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Artur Becker: Onkel Jimmy, die Indianer und ich
1. ROTHFLIESS
Der rote ostpreußische Bahnhof hat zwei Namen: Er heißt
Rothfließ oder Czerwonka. Nein, wir sitzen nicht im Warteraum und suchen in unserem Gepäck nach Nadel und Faden, um einen Knopf am Sakko anzunähen. Wir besitzen nur einen Koffer und kommen von weit her - mein Onkel Jimmy und
ich. Aber der Bahnhof gehört uns, genauso wie der See, der im Tal von Rothfließ liegt wie ein Fass französischen Tafelweins in einem modrigen, uralten Gemäuer, und gut schmeckt dieser Wein, gut riecht der See, unser See.
Hier haben wir gelebt, Onkel Jimmy und ich, Teofil Baker. Hier herrscht eine Dunkelheit, eine rote Dunkelheit, die wir in Winnipeg lieben, weil sie nie da ist, wenn man sie braucht. Sehnen wir uns einmal nach ihr, fahren
wir an den Wochenenden in die Wälder und angeln an den uferlosen Seen große Fische, Hecht und Wels, und dann essen wir sie am Lagerfeuer und stellen das Radio auf halbe Lautstärke, um die Bären zu vertreiben. Die Kanadier
lachen uns aus, aber wir angeln weiter und lecken uns die Finger nach den Fischen und fürchten uns nicht vor den Grizzlys. Ich weiß nicht, warum ich so ruhig bin. Unser Koffer ist wahrscheinlich der Einzige, der uns verzeiht:
Es ist immer noch derselbe Koffer, mit dem wir vor neun Jahren nach Kanada ausgewandert sind. Tante Ania, Onkel Jimmys Exfrau, hat ihn uns geschenkt. Sie sagte damals: „Teofil, kommt mir nie wieder zurück! Es sei denn, ihr
könnt die Wände mit Geldscheinen tapezieren!“ Wir sind wie durch ein Wunder trotzdem zurückgekommen und stehen nun mit leeren Händen da. Zurückgekommen nach Rothfließ und Czerwonka. Es ist Sommer 1993, und Jimmy ist
auf der Flucht. Auf der Flucht vor seinem kanadischen Schuldenberg. Er ist zurückgekommen nach Warmia und Masuren, um ein bisschen zu verschnaufen. Und ich? Ich bin inzwischen sechsundzwanzig und will wissen, ob es die alten
Orte meiner Kindheit noch gibt. Schade ist nur, dass die Lokomotive nicht mehr fährt, die den Ruß in den Himmel spuckte, den schwarzen Schleim und Dampf; auch die Waggons mit den Holzbänken gibt es nicht mehr.
Als ich ein Kind war - daran will sich mein Onkel nicht mehr erinnern. Ich bin sein Gedächtnis geworden. Mein Onkel sagt jedoch, er brauche keine Verwandten oder Freunde und ein Gedächtnis schon gar nicht, denn alles, was er
liebe, sei immer in seiner Hosentasche: Ein Zwanzigdollarschein, ein Feuerzeug, eine Schachtel Lucky Strike ohne Filter und ein Notizblock für unterwegs. Doch damit wird er nicht weit kommen, zumal ihn bei unserer Rückkehr
nach Winnipeg nichts Gutes erwarten wird, wenn wir die Tür wieder aufschließen werden, zu unserem Haus im Indianerviertel. Fünfundzwanzigtausend heißt die Geheimzahl - sie steht für seine Schulden wie die
Sechshundertsechsundsechzig für den Teufel. Onkel Jimmy verfügt über dreizehn Kreditkarten, und ich weiß ganz genau, was morgen passiert. Jimmy wird vor dem Gemeindevorsteher von Rothfließ, Herrn Malec, sein Portemonnaie
aus der Hosentasche ziehen und ihm sein Plastikimperium zeigen. Dann wird er sagen: „Malec, schau her! Ich bin in Amerika ein reicher Mann geworden! Und ihr, was macht ihr? Ihr füttert Hühner und Enten und räuchert Aale,
die niemand kaufen will!“
Es ist kurz nach zwanzig Uhr, und der Bahnhof ist stiller als eine zirpende Sommerwiese. Wir sitzen auf einer Bank und rauchen Zigaretten. Eine einzige Laterne brennt, es ist Altweibersommer,
sie leuchtet über den Platz, auf dem die Busse halten. Sie leuchtet über den menschenleeren Bahnhof: „Bleibt, wo ihr seid“, höre ich es aus allen Ecken, aus den hintersten Winkeln, und in dieser Stille wage ich nicht,
Onkel Jimmy zu fragen, worauf wir eigentlich warten. Der zweistöckige Wohnblock, in dem meine Großmutter Genia lebt und der ursprünglich für die Arbeiter der polnischen LPG gebaut wurde, ist nur ein paar Schritte von
der Bahnhofslaterne entfernt. Ein paar langsame Schritte, die wir gut kennen. Dann werden uns die Frauen kräftig umarmen und anschließend verprügeln. Sie werden anfangen zu weinen, werden uns die Hemden herunterreißen und
uns die Brust zerkratzen. Ich kann nichts sagen, will nichts mehr sagen, auch mein Onkel schweigt. Manchmal, wenn er etwas sehr Bedeutendes zu bereden hat, legt er den teuren Kehlkopfgenerator an seine Gurgel und spricht
mit der Darth-Vader-Stimme, dass einem ein Schauder über den Rücken läuft.
Wir sitzen noch eine halbe Stunde auf dem Bahnhofsvorplatz, dann sagt Jimmy plötzlich: „Teofil, ich habe solche Knieschmerzen!“ Ich
glaube an nichts mehr, auch nicht daran, dass er zuckerkrank ist oder dass in seinen Gelenken teuflische Kristallite ihr Unwesen treiben. „Letz fejs it!“ knurrt es aus dem Lautsprecher des Generators, dann erhebt er
sich, zögernd folge ich ihm. Sein dicker gedrungener Körper wirft im Licht der Bahnhofslaterne einen kreisrunden Schatten auf den Asphalt. Wie wollen wir Tante Ania bloß erklären, dass wir völlig abgebrannt sind? Sogar
das Geld für die Reise nach Rothfließ haben wir von unseren indianischen Freunden in Winnipeg geliehen.
© 2001 by Hoffmann und Campe Verlag
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