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Goethe-Institut e.V., Online-Redaktion

»Es ist völlig egal, in welcher Sprache man schreibt« –
Artur Becker im Gespräche

Seine Texte haben »der deutschen Literatursprache neue Farben und Töne gegeben und die enge Verbundenheit von polnischem und deutschem Kulturraum in poetisch eindrucksvoller Weise bekräftigt«. So begründet die Jury ihre Wahl des Adelbert-von-Chamisso-Preisträgers 2009: Artur Becker.

Herr Becker, Sie sind 1968 im polnischen Bartoszyce in Masuren geboren worden und 1985 nach Deutschland gekommen. Wieso nach Deutschland?
Deutschland ist oft die einfachste Lösung: immerhin unser Nachbar im Westen. Außerdem war die BRD in den 70ern und 80ern des vorigen Jahrhunderts ein Synonym für das Paradies.
Im speziellen Fall meiner Familie möchte ich daran erinnern, dass meine Sippe väterlicherseits deutschstämmig ist, was für die damalige Zeit bedeutete, dass wir problemlos die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen konnten. Das Einzige, was noch erlernt werden musste, war eine Kleinigkeit: die Sprache im Mund, die Zunge, das Sprechen. Und später die deutsche Mentalität.

»Deutschland war wie Sodbrennen«, legen Sie dem Protagonisten Ihres Romans »Kino Muza« in den Mund. Denken Sie das auch?
Was ich denke, steht nicht zur Debatte. Ich bin Erzähler. Diese berühmte Stelle aus dem Roman Kino Muza, der Anfang des Buches, erzählt bloß das traumatische Gefühl, das viele Emigranten haben: Nachts wachen sie auf und wollen plötzlich nach Hause fahren. Und speziell im Falle eines Spätaussiedlers, also eines Deutschstämmigen, der ich ja bin, wurde mir plötzlich klar, dass ich auf irgendeine Art und Weise für mein neues Land Verantwortung übernehmen musste, auch für die Taten der Großeltern – Sie verstehen.
Ich bin zwar Pole, weil ich in der polnischen Sprache und in Polen aufgewachsen bin, aber durch die Ausreise nach Deutschland wurde mir bewusst, welche brennende Geschichte dieses Land hat, die einen niemals in Ruhe lassen wird. Oder können Sie sich erklären, warum Ihre Landsleute auf die Idee kamen, Kinder zu vergasen? Ich kann es mir bis heute nicht vorstellen, warum so etwas in einem der schönsten und kultiviertesten Länder der Welt dennoch geschehen konnte …

Schreiben Sie auch auf Polnisch?
Auf Polnisch selten, eigentlich gar nicht, obwohl ich diese Sprache jeden Tag spreche und auch schreibe – private und literarische Post, E-Mails und so weiter.
Auf Deutsch musste ich ja irgendwann anfangen zu schreiben, da ich keine andere Wahl hatte: Ich musste so schnell wie möglich zu meinen Lesern kommen. Also geschah es 1989, dass ich die Sprache wechselte. Denn ich war noch sehr jung und hatte in Polen keine Leser und Verlage, und ich wollte hier in der BRD publizieren.
Außerdem ist es völlig egal, in welcher Sprache man schreibt, da die Poesie in der Luft schwebt. Man fängt sie mit seiner Sprache, in der man schreibt. Und es gibt keine Sprache, die besser wäre als eine andere. Jede Sprache kann zur Schönheit und Literatur werden.

Werden Ihre Bücher in Polen gelesen?
Ja, ab Dezember 2008, dann erscheint dort mein Roman Kino Muza aus dem Jahre 2003 – in der Übersetzung von Dariusz Muszer.

Sie schreiben Romane, Erzählungen und Gedichte. Welche Form ist Ihnen die liebste?
Alle drei Formen mag ich gerne. Ich schreibe auch Essays. Ein Essayband ist in Vorbereitung.
Mit den Romanen mache ich immer längere nächtliche Reisen. Zwei Jahre dauern sie. Storys oder Gedichte: das kann man manchmal an einem Tag erledigen. Für mich ist das Schönste, wenn ich Tag für Tag, Nacht für Nacht an einem Buch arbeiten kann. Es ist so schön wie Sex oder Lagerfeuer am Dadejsee in Masuren. Menschen, die denken, Literatur und Kunst seien eine Art Fiktion, begreifen nichts. Literatur ist Wirklichkeit, Realität. Robinson Crusoe lebt wirklich.

Die Kritiker rühmen Ihre Erzählfreude. Welche Erzähler sind da Ihre Vorbilder?
Oh! So viele: Marek Hłasko, William Faulkner, Ernest Hemingway, John Steinbeck, Knut Hamsun, Dostojewski, Thomas Mann, Jan Potocki, Cervantes, Isaac Bashevis Singer, Haruki Murakami, Paul Auster, Cormac McCarthy, Witold Gombrowicz und so weiter – auf keinen Fall James Joyce, Franz Kafka oder Thomas Bernhard! Bernhard sagt in einem Interview, dass eine schwangere Frau in ihrem Bauch einen 70-jährigen Greis trägt. Wer so etwas sagt, der kann mich mal. Vor dem Leben muss man Respekt haben – das Leben ist heilig und ewig.

Ihre Geschichten sind Geschichten von Grenzgängern und Auswanderern. Wie viel von Ihnen, von Ihren Erinnerungen und Erfahrungen steckt in Ihren Figuren?
Ich denke, in meinen Figuren steckt der ganze Artur Becker: sein Herz, seine Seele, seine Erfahrung, seine Liebe zum Leben, sein Glaube an die Menschheit, die endlich aufhören soll, der Bauchnabel der Welt zu sein.
Aber meine Figuren sind sehr selbständig. Ich beobachte sie, klar, ich schreibe nur darüber, was ich kenne, aber ich löse mich mehr und mehr von meinen Meinungen und Ansichten. Die Figuren sollen schon unabhängig sein. Ich werde aber nicht aufhören, über meine Orte und meine Menschen und Freunde und Grenzgänger und Auswanderer zu schreiben – das ist mein Leben, mein Raumschiff.

In einem Interview haben Sie einmal gesagt, dass es Ihnen bei Ihren Reisen nach Masuren vorkommt, als hätten Sie »nur kurz eine polnische Kneipe verlassen, um Zigaretten zu holen«. Haben Sie Heimweh?
Nein, dieses Bild, das Sie erwähnen, hat nichts mit Heimweh zu tun! Sondern mit der Kürze des Lebens und vor allem mit unseren Illusionen, die wir uns ständig machen. Menschen, die im Sterben liegen, wissen, was ich damit meine, wenn ich sage: Eigentlich bin ich nur zum Kiosk gegangen, um eine Zeitung zu kaufen und Zigaretten. Ich bin zurückgekommen, und schon war das Leben vorbei.
Speziell bei Emigranten ist das Gefühl, ein gefälschtes Leben zu leben, sehr stark, denn sie fehlen die ganze Zeit an ihrem eigentlichen Arbeitsplatz, nämlich in ihrer Heimat. Aber sie sollen nicht glauben, dass eine Rückkehr in die Heimat hilfreich sein kann. Denn die meisten, die man einmal gekannt hat, leben nicht mehr.
Und außerdem ist unsere Heimat nicht auf Erden, sondern woanders. Unsere Naturwissenschaftler tappen ständig im Dunklen. Sie sollten viel mehr mit Schriftstellern, Philosophen, Künstlern, Musikern und Geistlichen und Propheten à la Jesus oder Buddha zusammenarbeiten. Doch keiner hört auf uns Autoren!

Die Fragen stellte Dagmar Giersberg. Sie arbeitet als freie Publizistin in Bonn.
Copyright: Goethe-Institut e.V., Online-Redaktion

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