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Rezension

Immaculata Amodeo / Heidrun Hörner (Hg.). Zu Hause in der Welt. Topographien grenzüber- schreitender Literatur. «

Sulzbach/Taunus (Ulrike Helmer Verlag) 2010. 20, 00 €,  230 S. ISBN 978-3-89741-308-5.

Von Wolfgang Schlott

»Die Literatur ist im Zeitalter der Migrationen global und lokal zugleich.« (S. 11) Mit dieser These verfolgen die Veranstalterinnen der seit 2007 in Bremen und Bremerhaven stattfindenden Globale – Festival für grenzüberschreitende Literatur einen sicherlich nicht neuen Ansatz einer transnationalen Literaturförderung. Es sind vielmehr die manifestierten Erfahrungen vieler SchriftstellerInnen, die eine solche Einsicht befördert haben. Sie verließen in den vergangenen vierzig Jahren ihre sprachliche Heimat, und haben sich in diesem Zeitraum in Deutschland niedergelassen. Ausgestattet mit oft mehreren Sprachen, bilden sie in der Zwischenzeit ein beträchtliches literarisches Potenzial unseres mediengesteuerten belletristischen Marktes. Der Anstoß zur Etablierung des Festivals geht sicherlich auch auf literaturwissenschaftliche Erkenntnisse zurück, dass grenzüberschreitende literarische Prozesse sich immer mehr aus dem Korsett von Nationalliteraturen befreien. Doch entgegen den Vermutungen, dass sich eine nomadisierende Literatur herausgebildet habe, zeichneten sich nach Ansicht der Herausgeberinnen nunmehr Topographien ab, in denen sich bestimmte Sujets, Stoffe und poetische Metaphern ansiedeln. Nicht ein diffuses Vakuum, bestehend aus vagen erzählerischen und dichterischen Elementen sei in den vergangenen Jahrzehnten auf diese Weise entstanden, sondern eine eindrucksstarke und faszinierende topographische Plastizität habe sich entfaltet. Unabhängig davon, ob sie sich auf globale und örtliche Gegebenheiten beziehen, zeichneten sie sich durch die präzise Beschreibung örtlicher Details aus.
Hervorzuheben ist, dass die aus China, Südamerika, Vorderasien, aus ost- und südosteuropäischen Ländern oder der Türkei stammenden Autoren ihre kulturellen Erfahrungen und sprachlichen Eigenheiten nach Deutschland mitbringen und sie in Texten verarbeiten, die ein wachsendes Interesse unserer literarischen Öffentlichkeit erwecken. Daran anknüpfend möchte das Festival auch eine integrative Aufgabe erfüllen, wie Libuše Černá von Radio Bremen, eine der Veranstalterinnen, in ihrem Vorwort betont. Es gehe um die aktive Teilnahme von Kindern und Jugendlichen aus dem vielschichtigen Migrationsmilieu an der globale, weil renommierte deutsch-italienische, deutsch-polnische, deutsch-türkische oder deutsch-iranische SchriftstellerInnen für eine erfolgreiche kulturelle und berufliche Integration Pate stehen würden.
Die Publikation ist in vier große Abschnitte gegliedert: Literatur – Orte; Worte –Welten, Sprachen –Heimaten – Texte und Autorenporträts. Diese lockere, leserfreundliche Aufteilung ermöglicht eine schnelle Orientierung in der Vielzahl von Themen, die sich der grenzüberschreitenden Literatur widmen. Die zwölf an der globale  beteiligten SchriftstellerInnen geben in den einzelnen Textabschnitten Auskünfte über ihre schriftstellerischen Aktivitäten und bewerten Aspekte des sich gegenwärtigen abzeichnenden Integrationsprozesses in ihrem neuen Zuhause. Ihre Argumente für eine Bereicherung der deutschen Kultur auf der Grundlage ihrer Erfahrungen bilden den Kern aller Ausführungen. Auf diese Weise entfaltet sich ein intensiver Dialog zwischen Herausgeberinnen und ihren Festivalgästen, an dem vor allem LeserInnen mit Migrationshintergründen interessiert sein sollten. Ein Beispiel mag das belegen. Artur Becker, ein aus der nordpolnischen Region stammender, seit 1985 in Deutschland lebender Autor, spricht von dem unwirklichen Leben, das Emigranten in der Fremde führen, und verweist auf die Figur des Kuba Dernicki aus seinem Roman »Wodka und Messer. Lied vom Ertrinken«. Er habe große Identitätsprobleme und sei auf der Suche nach einem sinnträchtigen, neuen Zuhause.
Für den 1947 in Teheran geborenen renommierten Lyriker und Prosaautor SAID, der seit 1965 – mit einem Zwischenaufenthalt 1979 im Iran – in Deutschland lebt, gibt es allerdings eine enge Verbindung zwischen dem Zuhausesein in Deutschland und seiner persischen Heimat, mit der er stets einen engen psychischen Kontakt pflegt. Diese Koppelung von literarischen und psycho-emotionalen Elementen führt im deutschsprachigen Werk von SAID zu einer semantischen Bereicherung der Zielsprache. Von einer ähnlichen Verbindung zwischen (politisch) unzugänglicher Heimat und dem freiwilligen Exil in Bremen spricht auch der Verleger Madjit Mohit, der 1996 den Sujet-Verlag in Bremen gründete, in dem er sowohl iranische als auch deutsche Autoren verlegt. Diese Einbeziehung von Verlegern und Publizisten in das Literaturprogramm der globale gehört ebenso wie die Veranstaltung von Seminaren mit Autoren und Studenten an der Jacobs University zu den besonders lobenswerten Bestandteilen des Festivals. Deshalb bildete auch die Auftaktveranstaltung zu Ehren der kürzlich in Prag verstorbenen, letzten deutschsprachigen Schriftstellerin Lenka Reinerová einen besonderen Höhepunkt. František Černý, Mit-Gründer des Prager Literaturhauses und Botschafter der Tschechischen Republik in Deutschland zwischen 1998 und 2001, lieferte einen anschaulich-lebendigen Beitrag zu Leben und Werk einer Persönlichkeit, die sowohl unter dem nationalsozialistischen Terrorregime in Prag als auch unter der kommunistischen Diktatur gelitten und Widerstand geleistet hat.
Auch die anderen Gesprächsteilnehmer, Mitgestalter der globale, offenbaren  aufgrund ihrer Biografien und ihrer auf Deutsch geschriebenen Romane und Lyrikbände einen Erfahrungsschatz, der in dem vorliegenden Band mit neun Titelporträts in vielen Passagen aufscheint. Maria Cecilia Barbetta (»Änderungsschneiderei Los Milagros«), aus Argentinien stammend, lebt seit 1996 in Deutschland, erzählt von ihrer Lust an der fremden Sprache. Die 1963 in Gao’on im Südosten Chinas geborene Lingyuan Luo und seit 1990 in Deutschland lebende Journalistin und erfolgreiche Romanautorin (»Die chinesische Delegation«, berichtet am Beispiel ihres Romans »Wie eine Chinesin schwanger wird«, 2009, dtv-München) über die Eigenarten chinesischer Familienkultur. Yade Kara, 1965 in der Türkei geboren, verkörpert die emanzipierte türkisch-deutsche Autorin, die in dem Berliner Milieu ihre Romane (zuletzt Cafe Cyprus) ansiedelt. Alina Bronsky, 1978 in Swerdlowsk geboren, gibt Einblicke in ihre Schreibwerkstatt mit der Entstehung einer Figur aus »Scherbenpark« (2008); Jaroslav Rudis, 1972 in Turnov (CSSR) geboren, der mit »Grandhotel« (2008) sich auf dem deutschsprachigen Literaturmarkt platziert hat, entwickelt an seiner Figur Fleischman europäisches Selbstverständnis und José J.F. Oliver, Sohn eines Einwanderers aus Andalusien, hat sich mit zahlreichen Lyrikbänden, Essays und Chroniken als Stadtschreiber ein literarisches Renommee verschafft, das in zahlreichen Preisen seinen Ausdruck findet.
Und John Giorno? Er stammt aus einer italo-amerikanischen Familie, und erfüllt in doppelter Hinsicht die Kriterien einer »alternativen« Literatur. Er sprengt die Poesie-Gattungen auf und erweist sich im US-amerikanischen Literaturbetrieb als eine Persönlichkeit, die auch in sprachlicher Hinsicht jegliche Grenzen überschreitet.

Mit diesem Ausblick auf den globalen Literaturbetrieb betreten die Herausgeberinnen und Gestalter des spannenden Beitrags zu einem sich revolutionierenden Literaturbetrieb ein neues Terrain. Auf ihm lösen sich tradierte Begriffe auf und die Akteure übernehmen andere Funktionen. Sie vermitteln zwischen den Kulturen und ihrem Publikum, das in Grenzen überschreitender Literatur und ihren verunsicherten Protagonisten einen heimischen Platz finden könnte. Auf jeden Fall erhalten die Leser des vorliegenden stilistisch überzeugenden und gut gestalteten Bandes zahlreiche Anregungen, die nicht nur den Literaturvermittlungs-Agenturen in diesem Lande zugute kommen.

 

 

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