Home
Prosa
Lyrik
Presse
Links
Varia
Galerie
Vita
Kontakt

Badische Zeitung, 13. Juli 2016

Gegen die aufkommenden Nationalismen dieser Zeit

Die interkulturelle Freiburger Literaturfestival "Fahrtenschreiber"

Von Stefan Tolksdorf

"Sie können froh sein, dass es so etwas in Ihrer Stadt gibt", lobte die Literaturkritikerin Insa Wilke am Ende das "Fahrtenschreiber"-Festival. Voller Esprit hatte sie zuvor mit dem deutsch-irakischen Autor Abbas Khider diskutiert, dessen Lesereise zu seinem polarisierenden Roman "Die Ohrfeige" in Freiburg zu Ende ging. Anders als im Osten der Republik, wo sich das Publikum zu schrillen Schreien und handfesten Drohungen herausgefordert sah, goutierten die Besucher im Freiburger Marienbad – Koordinationspartner des Literaturbüros bei der zweitägigen interkulturellen Veranstaltungsreihe – die Strategie des subversiven Humors mit lang anhaltendem Applaus.

Die Absicht des Autors: Fernab aller "Bewältigungsprosa" beispielhaft aufzuzeigen, was ein zermürbender Verwaltungsakt aus Menschen machen kann, die auch im Exil keine Sicherheit erfahren. Khider, seit siebzehn Jahren in Deutschland und im Irak Folteropfer, weiß, wovon er spricht: In seinem früheren Wohnort Passau kenne er nach zahllosen Kontrollen inzwischen jeden Polizisten. Zwischen Wut und Verzweiflung hat er sich für die befreiende (zuweilen bittere) Ironie entschieden. Wie viel Lebens- und Leiderfahrung seinen Sätzen innewohnt, ist bei aller Lockerheit des Auftritts immer wieder zu spüren.
Dem Tamilen Senthuran Varatharajah, der als Kleinkind nach Deutschland kam, ist dieser humorvolle Ton so fremd wie die Wut. "Wer denkt, hat Wut sublimiert", zitiert der studierte Philosoph Adorno. Und noch einmal, als es um die "Intimität der Körperlosigkeit" geht. Als klaglosen "Ton der Resignation" lobten die Feuilletons das 2014 beim Klagenfurter Wettlesen mit dem 3sat-Preis ausgezeichnete Romandebüt "Von der Zunahme der Zeichen", in dem sich Sprach-, Erkenntnis- und Erinnerungsskepsis ausdrücken. Auf jeden Fall ein ungewohnter Ton, der aufmerken lässt. Wie auch die Form: ein Chatformat, das die Distanz zum Gegenstand festschreibt: "Am Anfang war der Tod, dann erst kamen die Worte". Die existentielle Melancholie dieses Autors und die konzentrierte Art seines Vortrags machen neugierig, ob die Lektüre dem Höreindruck standhält.

Weitere Höhepunkte waren die Beiträge von Artur Becker, der sich selbst einen "polnischen Autor deutscher Sprache" nennt und der deutsch-kroatischen Autorin Marica Bodrožic. In seinem faszinierenden Essay-Band "Kosmopolen" entwickelt Becker eine kritische Utopie gegen die aufkeimenden Nationalismen unserer Tage. Das allseits eingeforderte "neue Narrativ" für das vereinte Europa – bei diesem "Poeta doctus" könnte es Anleihen nehmen. Es geht um Werte: den Vorrang der Ethik vor der Loyalität etwa und – natürlich – um die Sprache: um ihren Missbrauch ("Sprachreinigung geht der ethnischen Säuberung voraus") und die Möglichkeit, sich gerade in der Distanz zur Muttersprache seinen Wurzeln anzunähern. Vor allem aber um die Frage: "In welchem geistigen Land möchten wir leben?" Man müsse versuchen, jenseits aller Projektionen, zur weißen Leinwand zurückzukehren, umschreibt die hochsensible Erzählerin Marica Bodrožic ihre poetische Vision vom "weißen Frieden": stete Verwandlung anstelle von Fixierung, Individualismus anstelle von kollektiv verordneten Denkmustern. Beide Autoren präsentierten sich glaubhaft als Bürger eines anderen, inneren Landes, zu dessen Wegbereitern sie etwa Martin Buber, Elias Canetti, Simone Weil oder Hilde Domin zählen.

Wie schrieb die Lyrikerin: "Da wo ich fremd bin, ist meine Heimat!" Vieles noch wäre erwähnenswert: die Inspiration durch die Fremdsprache, am Beispiel der aus der Sprachflut von Deutsch und Englisch ins virtuose Zwischenreich der "Lengewitch" flüchtenden Uljana Wolf, die Versuche des Hausacher Lyrikers José Oliver, sich aus der Umklammerung durch das Klischee vom "mediterranen Autor" zu befreien, die erstaunlich ausgereifte Prosa der jungen Deutsch-Iranerin Shida Bazyar. Sehr gelungen auch die über Workshops, Gruppenrezitation und Moderationen realisierte Zusammenarbeit mit der Universität Freiburg und den Schauspielern im Marienbad. Eine Sternstunde.


 

 

[Aktuell] [Prosa] [Lyrik] [Presse] [Links] [Varia] [Galerie] [Vita] [Kontakt]

Copyright © 2017 Artur Becker
Alle Rechte vorbehalten. All Rights reserved