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Frankfurter Rundschau 24.2.09
Adelbert von Chamisso –
»Wollte doch nur ein freier Deutscher sein«
Von Beatrix Langner
Seinen Nach-Ruhm veranschlagte er auf fünfzig Jahre. Pünktlich zu seinem einundfünfzigsten Todestag stellte man ihn 1889 auf dem Berliner Monbijou-Platz ab, wo sein langhaariger Marmorkopf heute noch zu besichtigen ist: Adelbert von Chamisso, deutscher Schriftsteller mit französischem Geburtsort, Schlemihl-Erfinder, Balladendichter, Aristokrat und Demokrat, Libertin und Wahlpreuße. Wer ihn nicht sucht, übersieht ihn leicht im hauptstädtischen Gewimmel. Wer ihn mal gelesen hat, findet seine Lebensspuren überall zwischen Berlin, London, St. Petersburg, Paris, San Francisco, Petropawlowsk und Honolulu. Ein englischsprachiger Leser hat kürzlich einen kleinen Zettel auf dem Piedestal hinterlassen, mit folgender Botschaft: »Meine Religion ist einfach. Wir brauchen keine Tempel, keine komplizierte Philosophie. Unsere Gehirne und Herzen sind unsere Tempel. Meine Religion heißt Freundlichkeit.«
Das hätte ihm gefallen, dem ewig verliebten Garçon, der erst mit knapp vierzig in den Hafen der Ehe einlief, dem adligen Weltenbummler und dichtenden Grafensohn, der als Naturforscher, Ethnologe, Linguist und Mitglied mehrerer ehrenwerter Akademien knapp vor Torschluss noch in die preußische Nobilität aufstieg. Aller Welt Freund zu sein, war sein stärkster Charakterzug. Verbiegen musste er sich nie. Um die männlichen Lippen spielt dieses nachsichtig-weise Chamisso-Lächeln. Mild heftet sich der Blick geradeaus auf die Burgstraße, Berlins einstigen Finanz-und Börsenplatz, hinter ihm der Monbijou-Park, wo einst das Schloss seiner Dienstherrin Königin Friederike Luise von Preußen stand, und zu seinen Füßen allabendlich die langbeinigen käuflichen Schönheiten, die Chamisso »Koketten« zu nennen pflegte.
Die in Stuttgart ansässige Robert-Bosch-Stiftung nennt die seit 1985 von ihr großzügig geförderte Filiale der deutschsprachigen Literatur sinnigerweise »Chamisso-Literatur«. Andere sagen interkulturelle oder Migrations-Literatur dazu. In Deutschland werden knapp 300 Literaturpreise vergeben. Der Adelbert-von-Chamisso-Preis ist einer davon. Ihn bekommen laut Statuten »Autoren nichtdeutscher Muttersprache, die mit ihrem deutsch geschriebenen Werk einen wichtigen Beitrag zur deutschsprachigen Literatur leisten«.
Zu den Preisträgern der letzten zehn Jahre gehören Ilija Trojanow (»Der Weltensammler«), Emine Sevgi Özdamar (»Die Brücke vom Goldenen Horn«), Terézia Mora (»Alle Tage«), Zehra Cirak (»Leibesübungen«), Feridun Zaimoglu (»Zwölf Gramm Glück«). Äthiopien, Italien, Spanien, Mittelosteuropa, Japan, Vietnam, der südwestliche Balkan und sogar ein Nobelpreisträger (Imre Kertész, der 2001 die »Ehrengabe zum Chamisso-Preis« erhielt), repräsentieren das Chamisso-Universum. Dieses Jahr teilen sich die Argentinierin Maria Cecilia Barbetta (»Änderungsschneiderei Los Milagros«) und die Bulgarin Tzveta Sofronieva den Förderpreis (»Gefangen im Licht oder Die Sprache als verbotene Heimat«, Essay). Der Hauptpreis geht an den Polen Artur Becker (»Wodka und Messer. Lied vom Ertrinken«).
Wohlgemerkt: Wir sprechen hier von deutschen Schriftstellern, Übersetzern und Dichtern - ohne Wenn und Aber. Ihre Eingemeindung in die deutsche Sprachökumene (zu der zeitweise auch die DDR, Schweiz, Österreich, Teile von Rumänien und Russland gehörten) vollzog sich nur unter etwas anderen Bedingungen als sonst üblich.
Die ersten Preisträger waren noch politisch verfolgte Exilanten wie Lew Kopelew, Ota Filip oder Libuse Moníková. Wie für Julio Cortázar, der vor der argentinischen Militärjunta, Milan Kundera und Czeslaw Milosz, die vor dem stalinistischen Terror nach Paris flohen, war die Bedrohung in ihren Heimatländern ganz körperlich real und keineswegs nur ideologisch. Es ging um Leben und Tod. Die beiden Chamisso-Preisträger von 1985, Aras Ören (der einen griechischen Vater und eine türkische Mutter hat), und der Syrer Rafik Schami (damals Mitherausgeber und Autor der Reihe »Südwind-Gastarbeiterdeutsch«) kannten noch die Angst und den Schrecken, Krieg, Diktatur und Folter aus Familiengeschichten. Die Eltern des Dichters José F. A. Oliver erlebten am eigenen Leib die spanische Franco-Herrschaft, bevor sie als Gastarbeiter nach Deutschland kamen.
Nach 29 Preisträgern in 25 Jahren (der Preis wird gelegentlich geteilt) lässt sich mittlerweile ein markanter Generations- und Paradigmenwechsel beobachten. Die jüngsten Preisträgerinnen, die Ungarin Léda Forgó (geb. 1973 in Budapest), Tzveta Sofronieva (geb. 1963 ) und Maria Cecilia Barbetta (geb. 1972 in Buenos Aires) haben ganz andere Sorgen. Sie können gefahrlos in ihr Geburtsland oder das ihrer Eltern zurückkehren. Sie erfahren literarische Förderung, Erfolg und Anerkennung. Ihre Biografien sind international, oder vielmehr global. Ilija Trojanow floh mit seinen Eltern aus Bulgarien und lebt seitdem als Weltbürger zwischen Europa, Asien und Afrika. Catalin Dorian Florescu verließ Rumänien mit neun Jahren und ist ein Wanderer zwischen den Welten geblieben. Barbetta hat italienische und argentinische Vorfahren. Artur Becker, der diesjährige Preisträger, verließ Polen kurz nach dem Solidarnosc-Aufstand und lebte in Kanada. Für die meisten ist das Problem also nicht der Transit zwischen den Kulturen; das Problem ist die Sprache. Für einen Schriftsteller ist Sprache die Wirklichkeit der Gedanken und darum seine wahre Heimat. Im Spannungsfeld zwischen Sprechen und Schweigen entstehen Gedichte, Novellen, Essays, Stücke, zeichnen sich Poetologien ab, wachsen aus Begabungen Schriftstellerbiografien.
Das ist der Preis, den auch Chamisso entrichten musste: in der einen Sprache träumen, wieder Kind sein, sich erinnern und in der andern schreiben, den Alltag bewältigen, die fremde Gegenwart. Zwischen Sprachen und Ländern switchen, wie es Artur Beckers Romane beschreiben, gefangen im zermürbenden Kreislauf von Nostalgie, Sehnsucht, Rückkehr und Abschied. Graziös zwischen Soziolekten, Stilen, Realitätsebenen, Traum und Tag tanzen wie Barbetta. Auch Chamisso schrieb in beiden Sprachen - Deutsch und Französisch -, überließ sich jahrelang seiner Schwermut, lernte immer neue Sprachen dazu, sammelte Blumen und wurde Botaniker.
Weil er kein Schlemihl werden wollte, schrieb er 1813 innerhalb weniger Wochen »Peter Schlemihls wundersame Geschichte«. Erst der sprichwörtliche jüdische Pechvogel und Unglücksrabe, der seinen Schatten für ein bisschen Glück verkaufte, brachte seinem Autor die Siebenmeilenstiefel des literarischen Ruhms und die Hemmschuhe größerer Geduld mit sich selbst ein. Doch als ein russisches Expeditionsschiff 1815 zu einer Erdumsegelung aufbrach, sprang er in letzter Minute an Bord - als französischer Preuße mit achtundzwanzig Russen auf einem russischen Kriegsschiff. Es gibt von dieser dreijährigen Reise eine schöne Beschreibung von ihm selbst.
Als sie 1834 erschien, war Adelbert von Chamisso bereits berühmt; seine Romanzen, Terzinen und sozialkritischen Balladen verkauften sich prächtig. Das freute und wunderte ihn. »Deutschland, scheint es, will mich wirklich zu einem seiner Dichter zählen«.
Armer Chamisso, dessen Erbe von der französischen Nation bis heute ausgeschlagen wird - als »deutscher« Dichter. Erst Preußens Demütigung als französische Provinz von Napoleons Gnaden konnte den fünfundzwanzigjährigen preußischen Offizier 1806 zu dem Ausbruch verleiten: »Frankreich ist mir verhasst, und Deutschland ist nicht mehr und noch nicht wieder... wo auch ich sei, entbehr ich des Vaterlandes.« Dabei wollte er doch nur »ein Deutscher, aber ein freier Deutscher« sein.
Doch der Emigrant von 1792 hing ihm an wie ein Schatten. Das bekommen auch Chamisso-Laureaten zu spüren. Der Preis erinnere sie daran, dass sie Ausländerin sei, sagte Libuse Moníková 1991 bei der Verleihung. Sprache und nationale Identität werden noch immer als Synonyme gebraucht. Die europäischen Nationalsprachen sind der Gral, das Goldene Kalb, von konservativen Studienräten argusäugig bewacht, von heulenden Sittenwächtern umtanzt, die de Gaulles »Europa der Vaterländer« einklagen und nicht müde werden, vor Sündenbabel zu warnen.
»Sprache, mit dem müden Mund/auf dem endlosen Weg zum Hause des Nachbarn«, dichtete Johannes Bobrowski in den sechziger Jahren, auch so ein deutscher Dichter mit »Migrationshintergrund«, nämlich gebürtiger Ostpreuße.
Bilingualismus, soziales Code-Switching, ist für die Mehrzahl der jüngeren Einwanderer heutzutage selbstverständlich. Warum eigentlich nicht für uns Leser? Deutschland ist ein Einwanderungsland. Nicht nur drei Millionen Türken müssen mit ihren deutschen Mitbürgern klarkommen, sondern die auch mit ihnen. Warum also nicht neben Französisch und Englisch auch Italienisch, Türkisch, Arabisch und Griechisch, die Sprachen der größten Minderheiten, als Wahlfächer an deutschen Schulen?
Türkische Deutsche und deren Kinder könnten endlich gutes Türkisch aus den Büchern von Orhan Pamuk und gutes Deutsch bei Emine Sevgi Özdamar lernen. Arabische Deutsche würden gutes Arabisch bei dem Dichter Abbas Beydoun und gutes Deutsch bei dem Dichter Said lernen. Maria Cecilia Barbetta könnte abwechselnd portugiesisch und deutsch schreiben, Artur Becker würde seine Romane auf Deutsch, seine Gedichte auf Polnisch für Polen und Tzveta Sofronieva die ihren auf Bulgarisch für Bulgaren drucken lassen. Warum nicht gemeinsame Geschichtsbuchredaktionen von Deutschen und Polen einrichten, von Franzosen und Deutschen? Warum nicht überhaupt zweisprachige Lesebücher?
Warum nicht den Chamisso-Preis umbenennen in den Kleinen Gott der Freundlichkeit und ihn zukünftig jedem geben, der zur Verständigung zwischen den Sprachen und Ethnien beiträgt, nicht nur Einwanderern? Das wär echte Unsterblichkeit.
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