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Süddeutsche Zeitung vom 20.12.2006

Das Geheimnis der Ortsschilder

Von JÖRG MAGENAU

Czerwonka heißt auf Deutsch Rothfließ. Es ist ein kleines Dorf am Dadajsee in einer Gegend, die Warmia genannt wird, Wurmland oder auch Ermland. Der Ort liegt etwa im Mittelpunkt der Region, deren Anblick den Lyriker Gerald Zschorsch in ein metaphysisches Staunen versetzte. Als »Blutgerinsel der Erde« bezeichnet er dieses Czerwonka, doch das hat nichts mit Blut und Boden zu tun. Es ist ein von den Menschen vergessener Landstrich, in dem allenfalls Angler oder ein paar an Büdchen herumlungernde Männer vorkommen. Und auf den Panjewagen klappern ordnungsgemäß die Milchkannen.
Triumphal erhebt sich die Natur: der Himmel, die Wolken, die Kraniche, die Rebhühner. Riesig sind die Alleebäume. Biber und Schmetterlinge tummeln sich paradiesisch, Bennsche Astern in den Vorgärten und in den Seen Zander, Hecht und Aal. Von Ostpreußen zu sprechen wäre viel zu profan. Man geriete damit in einen Strudel von Vergangenheit und Geschichte, die loszuwerden doch der Zweck dieses Reisens und Schauens ist. Masuren passt schon besser. In diesem Wort ist das Traumland, das Zschorsch meint, besser unterzubringen.
Der Verlag nennt den Text ein »Prosagedicht«. Zschorsch spricht an einer Stelle von einer »Mythologie des Ostens«. Man könnte seinen Gesang aber auch als geographisches Gebet bezeichnen. Dieser Osten ist eine Beschwörung. Die Aufzählung von Orten wird zum sprachmagischen Vorgang. Wie beim Aufsagen von Zaubersprüchen werden die Dinge gebannt oder hervorgerufen, indem man ihre Namen nennt: Olsztyn/Allenstein, Biskupiec/Bischofsburg, Lukta/Locken.
Obwohl die Landschaft von Kleinigkeiten vollgestellt ist – Ortsschilder, Wurzeln, Zäune, ein Schornstein – und Zschorsch sich der fortgesetzten Feier von Verfallsschönheit hingibt, geht es in diesem Gebet weniger um eine konkrete Landschaft oder um den Zustand der Dörfer, als um die transzendentale Erfahrung des Raumes. Zwar gibt Zschorsch immer wieder die Himmelsrichtungen vor – ostwärts, nordostwärts –, aber nicht um der Orientierung willen. Weil der Raum die Oberhand über die Zeit gewinnen soll, wird aus der Raum-Fahrt ein Gottesdienst. »Es wird immer schwieriger, dem Raum in seiner Unendlichkeit nahe zu sein«, schreibt Zschorsch: »Denn dies ist der Sinn des Glücks, das den Menschen aus dem Aufenthalt in der Weite zuströmt: er berührt die reine Wesenheit des Raumes als einen der ersten Gedanken Gottes. Nordostwärts.«
Die Austreibung der Geschichte aus der Anschauung, wie Zschorsch sie betreibt, zielt auf eine »Schönheit ohne Anfang und Ende«, ja, auf »Erlösung«. Da heißt es dann: »Das Rauschhafte ist ein zur Ruhe gebettetes Stück Geographie.« Der feierliche Ton wächst sich an solchen Stellen ins Prophetenhafte aus. Damit wächst dann aber auch das Bedürfnis, den Autor mit seinen kostbaren Empfindungen allein zu lassen. Denn jede Mitteilung fällt zurück in die Zeit und in die Vergänglichkeit hinein.
Zur Erholung ist dem Bändchen als Nachwort ein kurzer Text des polnisch-deutschen Schriftstellers Artur Becker beigegeben. Seine Erinnerungen an Czerwonka führen aus der Erhabenheit auf den Boden des Konkreten zurück. Kindheit, Weggang und Wiederkehr: Da wird ein Land mit seinen Leuten und Nöten sichtbar, und auch mit der Möglichkeit der Veränderung. JÖRG MAGENAU

GERALD ZSCHORSCH: Czerwonka. Mit einem Nachwort von Artur Becker. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 46 Seiten, 14,80 Euro.

 

 

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