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LitGes 28.11.2008
»Die Nase rot vom Saufen, die Augen blau vom Raufen,
die Haare grau vom Huren, dass sind die Farben
der Masuren.«
Von Ingrid Reichel
So lautet ein fürwitziges, altes und bekanntes Sprichwort aus dem Roman »Die Wölfe« von Hans Hellmut Kirst. Doch die Farben widerspiegeln sich nicht im Gesicht des Autors Artur Becker, obwohl sein Roman »Wodka und Messer. Lied vom Ertrinken« in Titel und Inhalt dem Volksmund nicht widerspricht.
Der 1968 in Bartoszyce (Bartenstein) – Woiwodschaft Ermland-Masuren, Polen – als Artur Bekier geborene und seit seiner Jugend in Deutschland lebende Schriftsteller setzt auch in seinem neuesten Roman seine Erzählungen über Polen fort. Ist es Verfolgung, Aufarbeitung oder gar Strategie, wenn Becker immer wieder an den See seiner Kindheit und Jugend, dem Dadajsee zurückkehrt? Es wird eine Mischung von allem sein. Und das macht dieses Buch auch so interessant. Das Buch gespickt mit vielem Biografischem, mit Wissen von Mythologie, Kultur und der politischen Lage Polens wird zu einem wahren Abenteuer im Kopf. Es strotzt vor Wahrhaftigkeit. Wodka fließt in unseren Adern, der Wind weht uns durch das Haar, wenn der Dadajsee uns ruft und das Messer in unserer Tasche sich rührt, wenn es beginnt mit uns zu sprechen und uns Befehle zu erteilen.
Literatur im Sinne von Integrationspolitik, wie es sich unsere Politiker nur erträumen können. Doch Becker hat damit nichts am Hut. Man spürt seinen Drang die zwei verschiedenen Mentalitäten, die deutsche und die polnische in seinen Romanen zu vereinen. Und in der Tat, Becker ist erfolgreich. Das klischeehafte Bild des Ostens mit seinen blassen Postkarten und seiner schweren Melancholie bekommt Gestalt und Farbe, während der Westen in seinem Reichtum und seinen scharfen Kanten in einen dämmrigen Geisteszustand fällt. Doch Becker übt keine Kritik, zieht keine Vergleiche. Er bringt uns lediglich das Land seiner Kindheit näher und das mit großer Leidenschaft. Eine Leidenschaft von der wir träumen und nach der wir uns sehnen und von der wir wissen, dass wir sie verloren haben. Spätestens nach diesem Buch.
Der Protagonist Kuba Dernicki hat sich eine Existenz in Deutschland aufgebaut, macht Karriere, ist mit einer Deutschen verheiratet und hat Zwillingstöchter. Eines Tages beschließt er nach vielen Jahren alleine in seinen Geburtsort Wilimy am nordwestöstlichen Ufer des Dadajsees zu fahren, um seine Tante Ala, die ihn auch großgezogen hat, zu besuchen. Es beginnt eine Reise in die Vergangenheit. Seine Kindheits- und Jugendtraumata, die Hochzeit seiner Tante Ala, ihre Verstümmelung, der vor Eifersucht wahnsinnig gewordene Vater, der Tod seiner Mutter, seine Jugendliebe Marta, seine Flucht vor dem Regime, all dies holt ihn ein. Tote werden auferweckt und Lebende sterben. Als Kuba die Hoteldirektorin Justyna kennen lernt, hat ihn der Dadajsee schon längst wieder in seine Arme genommen und zieht ihn in einen Sog von Liebe, Aberglaube und Politik tief auf den Seegrund, um sich endlich dieser in den Tiefen des Sees lebenden Bestie, diesem entsetzlichem Graswurm, diesem Aal zu stellen.
Die legendäre Musik des amerikanischen Pianisten Keith Jarrett mit seinen Improvisationen aus den Sun-Bear-Piano-Concerts und die Lyrik des bei uns kaum bekannten polnischen Dichters Czesław Miłosz bilden eine tiefe Hintergrundbegleitung.
Faszinierend und fesselnd. Ein Buch zum langen und intensiven Lesegenuss.
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