Wer zwischen den Welten lebt, ist am Bahnhof gut aufgehoben. Und genau dort lebt der Schriftsteller Artur Becker. Nicht etwa in Berlin, Hamburg oder Bremen. Wer großes Glück hat, trifft ihn bei sich daheim in Verden an, mit einer Tasse italienischem Kaffee am Schreibtisch in seiner Altbauwohnung sitzend, schreibend. Direkt vor seiner Haustür kurven Busse um den ZOB, warten Taxis auf Reisende, eilen Menschen mit Trolleys die Treppen hoch in die unscheinbare Empfangshalle.
Artur Becker wohnt nicht ohne Grund in dieser Straße. Von hier aus kann er dem idyllischen Städtchen an der Aller jederzeit schnell in die Welt enteilen, in die ganze Bundesrepublik oder seine Heimat in den Masuren. Und zwischen der Frankfurter Buchmesse und einer Lesung in Hannover erwischt man ihn an diesem feucht-kalten Herbsttag. "Immer diese Frage", sagt der Schriftsteller. "Warum leben Sie eigentlich in Verden?", lautete sie. "Ich würde am liebsten in Venedig wohnen, das ist ein Traum. Aber nach Berlin oder Frankfurt ziehen – das bringt nichts", meint der 48-Jährige. Seine Hand, geschmückt von einem opulenten Ring, führt seine Zigarette an die Lippen.
Artur Beckers Schreibtisch steht inmitten literarischer Erzeugnisse in gedruckter Form, deren Umfang den der Regal-Kapazitäten längst überschritten hat. Die Platte "Kind of Blue" von Miles Davis lehnt vor einer Buchreihe. In dieser Wohnung ist auch das jüngste Werk des deutsch-polnischen Autors mit dem Titel "Kosmopolen" entstanden, in diesem Jahr ist es erschienen. Becker schreibt unter anderem für die Frankfurter Rundschau und den Rheinischen Merkur, die Liste seiner Bücher, die mit Preisen und Stipendien gewürdigt wurden, kann sich sehen lassen, darunter von der Deutsch-Polnischen Gesellschaft, der Robert Bosch Stiftung oder der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Seine bisher größte Auszeichnung? Becker sagt, die Stipendien für Auslandsaufenthalte, zum Beispiel in Venedig, hätten ihn weitergebracht, und dann holt er noch ein Reclam-Heft mit Gedichten über Italien aus dem Regal, schlägt eine Seite in der Mitte auf: "Da steht eines meiner Gedichte – zwischen Goethe und Rilke", und der Stolz schwingt in seiner Stimme mit. Es seien oft die kleineren Sachen, die einem etwas bedeuteten.
Artur Becker ist Pole, Deutscher, Verdener, Bremer, Europäer – ein Kosmopole eben. Und er ist in gewisser Weise besessen. "Wie eigentlich jeder Schriftsteller", meint er. Autoren müssten einfach schreiben, unabhängig davon, ob es hinterher jemand liest. Sein Herzblut gibt er für die Vermittlung des deutsch-polnischen Verständnisses.
"Wir haben zwei verschiedene historische Perspektiven, obwohl wir Europäer sind", bemängelt er. Es habe sich schon vieles verändert, in den vergangenen Jahren. "Polen sind auf eine Art und Weise unsichtbar" sagt er und meint damit, dass in allen beruflichen Bereichen Polen integriert sind, und hierzulande nicht unbedingt als solche auffallen.
Trotzdem gilt für ihn auch noch heute: Die Deutschen und die Polen wissen zu wenig voneinander. Und das will der Autor, der 1985 mit seinen Eltern nach Deutschland kam, in Verden das Domgymnasium besuchte und später in Bremen die Kulturgeschichte Osteuropas und deutsche Literatur- und Sprachwissenschaft studierte, ändern.
In seinem Wohnzimmer hängt, eingerahmt, eine Schwarz-Weiß-Fotografie von Zbigniew Cybulski. Wer? "Da fängt es schon an", entfährt es Becker: "Das ist der polnische James Dean!"
Als er nach Verden kam, hätten dort nicht viele Ausländer gelebt – "zweieinhalb Polen und drei Menschen aus Sri Lanka" – sagt Becker trocken. Es sei eine Zeit gewesen, in der man viel mehr aufgefallen sei als heute. Auch in "Kosmopolen" spielt Verden eine zentrale Rolle. Der Essay "Vom Weltenbrand, den wir jeden Tag löschen" erzählt, worum es bei unserer Identitätssuche geht.
Er beginnt mit der Kindheit des Autors in Polen, in der er Feuerwehrmann spielte, und loszog, um große Brände zu löschen. "Aus meiner Absicht, einmal ein polnischer Dichter aus Morena zu werden, ist ein deutscher Traum in Verden an der Aller geworden", heißt es dort. Kosmopolen ist für ihn ein Land, in dem Reisepässe keine Rolle spielen, eine Heimat für freiheitlich denkende Geister. Schon als Kind, bevor er wusste, dass er einmal nach Deutschland auswandern würde, sei er ein Fremdling in der Welt gewesen, schreibt Becker. Mit 15 fing er an, Gedichte zu schreiben, schon damals auf der Suche nach seiner Identität.
In seiner zweiten Heimat Verden tritt er als Schriftsteller nur wenig in Erscheinung, seine letzte Lesung hielt er vor Jahren. Den Grund dafür kann er sich selbst nicht genau erklären. "Aber dadurch, dass ich so viel unterwegs bin, erfahren die Leute auch viel über Verden", sagt der Mann mit den gelockten grauen Haaren.
Einen Roman über Verden, meint er, will er in den kommenden zehn Jahren noch schreiben. "Verden heißt im Skandinavischen ,die Welt', das sehe ich auch symbolisch", sagt er.
Sein Verleger wartet allerdings zunächst auf ein anderes Werk in der Pipeline des Autors, das Artur Becker in den kommenden Wochen fertigstellen muss. Es fehlen noch 50 Seiten. Bis Mitternacht wird er an diesem Tag wohl noch daran sitzen. Hier, an seinem Schreibtisch in Verden, irgendwo zwischen den Welten.
"Nach Berlin oder Frankfurt ziehen – das bringt nichts". Artur Becker
©Weser Kurier / Verdener Nachrichten