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Süddeutsche Zeitung, Literaturbeilage, 15.10.2008
Wo Jesus vom himmlischen Thron herunterspuckt
Da ist Masuren, wo alte Mordwerkzeuge heute blutig raunende Ratschläge geben. Solcher magischer Realismus in »Wodka und Messer« ist ausgesprochen lästig. Aber Artur Becker weiß auch viel von der auseinander- treibenden Gesellschaft Polens zu erzählen.
Von Burkhard Müller
Wenn ein deutschsprachiger Autor sich nach Osten wendet und sich seiner slawischen Wurzeln zu entsinnen beginnt, ist Argwohn am Platze: Hier liegt die Sentimentalität auf der Lauer. Dass Artur Becker sich im Vorspann des Buchs quer auf einer Doppelseite ablichten lässt und also in jeder Hinsicht breit zu werden verheißt, und dass er sein Buch ausgerechnet »Wodka und Messer« nennt, tut wenig, um diesen Argwohn zu zerstreuen. Auch muss es, wie im deutschen Soldatenlied, ausgerechnet um ein ertrunkenes Polenmädchen gehen, daher der Untertitel »Lied vom Ertrinken«.
Klischees soll man bei den Hörnern packen, sei es, um sie zu widerlegen, sei es, um an ihren Wahrheitskern zu gelangen. Mangel an Beherztheit kann man Becker da jedenfalls nicht vorwerfen. Zwar hat die Geschwindigkeit, mit der sich Polen modernisiert, und die Agilität der polnischen Emigranten im Ausland allgemeines Erstaunen geweckt. Aber die Emigranten wussten eben genau, wovor sie das Weite suchten; und die Modernisierung hat nicht alle Winkel des großen Landes gleichmäßig erfasst. Beim Gebiet am Dadaj-See in den Masuren, wo das Buch spielt, handelt es sich um eine im doppelten Wortsinn zurückgebliebene Region.
Dorthin unternimmt der Held der Geschichte, Kuba Dernicki, eine Sommerreise, um die Stätten seiner Kindheit und Jugend aufzusuchen. Ein Vierteljahrhundert ist es her, seit er wegen seiner Beteiligung an den Unruhen der frühen Achtziger aus Polen fliehen musste; jetzt arbeitet er irgendwo in der Nähe von Hamburg bei einem computerisierten »Herdbuch« mit, in dem die Daten aller Zuchtrinder erfasst werden. Verheiratet ist er mit einer Deutschen und hat mit ihr dreizehnjährige Zwillinge – von dieser Familie erfährt man wenig, denn als die Handlung einsetzt, überschreitet Kuba schon die Grenze nach Polen und in die Vergangenheit. Damals, auf der Flucht vor den Sicherheitskräften, ist seine Geliebte Marta ins Eis des Dadaj-Sees eingebrochen und ums Leben gekommen. Er quartiert sich bei seiner alten Tante Ala ein, bei der er aufgewachsen ist, denn sein Vater hatte leider, als das Kind sieben Jahre alt war, die Mutter und deren angeblichen Liebhaber aus rasender Eifersucht erstochen und war dafür ins Zuchthaus gegangen; auch Ala, die Schwester der Mutter, hat bei dieser Gelegenheit (es war ihre eigene Hochzeit) ein Auge eingebüßt. Und noch mehr Gespenster drängen zu: Was hat es mit den nächtlichen Erscheinungen von Maciek auf sich, dem Kindheitsfreund, der doch nach einem misslungenen Bankraub getötet worden sein soll? Welche Rolle hat Janusz, der Bürgermeister, bei Martas Tod gespielt? Ist der steinalte Pfarrer Kaziemierz wirklich ein konvertierter Rabbi aus Litauen und am Ende vielleicht der wahre Vater der schönen Hoteldirektorin Justyna? Und wer oder was befand sich in dem Sarg, den diese mit seiner Hilfe heimlich nachts auf dem Friedhof vergraben hat?
Obwohl das Buch vor lauter Geheimnissen schier platzt, lässt ihr Gemunkel den Leser doch kühl. Das gilt selbst für den Katalysator des aktuellen Romangeschehens, die leidenschaftliche Affäre, die Kuba mit Justyna anfängt; in ihr wähnt er seine Marta zurückgekehrt. Als ausgesprochen lästig muss man die Einschläge von magischem Realismus bezeichnen, zu dem der Autor sich offenbar durch sein slawisches Setting verpflichtet glaubt: Der Dadaj-See selbst wird zum unheimlichen Akteur, ein Gewässer, das eigens zum mystischen Ertrinken gemacht scheint; und das Messer, mit dem der Vater die Mutter erstochen hat und das sich der Sohn zu verschaffen weiß, gibt diesem raunend blutige Ratschläge. Als ob das nicht genug wäre, spricht aus Kuba auch noch sein toter verkümmerter Zwillingsbruder, den man ihm einst aus dem Bauch herausoperierte.
Die Qualitäten des Buchs liegen woanders. Blass bleiben die Hauptfiguren Kuba und Justyna; umso überzeugender geraten die Nebenpersonen in diesem Panorama einer auseinanderdriftenden Gesellschaft: Da stehen auf der einen Seite der bauernschlaue Wendegewinnler Janusz, der den Sprung vom Stasimann zum Lokalpolitiker geschafft hat, oder der lethargisch gewordene frühere Solidarnosc-Rebell Leczek, der jetzt eine Baumschule besitzt und teure Wagen fährt. Und deutlicher noch werden auf der anderen die Verlierer, die so malerisch aussehen, wenn sie in ihren alten Klamotten am Seeufer stehen und angeln. und die doch keine andere Wahl haben, weil sie nur so ihren Familien Protein verschaffen können, mit ihren »kaputten Gesichtern, zerstört vom Wodka und vom Sozialismus, zerstört von den neuen Zeiten, die für sie nichts Erfreuliches gebracht hatten«. Glücklich können sich einige von ihnen noch schätzen, wenn sie Jagdgäste aus Russland oder Deutschland zu führen kriegen, die sie doch verachten als rosa Schweine in grünen Anzügen. Wenn sie wütend werden, fluchen sie ihrem Gegenüber, es möge Jesus Christus von seinem himmlischen Thron auf sie herunterspucken; speziell die Frauen spucken auch gern real. Aber sie können auch reden wie Kronek der Schuster, der ein einziges Mal feine Damenschuhe zu reparieren bekam: »Diese Schuhe waren Sterne. Weiches braunes Leder, und selbst die Sohlen waren aus Leder, und die Riemen so zart wie ein Mädchenschopf« – Kronek, der noch nie eine Orange gegessen hat und solche Sehnsucht danach fühlt, weil ihm gesagt wurde, Orangen schmeckten besser als Wodka und geräucherter Aal zusammen. Die Armut der Leute verschränkt sich überschwänglich mit der Schönheit der Natur und des Menschenwerks, das in diesem Himmelsstrich geruhsam gedeiht und verrottet.
»Die Bewohner der angrenzenden Häuser arbeiteten in ihren buntscheckigen Vorgärten. Man parkte sein Auto am Straßenrand direkt neben den Gleisen, legte sich ein Stück geräucherter Wurst ins aufgeschnittene Brötchen, öffnete ein Bier, warf den Kronkorken aus dem Autofenster ins Gras, nahm den bescheidenen Imbiss zu sich und schaute die blühenden Vorgärten an. Rot, Blau, Violett und Gelb stachen von weitem ins Auge, Rittersporn, Kapuzinerkresse und immer wieder Mohn und Malven und Astern. Mit diesen regenbogenfarbenen Vorgärten endete das Dorf, und hier verfiel eine leer geräumte Lagerhalle aus rotem Ziegelstein, in der einst Baustoffe und Lebensmittel zwischengelagert wurden. Auf einer Wand, für die ankommenden Züge nicht zu übersehen, las man wieder: Czerwonka, unter Abermillionen anderen Bahnhöfen der Milchstraße.«
Es bleibt Artur Becker zu wünschen, dass er für das, was er weiß und kann (und das ist viel) beim nächsten Buch einen entspannteren Rahmen findet.
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