Er bewahrt Erfahrungen und Erinnerungsbilder aus Polen und benutzt dafür die deutsche Sprache. 1985 als Spätaussiedler nach Deutschland gekommen, ist Artur Becker heute ein vielfach preisgekrönter Autor.
Erinnerungen an Masuren
Der Autor in seinem ArbeitszimmerBildunterschrift: Großansicht des Bildes mit der Bildunterschrift: Der Autor in seinem ArbeitszimmerDort sitzt der kleine kompakte Mann in seinem mit Büchern, Schallplatten und CDs voll gewucherten Arbeitszimmer. Die halblangen Haare hinter die Ohren geklemmt, mal eine Kaffeetasse, mal eine Selbstgedrehte in der Hand. An den Wänden Fotos, Skizzen und Heiligenbilder und zwischen Balkontür und Schreibtisch wie eine Mahnung an die Fitness ein Heimtrainer. In diesem sympathisch chaotischen Raum entstehen seine Bücher, in denen er die Leser oft in die Vergangenheit führt, zu Menschen, die in der Volkrepublik Polen, in Masuren leben und lieben. So wie auch Artur Becker dort einst gelebt und geliebt hat. »Ich muss das machen, was teilweise auch Siegfried Lenz gemacht hat, der aus Masuren stammt, nämlich Figuren einen Raum geben, die sonst nie erzählt werden«, sagt Becker und nennt das »seine Hausaufgaben machen«. Ähnlich wie ein Archäologe will er Erfahrungen und Erinnerungsbilder bewahren, die sonst verloren gehen würden. Aber nur die Literatur vermag Geschichte und Mentalitätsgeschichte lebendig zu halten. Jeder Schriftsteller verfüge über dieses spezifische, nur ihm zugängliche Material, glaubt Artur Becker, und diesen Materialschatz zu heben, gehöre zu seinen Hausaufgaben. Es ist ein hoher Anspruch, den er formuliert.
Erzählsprache Deutsch
Es war eine Herausforderung für ihn, die Sprache zu wechseln, ein schmerzhafter Prozess, der lange gedauert habe, sagt Artur Becker. Mit 21 machte er erst Abitur und ein Gefühl des »Nachhinkens« begleitet ihn bis heute. Immer noch plagen ihn Zweifel, Unsicherheiten und Fragen, er nennt es ein »Ringen um die deutsche Sprache«. Nicht beim Scheiben, aber beim Überarbeiten des Textes würde ihm bewusst, wie stark die polnische Sprache und Kultur seine poetische Phantasie beflügeln und prägen. Für die Leser macht das gerade den Reiz seiner Texte aus. Becker findet oft surreal anmutende Bilder von großer Suggestivkraft. Gelegentlich müsse er aber Abstriche machen und manches korrigieren, sonst würden ihn die deutschen Leser nicht verstehen, sagt er und lächelt verschwörerisch.
Der Autor vor Findlingssteinen im Sachsenhain in VerdenBildunterschrift: Großansicht des Bildes mit der Bildunterschrift: …im Sachsenhain in VerdenDie polnische Sprache sei ungenauer, aber bunter und deskriptiver. Mit ihr ließe sich leichter und besser spielen. Polnisch sei die Sprache der kleinen Form, Deutsch dagegen die der großer Erzähler und dicken Romane, deshalb schreibe er auf Deutsch. Denn er erzähle nun einmal gern. Das zeigt auch sein jüngster Roman Wodka und Messer. Lied vom Ertrinken. In einer bildhaft-expressiven Sprache schildert er ausschweifend eine ins Phantastisch-Absurde hinübergleitende Liebes- und Schauergeschichte, die natürlich in Masuren spielt. Es geht um Kuba Dernicki, einen in Deutschland lebenden Polen, der von den Gespenstern der Vergangenheit eingeholt wird und am Dadajsee sein blaues Wunder erlebt.
Das Blutgericht von Verden
Vergangenheit, Gespenster der Vergangenheit, kennzeichnet auch der Ort in Verden an der Aller, den Artur Becker als typisch deutsch ausgewählt hat: Der Sachsenhain. Eine außerhalb der Region wenig bekannte Gedenkstätte. Hier soll 782 das Blutgericht von Verden stattgefunden haben, die Hinrichtung von 4500 Sachsen auf Befehl Karls des Großen. Adolf Hitler verehrte diese als germanische Helden und ließ dort 1935 einen Thingplatz für Sonnenwendfeiern anlegen. Dazu mussten Bauern 4500 Findlinge auf dem Gelände aufstellen.
Es sei ein »Ort des Schreckens«, an dem sich eine »lange europäische Geschichte« abgespielt habe, sagt Artur Becker, eine negative, aber auch eine positive Geschichte. Denn hier wurde die negative Geschichte »positiv umgepolt«. Das beeindrucke ihn an den Deutschen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hätten die Verdener zunächst vorgehabt, die Steine wieder wegzutragen. Aber »Gottseidank« sei das nicht geschehen und »heute ist das ein wunderbarer Ort, wo man spazieren geht und nachdenklich werden kann«. Wer Artur Becker in seiner kleinen beschaulichen Stadt besucht, den führt er in den Sachsenhain. Erstaunlicherweise drehten sich de Gespräche dann auch immer um die Vergangenheit, erzählt er, während er durch den Nieselregen stapft.