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Die Zeit der Stinte

Frankfurter Neue Presse 11.09.2008

»Peer Gynt« auf Polnisch

Von Marcus Hladek

Artur Beckers Roman »Wodka und Messer – Lied vom Ertrinken« strickt an einer fantastischen Rückkehrergeschichte

Erschienen bei Weissbooks, einer noch frischen Gründung der Suhrkamp-Aussteiger Rainer Weiss und Anya Schutzbach, erzählt das neue Buch Artur Beckers eine wilde Geschichte. Protagonist Kuba Dernicki ist hin- und hergerissen zwischen der ersten und zweiten Heimat, als er nach Jahren in Deutschland, wo er als »virtueller Metzger« bei einer Datenbank arbeitet, seiner Familie den Rücken kehrt und urlaubsweise nach Polen geht. Schon Beckers Romandebüt »Der Dadajsee« spielte in Ostpreußen und wies autobiografische Züge auf; beides wiederholt sich in »Wodka und Messer«. Wieder zieht es Kuba an den Dadajsee und damit in dieselbe Gegend, die er einst, als flüchtiger Solidarnosc-Unterstützer und wegen des Todes seiner Freundin Marta, hatte verlassen müssen. Vom Danzig eines Günter Grass oder dem Masuren Siegfried Lenz’ hat sein Provinzgemälde trotz der regionalen Nähe herzlich wenig.

Auf die abschließende Explosion eines Motorbootes mit mehreren Todesopfern wird es, nach fast 500 Seiten, schon nicht mehr ankommen, so wenig wie auf die Handlungsfäden, in die sich der unentwegt wachsende Sog alter Erinnerungen bis dahin hüllt. Was zählt, ist vielmehr dreierlei: die Macht der Toten über die Lebenden; die driftenden Charaktere; und eine fantastische Atmosphäre, die als unwirklich nur unzureichend beschrieben wäre. Schon Kuba ist nicht bloß Kuba, sondern heißt auch »Zweibauchnabel« – nach der Operationsnarbe, die von seinem toten Zwilling Kopernik blieb, nachdem der tote Embryo in seinem Bauch entdeckt und entfernt worden war. Mitunter leiht Kuba dem Brüderchen noch seine Bauchrednerstimme. Kubas tote Freundin Marta, Bonzentochter und »Solidarnosc«-Anhängerin zugleich, lebt in der Doppelgängerin Justyna fort, der Hotelchefin, die Kubas Geliebte wird. Wichtig sind weiter der Wendehals-Bürgermeister Król, ein Ex-Stasioffizier mit gekaufter weißer Weste; der alte Pfarrer und Heiler-Nekromant Kazimierz, der sich als ehemaliger Rabbi entpuppt und die polnische Spielart von Katholizismus vertritt; Kubas Vater, der dessen Mutter umbrachte und nur in der dritten Person von sich spricht; und andere erratische Gestalten mehr. Eine »Figur« von eigener, manchmal aufdringlicher Präsenz ist die ständige Erwähnung von Keith Jarretts »Sun-Bear-Konzerten«.

Beckers »magischer Realismus« von dunkel-romantischen Zügen bereitet nach bewältigtem Einstieg viel Vergnügen. Beckers Animismus der sprechenden Seen und mörderischen Messer reflektiert vielleicht etwas vom Heidentum der alten Vor-Pruzzen-Zeit. Halbirre Existenzen und Visionen, ein »schwarzer Bus« ins Niemandsland und das mystische Land »Ulro«, das – von Blake und Milosz her – unsere höllenhaft-materielle Welt meint, fügen sich zu einem Bild bröckelnder Realität und machen Kubas Aufenthalt trotz handfester Sexszenen zum Abstieg in Märchenwelten à la »Peer Gynt«. An Kafka ist da weniger zu denken als an eine Fantastik zwischen Paul Scheerbart und Philip K. Dick. Anflüge von lehrhaftem Ton und sprachlicher Unsicherheit schmälern das Lesevergnügen nur ganz unwesentlich.

Artur Becker: »Wodka und Messer – Lied vom Ertrinken«. Weissbooks-Verlag, Frankfurt. 474 S., 22 Euro.

© 2008 Frankfurter Neue Presse

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