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Sächsische Zeitung, Wochenendmagazin, 1.11.2008

»Ich habe schon eine Krise überlebt«
Der Autor Artur Becker spricht über sein doppeltes Leben als Deutscher und Pole

Mit Artur Becker spricht Karin Großmann

Mit Ihrem Roman, Herr Becker, kehren Sie wie Ihr Held nach Polen an den Ort der Kindheit zurück. Hatten Sie wie er noch eine Rechnung offen?
Schriftsteller haben immer eine Rechnung offen mit dem Land, aus dem sie kommen. Mein Polen ist 1989 untergegangen. Das Land, in dem ich aufwuchs, gibt es nicht mehr. Gesellschaftliche Prozesse, die vor dreißig Jahren begannen, finden langsam ihr Ende. Es hat sich eine Demokratie herausgebildet. Die Vergangenheit steht plötzlich da wie ein Stein, wie ein Baum, man kann sie anfassen. Und man fragt sich: Was ist passiert? Was hätte man anders machen sollen?

Ihr Roman ist geprägt von einem kräftigen Realismus. Aber es gibt auch mystische Elemente wie ein sprechendes Messer. Woher kommen sie?
Wenn mein Großvater, ein Mann deutsch-galizischer Herkunft, einen Hammer brauchte, sagte er: Hol mir mal den Tomasz. Er hatte für viele Gegenstände Namen. Die Lebendigkeit der Dinge war mir schon als Kind selbstverständlich. Ich habe fliegende Seifenstücke gesehen, und es hat mich nicht gewundert. Nach der Schule bin ich mit einem Freund oft zum Kino gegangen. Wir haben die Fotos angeschaut und die Plakate, der Film lief in unseren Köpfen ab.

Ihr Held trägt den Spitznamen Zweibauchnabel, weil Ärzte in seinem Bauch seinen toten Zwillingsbruder entdeckten. Dieser mischt sich immer noch ein – wozu brauchen Sie ihn?
Die doppelte Perspektive liegt nahe bei einem, der ein doppeltes Leben lebt als Deutscher und Pole. Mit dieser Schizophrenie muss der Mann im Roman, muss ich umgehen.

Ist Schreiben ein Versuch, damit fertigzuwerden?
Schreibend kommt man aus dieser gebrochenen Identität nicht raus. Der Prozess wird nie abgeschlossen sein. Deshalb arbeite ich wie viele andere Autoren monothematisch. Eigentlich gibt es nur zwei Arten von Schriftstellern: die einen, wie Isaak Bashevis Singer oder Günter Grass, schreiben über Kindheit und Vergangenheit. Die anderen, wie der Franzose Michel Houellebecq, beschäftigen sich mit Gegenwart und Zukunft. Mein nächstes Buch soll nur in der Kindheit spielen.

Sie schreiben Ihre Bücher in Deutsch. Kannten Sie die Sprache schon, als sie mit 16 aus Polen in die Bundesrepublik kamen?
Ich habe die Sprache erst hier gelernt. Nach einem halben Jahr konnte ich sie verstehen, nach einem Jahr sprechen. Ich spürte auch bald die Unterschiede zwischen der Umgangssprache und der Intellektuellensprache. Dass ich einmal nicht Deutsch konnte, kann ich mir heute kaum noch vorstellen. Ich nenne es meine Dienstsprache. Mit meiner Frau spreche ich polnisch. Ich pflege auch diese Sprache sehr, weil ich in beiden perfekt sein möchte.

Schreiben Sie literarische Texte auf Polnisch?
Gedichte manchmal. Nach zehn Büchern auf Deutsch halte ich es kaum für möglich, dass das noch mal anders wird. Aber man soll nie nie sagen. Es kann sein, dass mich der Teufel packt; es wäre ein witziges Experiment. Wer weiß, ob ich in Polen einen Verleger fände? Wenn mein Sohn in vier Jahren Abitur gemacht hat, würde ich gern mit meiner Familie für eine Zeit nach Warschau ziehen. Es wäre toll, zwischen den Ländern zu wechseln, ein halbes Jahr hier, ein halbes da.

Welche Unterschiede zwischen beiden Ländern fallen Ihnen besonders auf?
Das Leben im Westen vollzieht sich weit entfernt von den großen Themen, der Tod etwa ist ein solches Tabu, dass ich nur aufschreien kann. In polnischen Orten gehören Trauerzüge ganz selbstverständlich zum Straßenbild. Ich komme aus einem sehr katholischen Land, es ist ein Katholizismus, der mit polnischer Folklore behaftet ist. Und ich lebe in einem total säkularisierten Land, in einer Gegend, die alle Spielarten des Protestantismus vereint. Ich bin kein Atheist, eher ein Existenzialist; aber ich glaube an die Schöpfung, an einen Gott, der mir allerdings vom Vatikan nicht schmackhaft gemacht wird.

In Ihrem Roman tritt ein katholischer Pfarrer auf, von dem es heißt, er sei im Krieg, in Warschau ein Rabbi gewesen, auch ein Verräter – wie kommen Sie auf eine solche Konstruktion?
Das Thema lässt uns nicht los. Die Frage nach dem Antisemitismus in Polen ist latent immer anwesend. Er war nie so gefährlich wie bei den Nazis oder in Spanien, aber es gab ihn. Im Buch „Nachbarn“ beschrieb Jan Tomasz Gross erstmals, wie christliche Bewohner des polnischen Ortes Jedwabne im Juli 1941 über 1 600 Juden ermordeten. Das Buch hat in Polen zu einer heftigen Debatte geführt: Das Volk der Opfer als Täter ...

Das heutige Polen, heißt es in Ihrem Roman, hat eine Haut bekommen – »eine Anfertigung aus Brüsse«. Hört man da den Autor reden?
Durch die EU haben wir eine Art Zentralregierung bekommen, die uns Polen bekannt ist aus sozialistischer Zeit. Manche spotten: Früher fuhr man nach Moskau, um Befehle zu holen, jetzt fährt man nach Brüssel oder nach Washington.

Die Tante des Romanhelden schimpft darüber, dass sich Polen im Irak-Krieg beteiligt. Wie sehen Sie das?
Als die ersten Soldaten in den Irak einmarschierten, hieß es, sie wollten den Menschen Frieden bringen. Jetzt herrscht dort ein Zustand, der einer Katastrophe sehr ähnelt. Die Menschen leiden unter Terror, beinahe jeden Tag gibt es Tote. Ich denke, mein Kollege Andrzej Stasiuk hat recht, wenn er fragt: Die Iraker haben unsere Frauen nicht vergewaltigt, sie haben unsere Männer nicht getötet, sie haben unsere Städte nicht zerstört – warum lassen wir unsere Soldaten für den Moloch USA kämpfen? Ich habe ebenso wenig eine Antwort wie er. Und ich kann mir nicht vorstellen, wie die Politiker dieser Welt ruhig schlafen können, die ihre Armeen in andere Länder schicken.

Wie erklären Sie besorgten Deutschen, dass Polen ein US-Raketenschild braucht?
Die Angst der Polen vor den Russen ist noch größer als die Angst vor den Deutschen, das sitzt im Blut, eine Folge der Geschichte. Auch in der Solidarnosc-Zeit war man nicht sicher, ob die Russen einmarschieren würden oder nicht. Tausende waren im Land stationiert.

Haben Sie Hoffnung auf ein geeintes Europa?
Als Schriftsteller müsste ich Optimist sein. Die Krise der Werte, in der wir jetzt stecken, macht mir nicht angst. Ich habe schon eine Krise überlebt, habe erlebt, wie ein politisches System zusammenbricht. Eine Krise birgt immer auch eine Chance: Wir könnten Fehler erkennen. Es kann zum Beispiel nicht angehen, dass Manager maßlos verdienen und ihre Banken zerstören. Aber wenn der Staat eingreift, wenn er durchgreift, kann das zu einer Diktatur führen. Wir haben es in Polen erfahren.

Ex-Präsident Jaruzelski meint, er habe durch die Verhängung des Kriegsrechts das Land vor einer Katastrophe bewahrt. Hat er recht?
Der Streik der Solidarnosc-Leute hatte die Gesellschaft in eine desolate Lage gebracht; Jaruzelski musste zusehen, dass wieder Ordnung auf der Straße herrschte, dass die Züge fuhren, dass Zeitungen erscheinen, dass die Bäcker Brot backen konnten.

 

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