem es ums Geldverdienen ging. Eine etwa achtundzwanzigjährige Verkäuferin, die zu einem Stammkunden nett sein wollte, sagte zum Schluss: »... jedem das Seine! Schönen Tag! Wiedersehen!«

Die Verkäuferin hatte den Ton nicht getroffen, entschuldigte Antek sie vor dem Allmächtigen, als er Teresa die Übersetzung lieferte.

(...)

 

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