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Der neue Tag, Weiden, Nr. 87, 13./14. April 2006

»Ich bin verdammt dazu, mich ständig zu erinnern.« –
Zu Gast bei den 22. Weidener Literaturtagen:
Der Schriftsteller Artur Becker

Von Stefan Voit

Stefan Voit: Heimat ist das Gegenteil von Fremde, das Museum unserer Kindheit, der Fluchtpunkt der Erinnerung. Welche Assoziationen fallen Ihnen zu »Heimat« spontan ein?

Artur Becker: Ich denke sofort an meine Kindheit in Masuren. An den Dadajsee, an die Bikinis, die meine Mutter im Sommer getragen hat. Ich denke an die Hechte, die mein Vater gefangen hat. Und ich denke an den Geruch des Waldes vom Dadajsee, an dem ich als Kind Sommer für Sommer lebte. Ich erinnere mich an die bunten T-Shirts, die uns Westdeutsche in Hilfspaketen in den 70ern schickten. Auf einem stand das Wort »Hair« - es ging um den berühmten Hippie-Film. Ich wusste damals gar nicht, was das Wort bedeutete – geschweige denn, dass es sich dabei um einen Kultfilm handelte. Aber ich denke auch an das Kriegsrecht, das am 13. Dezember 1981 in Polen eingeführt wurde. Nachts stand ich oft als 13jähriger vor dem Küchenfenster im zweiten Stock unseres seladonfarbenen Betonhauses in meiner Geburtsstadt Bartoszyce und hielt Ausschau nach Panzern und Soldaten. Ich hatte Angst, dass die Soldaten mich erkennen und auf mich schießen würden. Außerdem denke ich immer wieder an den nächtlichen Himmel, an die Sterne und die Plejaden, an die fantastischen Bilder, die glücklichen Himmelhunde und Tiere und Jäger. Die bösen Mörder. Sterne, die bei uns, über dem Dadajsee und Bartoszyce, im Winter so deutlich zu sehen waren wie in dem Olsztyner Planetarium – Olsztyn (Allenstein) ist die Hauptstadt Warmia und Masurens. In Olsztyn hat Kopernikus gearbeitet und gelebt – die Sonne angehalten, der Erde einen Tritt gegeben ... Überhaupt war der Himmel über meiner kleinen Heimat Warmia (Ermland) in Masuren das Wichtigste. Er war schwarz und erleuchtet zugleich. Ein gewaltiges Sommer- und Wintergebäude. Insofern ist Heimat für mich vor allem dies: Eine Erinnerung an meine Kindheit in Polen, an den sternhagelvollen Himmel, der immer so verrückt war wie die Kommunisten, wie die Männer von Bartoszyce, wie die Fische im Dadajsee. Wie die katholischen Friedhofskreuze und Priester. Wie die Frauen, die nur eines wollten: Auf Händen getragen zu werden.

Für den Philosophen Ernst Bloch war Heimat die »Zielsetzung allen Hoffens«, niemals ein Ort, sondern ein Prozess. Für Hilde Domin war das Meer die Heimat, für Herbert Achternbusch ist sie das Ewige, Lautlose... und für Sie?

Natur. Meine Heimat ist die Natur Warmias. Ich bin aufgewachsen in einem intakten Paradies. Zumindest was die Natur angeht. Und ich wurde aus diesem Paradies vertrieben. Heute, wenn ich in Italien oder Spanien unterwegs bin, bewundere ich das Meer oder die Berge. Aber der Geruch der Lärchen und Kiefern und der blühenden masurischen Seen und der Geruch der toten Aale und Stinte kann durch die südländische Schönheit nicht ersetzt werden. Der Ort, an dem man zum ersten Mal lernt, wie eine Kiefer oder ein Kartoffelfeld oder eine Tankstelle oder die Liebesexkremente riechen, wird zur Heimat – es geht um die Muttermilch, um das reine Heroin.

Wo liegt Ihre persönliche Heimat? Ist das ein Garten, eine Stadt, oder wo der Schreibtisch steht?

Ich bin verdammt dazu, mich ständig zu erinnern. Meine Heimat liegt in der Erinnerung. In der Suche nach dem verlorenen Paradies. Und es ist schwer, vor allem wenn man belletristische Bücher schreibt, der Melancholie und Sehnsucht zu entgehen: Die beiden Gefühlsorgien haben in der Literatur nichts zu suchen – einerseits. Andererseits müssen sie ständig beschrieben werden, weil sie unsere Liebe ausmachen. Wer als Autor diesen Gefühlsspagat schafft, ohne sich ein Bein zu brechen, kann durchaus dem menschlichen Dasein Göttliches, Unvergängliches oder gar Vollkommenes - bei all unseren Fehlern, lächerlichen Fehlern - abgewinnen.

Was trennt Sie von der Heimat?

Meine Entscheidung, die ich vor 17 Jahren getroffen habe, auf Deutsch zu schreiben. Aber auch meine Vergangenheit. So seltsam das klingen mag: Die Vergangenheit schafft ungeheure Distanz zu unserem Dasein, mit der man nur schwer umgehen kann.

Welche Rolle spielt Heimat in Ihrem schriftstellerischen Werk?

In meinen Büchern die Hauptrolle. Aber das hängt nicht damit zusammen, dass ich Pole bin, ein deutscher Autor und weil ich mein Land 1985 verlassen habe. Ich schreibe über das, was ich kenne. Die Fiktion, die ich aufbaue, ist eine große Lüge. Sie ist lediglich ein literarisch-handwerkliches Mittel, um dem Leser den Zugang zu meinen Geschichten zu erleichtern. Und ich kämpfe dagegen, dass wir uns Menschen nur als Mitglieder einer Nation begreifen. Das Stammesbewusstsein hat ausgedient. In erster Linie sind wir kosmische Wesen, die den Planeten Erde bewohnen und für ihn große Verantwortung tragen. Wir leben im Universum – nicht nur in Deutschland oder Kasachstan. Spätestens mit dem Tod wird uns Göttliches und Teuflisches klar – damit auch die Tatsache, dass wir alle aus ein und derselben Quelle kommen. Die Religionen – mögen sie uns belehren, beeinflussen oder im Schach halten – müssen allmählich einsehen, dass wir alle sechs Milliarden Planetenbewohner gemeinsamen Ursprung haben, und auch wenn man ihn nur auf den Urknall, bei dem angeblich alles entstand, reduzieren würde.

Woran arbeiten Sie gerade?

Zurzeit an zwei Exposés für zwei neue Prosabücher, die als Romane geplant sind. Außerdem an dem Fahnenabzug meines neuen Romans »Das Herz von Chopin«, der im August dieses Jahres veröffentlicht wird. Und ich habe endlich einen neuen Gedichtband abgeschlossen: »Ein Kiosk mit elf Millionen Nächten«, und diese Arbeit hat 7 Jahre gedauert. Es ist ein Monstrum geworden, eigentlich gar kein Gedichtband mehr, weil das Manuskript neben meinen Gedichten auch Übersetzungen aus der polnischen Dichtung wie auch Aufsätze und Prosa enthält. Es hat sich verselbständigt, und das ist gut so, dass Bücher lebendig sind und ihren eigenen Weg suchen.

Sind Ihnen die Literaturtage ein Begriff? Mit welchen Erwartungen kommen Sie nach Weiden?

Das Festival, das ich bis dato noch nicht kannte, findet ja im Mai statt. Ich hoffe vor allem auf wunderschönes Maiwetter, außerdem habe ich von einem Dichterkollegen gehört, dass die Gegend um Weiden herum sehr schön sein solle – so schmackhaft wie das Bier und das Essen in Ihrer Heimat. Und die Ruhe, die die Weidener Landschaft verspricht - auf die freue ich mich ganz besonders.

 

 

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