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Die Zeit der Stinte

Neue Zürcher Zeitung, 21.01.2009

Idyll-Apokalypse mit Klavier

Artur Becker gelingt in seinem Roman »Wodka und Messer« grosses Kino

Von Beatrix Langner

Wenn die Behauptung wahr ist, dass Schriftsteller immer dasselbe Buch schreiben, dann hat Artur Becker in »Wodka und Messer. Lied vom Ertrinken« zu seinem Kammerton zurückgefunden. Die Polyfonie der Stimmen vereinigt sich zum grossen Gesang von Liebe, Tod und Verrat. Das grosse Kunstwerk ist es trotzdem nicht geworden, und man muss sich fragen, was da schiefgegangen ist. Ein See in Masuren, ein sprechendes Messer, ein ertrunkenes Mädchen, eine sexy Hotelbesitzerin, Trinker und Mörder, ein uralter polnischer Priester, der in Wahrheit Jude ist, und ein emigrierter Pole auf Heimaturlaub, Beckers Alter Ego Kuba Dernicki, alles zusammen verspricht Suspense und abenteuerliche Tauchgänge in Polens verhängnisreiche jüngere Geschichte.


Ein Kind der Landschaft
Totalitarismus, Katholizismus und Alkoholismus, die drei polnischen Plagen, packt Becker in eine einzige Handlung. Sein Held wird von dem dubiosen Priester zu einem Mord aufgefordert. Das designierte Opfer ist der ehemalige Staatssicherheitsoffizier Janusz Król, nunmehr Bürgermeister von Najdymowo, einer ostpolnischen Kleinstadt in den Masuren, und Ex-Geliebter von Justyna, der flotten Hotelbesitzerin. Ganz in der Nähe liegen Hitlers »Wolfsschanze« und das Kloster zur Heiligen Linde (Swieta Lipka), nur einen Steinwurf voneinander entfernt und von Strömen gleichgültiger Touristen umbrandet.
Auch Landschaften haben ihre Biografien; manchmal treten sie als Musen und Muttergottheiten, dann wieder als Monster und Racheengel auf. Bei Becker ist es der Dadaj-See in Masuren, der sein mystisches, Menschenopfer forderndes Unwesen unter den Anwohnern treibt. Wer seine Romane in dieser Gegend ansiedelt, die seit Jahrhunderten abwechselnd Schlachtfeld und Heimatmuseum, polnisch und ostpreussisch, idyllisch und apokalyptisch war, bewegt sich in einem übersignifikanten Erzählraum. Ernst Wiechner, Hans Hellmut Kirst, Siegfried Lenz, Günter Grass haben Geschichten über Masuren geschrieben. Becker ist ein Kind dieser Landschaft. Er ist 1968 in Bartoczyce/Bartenstein, Woiwodschaft Masuren und Warmia, geboren und emigrierte 1985, noch nicht volljährig, nach Niedersachsen, wo er heute noch lebt. Pole ist er geblieben, wie er Journalisten gesagt hat – mit allen Konsequenzen einer sprachlichen Diaspora-Existenz.
Am 5. März wird Artur Becker den Adelbert-von-Chamisso-Preis für deutsch schreibende Autoren ausländischer Herkunft entgegennehmen. Gerade hat der Bremer Stint-Verlag eine Auswahl aus seinen Gedichten und lyrischer Prosa vorgelegt (»Ein Kiosk mit elf Millionen Nächten«). Hier gibt es einen anderen als den Erzähler Becker zu entdecken, einen urbanen Dichter einsamer Nächte und durchscheinender Tage, in denen die Bilder des Dorfes Wilimy am Dadaj-See, von Poznan oder Warschau, Velten oder New York sich überlagern; ein traumatisches Gewirr kleiner und grosser Fluchten, vergilbter Heimatprojektionen und visionärer Landschaften auf der Landkarte der ewigen Immigration. »Kaum dass ich aufgestanden war / Meldeten sie sich wieder – die violetten Augen / Die geweihten Kreiden der ermländischen Friedhöfe / Und meine Grossmutter Nacia / Schrieb wieder einmal an meine Tür / Die Segensbitte C+M+B der Sternsinger.«
Vielleicht ist es das polnisch-deutsch-katholisch-jüdische Amalgam in der polnischen Seele, das sie so anfällig für mystische Spiritualität macht. Die polnische Filmkunst (mit Roman Polanski oder Krzysztof Kieslowski) verdankt ihm den Ruf, einer der weltbesten Kinematografen zu sein. Beckers Erzählweise ist filmisch, szenaristisch opulent und zugleich surreal, inspiriert von nouvelle vague und dabei durchsetzt mit vulgärsprachlicher Überdeutlichkeit. Das verträgt sich denkbar schlecht mit Krimiplot und kryptoreligiösen theologischen Metaphern, die den Roman durchziehen. Der Typus des wehmütigen, ein bisschen schlitzohrigen, ein bisschen verrückten, jedenfalls volkstümlichen polnischen Immigranten, den Becker in den Romanen »Der Dadaj-See« (1997), »Kino Muza« (2003), »Das Herz von Chopin« (2006) und zahlreichen Novellen erfunden hat, mutiert noch entschiedener zum Geisterseher und Stimmenhörer.


Ungreifbare Dämonen
Helden des politischen Undergrounds der Solidarnosc-Zeit verwandeln sich in Unterweltboten, alltägliche Alkoholexzesse in danteske Apokalypsen. Kuba Dernicki, der Gerechtigkeit für seine Freundin Marta sucht, die 1981 im Dadaj-See ertrank – gejagt von Geheimdienstlern –, findet stattdessen nichts als Hirngespinste. Das Messer, mit dem Kubas Vater dessen Mutter erstach, soll endlich den Schuldigen treffen, doch es trifft nur unausgeschriebene Figuren, ungreifbare Dämonen. Justyna, die fesche Hotelbesitzerin und Martas angebliche Doppelgängerin, kann Kuba-Orpheus gerade noch rechtzeitig zum Happy End in ihr Bett zerren, obwohl auch sie nicht mehr Profil hat als eine Illustriertenfoto.
Schade, dass die angestrebte Synthese von basic instincts, Seelenwanderung und Geschichtsaufarbeitung so grandios danebengegangen ist, weil statt Spannung nur zweithändig kolportierter Überbau erdrückend und reichlich rätselhaft über dem Ganzen liegt, als hätte jemand aus Wiecherts »Totenwald«, Polanskis »Messer im Wasser« und Czeslaw Milosz' intellektueller Autobiografie »Das Land Ulro« ein Hollywood-Drehbuch machen wollen. Wir können »Wodka und Messer« immerhin als Roman für Freunde der gehobenen Unterhaltung empfehlen. Suff, Sex and Crime, dazu die Sun-Bear-Konzerte von Keith Jarrett in Kyoto und Osaka 1976 und ein Sonnenuntergang an der Masurischen Seenplatte: Wenn das nicht grosses Kino ist!



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