Home
Prosa
Lyrik
Presse
Links
Varia
Galerie
Vita
Kontakt

etcetera 35, Heftthema: KIND, März 2009

Kraft der Erinnerung aus der Kindheit

Zur Erscheinung seines neuesten Buches »Wodka und Messer. Lied vom Ertrinken« kam Artur Becker mit seinem Verleger Rainer Weiss im Oktober, noch vor der Frankfurter Messe zu einer Pressekonferenz nach Wien. Ingrid Reichel sprach mit ihm. (27.10.2008)

Mit unserem historischen Erbe verbunden, gestalten wir unsere Gegenwart und unsere Zukunft.
Lieber Artur Becker, Bartoszyce (Polen) ist Ihre Geburtsstadt und ist vorwiegend Schauplatz Ihrer Romane. Inwiefern tragen Ihre Romane autobiographische Züge?

Diese Frage wird mir sehr oft im deutschsprachigen Raum gestellt. Ich nehme sie sehr ernst, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass es etwas Wichtigeres geben könnte als die Autobiographie. Ich glaube, dass die anderen Autoren lügen, wenn sie sagen, sie würden durch die Fiktion zu ihren Büchern, zu ihren Geschichten gelangen, sie würden durch die distante Fiktion erzählen können. Ich nehme ihnen dies nicht ab, weil wir, wenn wir erzählen, nur die Geschichten haben, die uns geschenkt wurden. Zum einen von unseren Freunden und Verwandten, von unserer Kindheit über uns, zum anderen die Geschichten, die wir selber erschaffen. Jeder Mensch erschafft tagtäglich seine Geschichte.
Für mich ist das sehr geheimnisvoll. Wie sollte ich denn anders schreiben, wo sollte ich den Stoff herholen, wo sollte das Material herkommen? Zumal ich solche Romane, wie z.B. diese phantastischen, utopischen Romane von Rudolph Laban oder Doris Lessing, gerne mag, aber das ist nicht meine Welt. Das hängt auch mit meiner philosophischen Einstellung zum Leben zusammen: Ich möchte nur das schreiben, was es gibt. Und nicht das, was es nicht gibt.
Ich bin sehr lebensbejahend und stehe auf der Seite des Menschen. Ähnlich wie Faulkner es wunderschön in seiner Nobelpreisrede gesagt hat: »Die Menschheit wird singen«. Das ist mein Material. Bartoszyce mit dem Dadajsee, Bremen in Deutschland, das sind die Orte, die mich beeinflussen. Manche werfen mir vor: Der Becker bewegt sich ja kaum, der bleibt an seinen Orten stecken.

Das heißt, Sie verarbeiten Ihre eigene Kindheit und Jugend?

Im Grunde genommen schon. Ich beziehe allerdings auch die Gegenwart mit ein. Das heißt, ich möchte nicht einer wunderschönen russischen Melancholie verfallen.

Wenn sie quasi von Ihrer Kindheit erzählen, assoziieren Sie mit Kindheit auch Heimweh?

Ja, hm, Heimweh auf jeden Fall, aber… Heimweh als Gefühl eignet sich kaum für ein Kunstwerk oder für Literatur, weil man dann so sentimental wird, dass man keine Distanz bekommt, zu seiner Nation u. s. w. … Das ist schwierig. Und dennoch, da schieße ich mir jetzt ein Eigentor, aber das ist so: Meine Figuren haben ja immer wieder Heimweh, sowie auch andere Wehwehchen, bzw. andere Leiden. Also, sie sind keine Figuren, die auf den ersten Blick glücklich erscheinen. Es sind keine Figuren, die mit erhobenem Haupt, fast schon idiotisch wie »Hans im Glück« dieses Leben hier auf Erden bewältigen. Und dennoch, weiß ich nicht, ob es überhaupt solche Menschen gibt. Ich selber bin manchmal unheimlich depressiv und dann wieder unheimlich glücklich. Diesen Zustand treffe ich letztendlich bei vielen Menschen.

Glauben Sie hat das mit Ihrer Immigration zu tun oder eher mit der polnischen Seele?

Mit dieser polnischen Seele müssen wir natürlich aufpassen. Was ist das, diese polnische Mentalität? Sicherlich gibt es romantische Züge, die keine Klischees oder Vorurteile sind, die unbedingt zu einer osteuropäischen Seele gehören. Die Polen sind unheimlich stolz, doch man kann sie leicht verletzen. Aber die Emigration ist letztendlich auch ein Glücksgefühl, bzw. eine universelle Form zu existieren. Denn wenn man seine Heimat verlassen hat, kann man sich in einem fremden Land von seiner eigenen Politik und Geschichte sehr gut distanzieren. Man kann sehen, wie idiotisch manches ist, denn es wird oft von uns behauptet, wir seien Deutsche, Franzosen oder Polen. In erster Linie sind wir Menschen. Es gibt ein wunderbares Beispiel aus dem Hinduismus, aus der Bhagavadgita, wo Krishna Arjuna erklärt: »Du bist doch kein Hund. Wenn man dich fragt, wer du bist, darfst du nicht wie ein Hund antworten und bellen. Du bist doch in erster Linie ein kosmisches Wesen und ein Mensch.« Das symbolische Bellen eines Hundes ist das, was in unserem Reisepass steht. Es besagt jedoch gar nichts über uns und wie wir existieren. Emigration ist, wenn man sie nützen kann, eine gute Form, um zu einem kosmischen oder eben universellen Menschen zu werden. Also zu einem »Erdling«. So sehe ich das.

Sie kritisieren zwar in ihren Büchern auch Polen, dennoch bleibt eine Liebeserklärung stehen.

Ja.

Sie selbst, sind Sie wie Ihre Protagonisten zurückgekehrt?

Ich verrate Ihnen etwas. Diese Bücher sind, obwohl Autoren, das nicht gerne zugeben, auch eine Form von Therapie. Die Reisen, die ich in diesen Büchern mache, sind nicht nur Geschichten, die ich dem Leser erzählen will, sondern ich erzähle sie mir auch selbst. Ich reise mit Ihnen zurück in die Zukunft und will kapieren, was in der Vergangenheit passiert ist. Hier stoßen wir auf ein gewaltiges Problem, denn meiner Meinung nach gibt es zwei, drei, vielleicht vier Sorten von Autoren. Zwei davon sind sehr wichtig. Zum einen gibt es Autoren, die sich eigentlich nur mit der Vergangenheit und nur mit der Kindheit beschäftigen – viele Namen könnten wir da aus den letzten 200 Jahren nennen. Dann gibt es diejenigen, die sich sehr wohl mit der Vergangenheit und der Kindheit auseinandersetzen, aber in erster Linie über die Gegenwart schreiben. Ich neige mehr dazu, leider auch im Privatleben, das ich von der Vergangenheit zehre und von ihr lebe. Das ist eigentlich mein Brot. Meine Frau oder meine Freunde machen mir oft den Vorwurf, ich sei gar nicht in der Gegenwart, ich lebe irgendwo in der Vergangenheit, aber das kann ich nicht ändern, so bin ich halt.

Sind Sie selbst nach Polen zurückgekehrt?

Nein.
Ich fuhr zweimal hin. Manchmal für einen längeren Zeitraum, ein paar Wochen oder gar zwei - drei Monate. Aber die Rückkehr ist faktisch unmöglich. Und sollte ich ein alter Mann werden, sagen wir mal so 70, dann kann ich mir gut vorstellen, dass ich dann dort für länger leben werde. Nicht in dem Sinne nur zum Sterben, oder wie ein alter Hund, der sich eine Schlafstätte sucht.

Insofern, geraten sie so wie Ihre Protagonisten immer wieder auch selbst mit Ihrer eigenen Biographie in Konfrontation?

Absolut, ja. Aber diese Frage ist nicht nur eine schwierige Frage, sondern auch eine Unterstellung.

(Lacht …)

Ich möchte dazu sagen, ich komme auch nicht mit der, … das ist sehr intim, was ich jetzt sage …, poetisch-lyrisch gesagt, mit der deutschen Wirklichkeit klar. Ich finde nichts, was für mich schreibenswert wäre. Die Gegenwart erschlägt mich und ich brauche, wenn Sie meine Bücher lesen und kennen, einen riesigen Apparat von Jahren. Ich kann mir gut vorstellen, dass ich in 10 oder 20 Jahren sehr viele Bücher über Deutschland schreiben werde. Das ist eine Art von Nostalgie. Warum sollte Nostalgie für Literatur kein Motto, keine Energie sein? Es hängt davon ab, wie gut diese Nostalgie verarbeitet wird und ob sie literarisch funktioniert. Und wenn diese Geschichten literarisch funktionieren, dann dürfen so niedere Gefühle wie Melancholie …

(Artur Becker beginnt zu lachen)

…und Nostalgie durchaus ein Kraftstoff sein!

Ich danke für das Gespräch.


 

[Aktuell] [Prosa] [Lyrik] [Presse] [Links] [Varia] [Galerie] [Vita] [Kontakt]

Copyright © 2017 Artur Becker
Alle Rechte vorbehalten. All Rights reserved