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Rheinischer Merkur, Nr. 41 / 2009
Wer die Heimat verlässt, kann sie beschwören
IDENTITÄT – Artur Becker und Michael Mertes sprechen über Politik und Literatur
Von Hans-Joachim Neubauer
Wenn so unterschiedliche Köpfe wie Artur Becker und Michael Mertes auf einem Podium sitzen, müssen sie einen Grund haben. Oder eine Frage, die beide bewegt, den Prosaisten und Lyriker, den Übersetzer und Politischen Beamten. »Von Sprache zu Sprache« heißt der Berliner Abend im Rahmen der Reihe »Worte aus dem Westen«. Eingeladen haben die Landesvertretung Nordrhein-Westfalen beim Bund und der Rheinische Merkur; Mitveranstalter ist das Polnische Institut. Das hat mit Beckers Herkunft zu tun, und es passt auch gut zum historisch-politischen Horizont des Treffens: 20 Jahre nach dem Fall der Mauer geht der Blick zurück immer auch über die Grenzen – nach Polen, Tschechien und Ungarn.
Es geht um Sprache, also um Identität. Wie lebt es sich in zwei Sprachen? Wie schreibt man in einem Idiom, das nicht die Muttersprache ist? Kann Literatur politische Heimat und nationale Identität ersetzen? Was heißt es, sich heute als literarischer Übersetzer von Sprache zu Sprache zu bewegen? Artur Becker und Michael Mertes greifen Fragen wie diese gerne auf: Der eine bezeichnet sich als »polnischer Autor deutscher Sprache«, der andere hat als Homo politicus seine zweite Heimat in der Literatur gefunden: Er übersetzte William Shakespeares Sonette und hat soeben Übertragungen ausgewählter Lyrik von John Donne vorgelegt.
Michael Mertes ist Staatssekretär für Bundesangelegenheiten, Europa und Medien sowie Bevollmächtigter des Landes Nordrhein-Westfalen beim Bund. Auf welchem seiner drei Schreibtische die Werke Shakespeare und Donne liegen? Eigentlich auf allen. Auch wenn er kaum die Zeit findet, sich mit ästhetischen Fragen zu befassen. Schriftsteller wie Vaclav Havel, Politiker wie Carlo Schmid haben beide Seiten ausgelebt – Havel als Staatspräsident, Schmid als viel gelobter Baudelaire-Übersetzer. Wenn Mertes Shakespeare liest – im Original oder in der Übersetzung –, wird deutlich, dass der Sinn für Schönheit einer kritischen Sicht auf die Wirklichkeit nicht im Wege stehen muss. »Kraft durch lahmes Regiment verschlissen/ und Kunst von staatlicher Zensur geknebelt,/ und Schwachsinn Chef der Qualifikation«, heißt es im Sonett 66.
Da helfen nur Schönheit und Liebe. Ob die allerdings als Ziel des Literarischen hinreichen, darüber werden sich Becker und Mertes nicht einig: Becker sieht die Aufgabe der Literatur darin, eine eigene Wirklichkeit zu schaffen. Prüfstein dieser zweiten Welt ist die erste. Die Stoffe zu seinen Geschichten findet er in den Erzählungen seiner masurischen Heimat und in den Erlebnissen seiner Landsleute. Die übersetzt er in einen eigenen, ganz unverwechselbaren epischen Ton. Der gründet nicht zuletzt in einer ungewöhnlichen Biografie: Der 1968 geborene Becker stammt aus Masuren; 1985 folgt er seinen nach Deutschland ausgewanderten Eltern, im Gepäck ein Bündel Gedichte. Das Exil wird zur zweiten literarischen Heimat: Seit 1997 schreibt er seine Bücher auf Deutsch.
In Berlin liest Becker aus seinem jüngsten Roman »Wodka und Messer. Lied vom Ertrinken«. In diesen Minuten wird deutlich: Das Leben in zwei Sprachen ist mehr als ein individuelles biografisches Phänomen. Kürzlich hat Becker für seine Bücher den Adelbert-von-Chamisso-Preis erhalten, mit dem Autoren ausgezeichnet werden, die in einer anderen Sprache aufwuchsen, aber auf Deutsch schreiben. Das ist kein Stigma. Gerade Schriftsteller wie Artur Becker stehen dafür, dass die Erfahrung des Fremdseins zu den Merkmalen der Moderne gehört. Nur wer seine Heimat verlässt, kann sie beschwören. Wenn Literatur wirklich Identität stiftet, dann ist dies sicher keine nationale.
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