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Dresdner Neueste Nachrichten, 22.05.2015

Wie ein Narkotikum

Von Michael G. Fritz

Der deutsch-polnische Schriftsteller Artur Becker verlässt im Gegensatz zu seinen großen, viel gelobten Romanen der letzten Jahre „Der Lippenstift meiner Mutter“ und „Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang“ mit der jüngst erschienenen Novelle seine Doppelheimat, Masuren und Verden an der Aller. Der Schauplatz ist nun Venedig im Dezember 1981: Der sechsunddreißigjährige polnische Dichter Andrzej hat endlich ein Visum erhalten. Er besucht seinen älteren Freund Jacek, einen erfolgreichen, im Exil lebenden Komponisten, dessen Tochter Lidia Andrzej von Anfang an in ihren Bann zieht. Die  selbstbewusste junge Frau, angereist aus London, arbeitet als TV-Moderatorin und Journalistin. Die beiden werden ein Liebespaar, aber Andrzej ist verheiratet und Vater eines kleinen Sohnes. Zuspitzung erhält die Konstellation dadurch, dass ausgerechnet in diesen Tagen General Jaruzelski über Polen das Kriegsrecht verhängt. Lidia bedrängt Andrzej, Asyl zu beantragen und für immer mit ihr im Westen zu bleiben. Auch seine Frau warnt ihn davor, jetzt zurückzukehren: Regime-kritische Intellektuelle würden verfolgt und in Lager gesteckt.
Auf der einen Seite treibt ihn die Sehnsucht nach seiner Familie und sein Land um, andererseits liebt er die weltläufige Lidia mit ihrer Leidenschaft und jugendlichen Unbekümmertheit, liebt die Freiheit und Venedig. Der Zauber der Stadt verbindet sich mit dem seiner Geliebten zu einem umwerfenden Ereignis, das wie ein Narkotikum auf ihn wirkt, der bis dahin glaubte, sich nicht wieder verlieben zu können. Während er mit ihr in einem Hotelzimmer schläft, in Cafés sitzt, durch das Gewirr der Gassen streift, stellt er das Verhältnis zu seiner Frau in Frage. Wenn er nicht nach Hause kommen sollte, was sagt er später seinem Sohn? Alles kann er nicht auf den finsteren General schieben. Unterdessen läuft unbarmherzig die Uhr.
Artur Becker ist ein grandioser Erzähler, der mit Charakteren, die dem Leser nachdrücklich in Erinnerung bleiben, den Spannungsbogen virtuos aufrechtzuerhalten weiß. Bei aller Zerrissenheit des Helden besitzt die Novelle eine erfrischende Leichtigkeit. E scheint, als säße man in der Sonne auf dem quicklebendigen Campo Santa Margherita und ließe sich diese Geschichte beim Sprizz erzählen.

Becker setzt gekonnt auf die magische Bedeutung von Zahlen. Lidia ist stolze dreizehn Jahr jünger als er – handelt es sich um eine Glückszahl oder verheißt sie Pech? Sieben Tage bleiben ihm in Venedig. Im Katholizismus gibt es, abgesehen von den Sakramenten gleicher Zahl, sieben Tugenden und sieben Laster. Wie muss Andrzejs Verhalten gewertet werden? Becker, der ernsthaft meint, polnische Literatur auf Deutsch zu schreiben, gelingt ein Kabinettstück über die Liebe in den Zeiten des Kriegsrechts. Der Prosaautor, Epiker, Essayist und Lyriker, 1968 in Bartoszyce (Bartenstein) geboren, lebt seit 1985 in Deutschland.


 

 

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