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Neue Züricher Zeitung, 27.11.2010

»Seine Finger schlugen rasend die Tasten, die Materie«

Alte Andacht und neue Lässigkeit – Frédéric Chopin in den Augen polnischer Schriftsteller
Romane, Novellen, Gedichte, Essays und als Letztes ein Serien-Thriller – es gibt kaum ein literarisches Genre, in dem sich die Schriftsteller der Welt nicht mit dem polnischen Musikgenie Frédéric Chopin auseinander- gesetzt hätten. Nirgendwo hat man dies aber so oft und so leidenschaftlich getan wie in seiner Heimat.

Von Marta Kijowska

Es gibt bekanntlich viele Mythen, die sich anfangs um Frédéric Chopin rankten und erst im Laufe der Jahre entschärft wurden. Einer von ihnen besagt, der Musiker sei ein so großer Patriot gewesen, dass er angeordnet habe, nach seinem Tod sein Herz nach Polen zu bringen. Man habe es also dahin gebracht und pietätvoll in der Heilig-Kreuz-Kirche zu Warschau eingemauert. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Der Grund für Chopins Bitte war nicht der Patriotismus, sondern die Angst, lebendig begraben zu werden – deshalb habe er seinen Leichnam öffnen und sein Herz entfernen lassen. Und dieses wurde von seiner Schwester zwei Jahre lang in einem Glas aufbewahrt, bevor es in die besagte Kirche fand.
Solche Richtigstellungen verdankt man aber meistens den Biografen, nicht den Schriftstellern. Und schon gar nicht den polnischen: Zwar hat sich bereits der eine oder andere Zeitgenosse an eine erste Verewigung des Meisters gewagt, doch – ganz anders als George Sand, die in ihrem autobiografischen Roman »Lucrezia Floriani« mit dem langjährigen Lebensgefährten alles andere als zimperlich umging – immer aus der Position des Bewunderers und Dieners. Etwa der exzentrische Cyprian Kamil Norwid, der heute in einem Atemzug mit Adam Mickiewicz, Juliusz Slowacki und Zygmunt Krasinski als das dichterische Viergestirn der polnischen Romantik genannt wird, die ihm gebührende Anerkennung aber erst postum fand.

Gedichte mit Ausrufezeichen
Cyprian Kamil Norwid lernte Frédéric Chopin in dessen Todesjahr 1849 kennen, doch trotz der kurzen Bekanntschaft war er von ihm, seiner Persönlichkeit und seinem Talent so fasziniert, dass er ihm gleich mehrere Werke widmete. Allen voran das vielzitierte Gedicht »Chopins Klavier«, in dem er seine persönliche Begegnung mit dem Musiker festhielt (»Ich war bei Dir an diesen vorletzten Tagen . . .«), das er allerdings erst Jahre später, nach der Zerstörung des Warschauer Zamoyski- Palais, verfasste: Am 19. September 1863 wurde vor diesem Palais ein Attentat auf den zaristischen Statthalter Fjodor Berg verübt, und die russischen Soldaten steckten es zur Vergeltung in Brand. Dabei wurde ein massives Klavier, auf dem auch Chopin gespielt hatte, auf die Straße geworfen. Norwids dichterischer Stil, die unregelmäßigen Reime, die abrupt abbrechenden Zeilen, die vielen Ausrufezeichen, machten aus dem Zwischenfall ein kaum zu fassendes Sakrileg.
Die Auftaktzeile von Norwids Gedicht griff übrigens Jahre später der Prosaschriftsteller Kazimierz Brandys auf, indem er eine seiner beiden Chopin gewidmeten Filmnovellen »An diesen vorletzten Tagen« nannte. Die andere hiess »Maestro«, und beide zusammen entstanden im Jahre 1973 im Auftrag der von Andrzej Wajda geleiteten Filmgesellschaft »X«: Sie sollten die Vorlage für eine Fernsehserie bilden und von mehreren Drehbuchautoren und Regisseuren umgesetzt werden. »Ich nahm diesen Auftrag nicht ohne Zögern an«, notierte Brandys später, »denn das Unternehmen erschien mir äußerst schwierig. Chopin als Held einer Fernsehserie? Seine Gestalt war ja so vornehm, seine Biografie ausgefüllt mit Musik, Krankheit und gesellschaftlichem Leben, aber doch nicht mit Abenteuern. (. . .) Eigentlich war die Beziehung zu George Sand die einzige Geschichte in seinem Leben, in der es richtige Rollen und Motive gab, und dazu noch eine Intrige und einen geheimnisvollen Schluss.«

Trennung und Tod
Diesen Schluss eben, genauer: die Zeit nach dem Bruch mit George Sand und dem Verlassen von Nohant machte Brandys zur Handlungszeit seiner beiden Filmnovellen: »Maestro« spielt knapp ein Jahr nach der Trennung der beiden, als Chopins Alltag zunehmend von Krankheit und Einsamkeit geprägt ist. »An diesen vorletzten Tagen« schildert die letzten Monate seines Lebens und schließlich seinen Tod: In seiner Wohnung an der Place Vendôme versammeln sich seine französischen und polnischen Freunde, an seinem Bett knien die Schwester Ludwika und George Sands Tochter, Solange. »Sag der Mutter«, flüstert der Sterbende, »dass die Schuld bei uns beiden lag. (. . .) Oder bei keinem . . .« Kein guter Stoff für eine unterhaltsame Fernsehserie, doch sie wurde tatsächlich gedreht.

Psychologisierungsversuche
Brandys' Novellen sind insofern heute noch lesenswert, als es ihm gelang, sie auch als kleine Charakterstudien anzulegen. Die anderen literarischen Auseinandersetzungen mit Chopin – vor allem die der unzähligen polnischen Dichter, von Norwid über Julian Przybos bis Jaroslaw Marek Rymkiewicz – fielen meist, wie gesagt, als allgemeine Huldigungen aus oder griffen nur ein Detail auf, ohne ein Psychogramm des Komponisten liefern zu wollen. Da eine biografische Episode, dort eine topografische Assoziation – wie in Adam Zagajewskis Gedicht »Square d'Orléans«: »Hier hatte Chopin einst gewohnt. Seine Finger / schlugen rasend die Tasten, die Materie. / Einst war hier heftige Poesie zu Hause.« Und wenn jemand wie Stanislaw Przybyszewski, das Enfant terrible der Fin-de-Siècle-Zeit, eine Studie über »Chopin und Nietzsche« verfasste, sie mit »Zur Psychologie des Individuums« überschrieb und nebenbei, während er es auf Deutsch tat, diese Sprache ein wenig »chopinisierte« (Richard Dehmel), dann erreichte er damit nur einen kleinen, erlesenen Kreis.
Oder, was nicht minder unerfreulich war, diese Psychologisierungsversuche wurden zwar von einem breiteren Publikum registriert, gingen aber voll daneben. So Jaroslaw Iwaszkiewicz' einst oft gespieltes Theaterstück »Ein Sommer in Nohant«, ein Dreiakter von 1949, den er als Komödie deklarierte und der dem Titel gemäss in George Sands Haus in Nohant spielt, wo Frédéric Chopin jahrelang die Sommermonate verbrachte und viele seiner Werke komponierte. Und er spielt in jenem Sommer 1846, in dem das ungleiche Paar sich längst auseinandergelebt hat und Chopin einen zaghaften Versuch unternimmt, Nohant für immer zu verlassen. Doch das tut er erst zum Schluss, bis dahin ist er, der die meiste Handlungszeit nörgelnd und klimpernd in einem Hinterzimmer verbracht hat, längst zu einem weltfremden Sonderling mit leicht homosexueller Ausstrahlung verkommen (was wohl eher auf den Autor als auf seinen Protagonisten zutraf).

Neue Unbefangenheit
Erst in letzter Zeit scheinen die polnischen Literaten sich von allen Anbetungs- oder Interpretationszwängen befreit zu haben und mit Frédéric Chopin mit derselben Lässigkeit umzugehen, mit der auch etliche Musiker demonstrieren, dass man seine Werke spielen kann, ohne jede Note mit andächtiger Exaktheit wiederzugeben. Allen voran die betagte Literaturnobel- preisträgerin Wislawa Szymborska, die bei guter Laune bravouröse Chopin-Limericks verfasst, und ihr Privatsekretär Michal Rusinek, der in seinem in zehn Sprachen übersetzten Kinderbuch »Mein kleiner Chopin« den jüngsten Lesern eine hochmoderne Einführung in dessen Werk gibt: »Ein Rondo ist dem Lied ganz ähnlich, / nicht wie der Rap, weil ohne Worte, / doch ein Refrain ist raus zu hören, / spielt man es piano oder forte.«
Oder auch Artur Becker, der nicht nur einem seiner Protagonisten den Spitznamen Chopin verpasst hat, sondern diesen auch noch als Folge einer gewöhnlichen Prügelei erklärt: »Hey! Du siehst so stinkgeil aus wie der Chopin nach seinen Konzerten!«, ruft dem Haupthelden ein Kumpel zu. Ob Chopin je »stinkgeil« ausgesehen hat, werden wir wohl auch in diesem Jubiläumsjahr nicht erfahren. Doch das ist zweitrangig. Wichtig ist, dass Artur Becker sich die schriftstellerische Freiheit genommen hat, dem großen Musiker ein sehr eigenes, masurisch-draufgängerisches Denkmal zu setzen. Und seinen Roman gleich dazu »Das Herz von Chopin« zu nennen.

 

 

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