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Interview mit Artur Becker zum Thema Heimat
Von Konrad Lischka (Bücher-Magazin)
K. L.: Was assoziieren Sie, wenn Sie »Heimat« hören? Welche Bilder, Gerüche, Geräusche, Empfindungen, Orte, welchen Geschmack?
A. B.: Da denke ich sofort an meine Kindheit. Und Jugend. Das Kindheitsparadies Ermland und Masuren und meine Jugendliebe. Der blühende See, der Tang, die Kirschbäume. Der Sommer im Bootshafen. In Bartoszyce denke ich an die Winter. Selbst der Schnee, der kalt roch. Nach Salz und Sand und Himmel. An Gedichte denke ich und an Mädchen und Frauen, die im Frühling die Kleider wechselten und etwas Leichtes anzogen. Und der Sozialismus hat natürlich gerochen. Säuerlich, etwas traurig wie Ingwer. Aber ich liebe diese Gerüche und vermisse sie. Darüber schreibe ich meine Bücher.
Ihr Idealbild von Heimat?
Schwer zu sagen. Ein Planet im Weltall – gerade mal so groß wie mein kleines Ermland und Masuren. Und wenn man sich in diesem Land auf Reisen begibt, hat man den Eindruck, als würde man auf eine Weltreise gehen. Kontinente verlassen, andere Planeten besuchen. Ja, das ist mein Ideal: ein kleines Ermland, doch so groß wie eine Galaxie.
Hilft Ihnen diese Idee, Ihre Geschichte zu verstehen, Ihren Platz in der Welt zu finden? Falls ja: Wie?
Ich glaube, dass ich einen Halt in der Welt habe. Ich bin nicht so einfach zu besiegen, zu vernichten. Ich habe gelernt, in den Mohnblumen oder der Kopernikus-Straße, in der ich aufgewachsen bin, Großes und Vergängliches zu sehen. Ich sehe, wie die Geschichte rollt. Meine private und unsere kollektive. Das sind riesige Steine. Eine Moränenlandschaft eben. Wie das Ermland – mein Warmia.
Prägen Dichter Heimat oder ein Heimatbild? Haben Sie da konkrete Erfahrungen mit Lesern gemacht? Welche?
Na, Heinrich Heine möchte ich hier nicht zitieren. Bin ich ein Loreley-Dichter? Nur ein bisschen. Und Leser lieben es, wenn der Dichter ihnen gehört – wenn er sich zu ihnen und ihrer Nation bekennt. Er darf sogar ein bisschen verrückt sein, aber er darf ihnen nicht das Gefühl geben, sie seien alleine – ohne ihren großen Dichter. Sie dürfen nicht den Eindruck haben, er würde sie nicht brauchen.
Wie wichtig ist Heimat als Motiv in der Literatur? Wird es wichtiger?
Heimat ist vor allen Dingen Provinz, und Provinz, der Mikrokosmos, macht die Literatur groß. Denken Sie an so viele Bücher – meine und Klassiker. Steinbeck und Hemingway.
DAS Buch über Heimat für Sie?
Hm … Ich glaube, »Die Früchte des Zorns« von J. Steinbeck, weil dort Menschen die Heimat verlieren – auf der Suche nach Arbeit. Ja, definitiv »Die Früchte des Zorns«, denn außerdem ist Kalifornien mit den Orangenfeldern ein Symbol für das Paradies, und kollektiv suchen wir nach unserem Garten Eden. Wir wollen zurück zum Ursprung. Aber ich würde auch »Das Tal der Issa« von C. Milosz auf diese einsame Insel mitnehmen.
Wie, wo, mit wem verbringen Sie den Weihnachtsabend?
Es werden zwölf Gerichte serviert, vor allem Fisch und Salate, kein Schweinefleisch! Meine Schwiegereltern kommen aus Poznań. Wir werden speisen, trinken und uns alte Familiengeschichten und -witze erzählen – bei uns zu Hause.
Ihr Lieblingsessen? Wer kann es am besten kochen? Wo haben Sie es zuletzt gegessen?
Mein Lieblingsessen ist Fisch – gebraten und in Tomatensoße. Hecht oder Karpfen. Dazu Pilze und Kohl, nach dem Rezept meiner Frau.
Sie schneiden sich in den Finger – wie fluchen Sie?
Auf Polnisch! Ich sage »cholera jasna« oder »kurwa, niech to chuj strzeli!«.
In welcher Sprache sprechen Sie mit Ihren Eltern? In welcher mit Ihren Großeltern?
Mit meinen Eltern auf Polnisch, mit meiner Großmutter Erna auf Deutsch oder auch auf Polnisch. Sie ist 80. Alle anderen leben nicht mehr.
Wann haben Sie zuletzt Ihre Eltern gesehen? Wann Ihre Großeltern?
Ich sehe meine Eltern regelmäßig. Da ich aber viel unterwegs bin – selten. Meine Großmutter lebt zurückgezogen,
Wie viele Ihrer Verwandten kennen Sie persönlich?
Viele, viele. Mehr als vierzig.
Auf wie vielen Familienfeiern waren Sei im vergangenen Jahr?
Oh! Auf wenigen – wie gesagt, ich verreise viel, weil ich Lesungen habe, Symposien usw. Doch 2, 3mal im Jahr ist richtig was los. Entweder bei mir oder in Ermland und Masuren, wenn ich meine Heimat besuche.
Wie, wo, mit wem verbringen Sie Silvester?
Ist noch nicht entschieden. Sehr wahrscheinlich das erste Mal seit Jahren mit meinem Sohn, der schon bald, in vier Monaten, 12 wird. Freunde kommen zu uns, Bremer, vielleicht auch Berliner und Frankfurter.
Was ist Ihre Heimat?
Ganz eindeutig Polen, bzw. Warmia, das kleine Ermland. Ein armes, ein schönes Land.
Was ist die Heimat Ihrer Eltern?
Meiner Mutter Heimat ist Großpolen, Poznan und ein Dorf bei Poznan. Meines Vaters Heimat ist Warmia. Wie bei mir.
Was ist die Heimat Ihrer Großeltern?
Mütterlicherseits Litauen bzw. Großpolen, denn sie sind ausgewandert aus Litauen. Die Dörfer um Konin herum wurden ihnen ein Zuhause, bis 1947. Danach Masuren. Väterlicherseits Galizien, Lemberg, dann später Ostpreußen. Großvater ist Galizier, Großmutter Erna Ostpreußin. Natangerin, baltisch-masurische Indianerin.
Wann haben Sie zuletzt Heimweh gespürt? Wo und wonach?
Im Prinzip seit Monaten jeden Tag, denn ich hatte diesen Sommer ein langes Grenzgängerstipendium der R. Bosch Stiftung, dort in Ermland und Masuren arbeitete ich an zwei neuen Ideen für zwei neue Romane. Doch meine Heimat und die Sehnsucht nach ihr kann gestillt werden, wenn ich schreibe oder meine Frau liebe. Sie kommt aus Posen, kennen gelernt habe ich sie aber in Masuren, an einem See – 1983.
Was zeigt Ihr liebstes Erinnerungsfoto? Woran erinnert es Sie?
An das Jahr 1984 – als ich ein Jahr lang allein in Polen gelebt und auf meinen Reisepass gewartet habe. Da war ich ein echter polnischer Dichter voller Sehnsucht nach dem Mädchen Magdalena aus Poznan. Voller Sehnsucht nach Gedichten von Boleslaw Lesmian und Edward Stachura. Ich habe Poesie, Bier und Magdalena gefressen. Tag für Tag. Und Musik. Getrunken und gebrannt. Eine Flamme war ich. Eine dumme Flamme. Und so stehe ich auch auf diesem Foto, langes Haar, weißes T-Shirt, eine Jeans, ich stehe in meinem leeren Zimmer, an dessen Wänden Gedichte und Plakate hängen – Film- und Konzertplakate.
Kennen Sie Erzählungen aus ihrer Straße, aus der Stadt, dem Dorf Ihrer Eltern?
Meinen Sie, ob ich Erzählungen aus jener Kindheitszeit kenne? Ja, viele. Viele führen auch zu Büchern. Wie zu dem Erzählband »Die Milchstraße« oder zu der Novelle »Die Zeit der Stinte«.
- Die ersten Orte und Menschen, an die Sie sich bewusst erinnern? Wie haben die Sie geprägt? Wann zuletzt dort gewesen?
Es gibt zwei Orte, die entscheidend waren und sind: Der Dadajsee, der ständig neue Opfer fordert, Menschen, die in diesem See ertrinken. Dort verbrachte ich einen großen Teil meiner Kindheit. Im Herzen von Ermland. Dann meine Geburtsstadt. Bartoszyce, sprich Bartenstein. Eine Burg der Kreuzritter, der Kommunisten, der Säufer, der verkannten Dichter, der Schmuggler, der Frauen und Mädchen, die geliebt und begehrt werden wollten und wollen. Der ewige Winterschlaf und der ewige 1. September, wenn die Schule anfing. Am 1. Mai dionysische Spiele. Eine Stadt wie Ur. Oder Babylon. Für mich der Anfang und das Ende.
Eine Tradition Ihrer Eltern, die Sie pflegen?
Ja, eine einzige: Kleinen Jungs sage ich – Küsse deine Mutter nicht, denn wenn du es tust, wird dir eines Tages ein Schnurrbart wachsen …
Eine Tradition, die Sie, nicht aber Ihre Eltern pflegen?
Es gibt kleine Rituale. Wenn ich meine polnischen Verwandten treffe, muss es Wodka geben. Doch selbst wenn ich in Deutschland unterwegs bin und irgendwo lese, bestelle ich mir zum Abendessen zwei oder drei Gläser Wodka.
Wie oft umgezogen? Längste Distanz? Die kürzeste?
Na, der eine Umzug reicht vollkommen – 1024 Kilometer von Bartoszyce nach Verden bei Bremen.
Wie weit entfernt von Ihnen wohnen Ihre Eltern? Wo leben die Verwandten mit der größten, mit der kleinsten Entfernung zu Ihrem Wohnort?
Meine Verwandten leben in Polen und in Kanada. Das ist weit. Calgary und Bartoszyce oder Wroclaw. Ja, sehr weit. Meine Eltern leben aber in meiner Stadt.
Wie weit entfernt von Ihnen lebt Ihr bester Freund, Ihre beste Freundin?
Ein sehr guter Freund lebt in Pabianice bei Lodz. Robert sehe ich zweimal im Jahr. Der Rest der Freunde lebt in Hamburg und Bremen oder Berlin.
Wie viele Freunde haben Sie, die Sie nur mit dem Flugzeug besuchen können?
Freunde in Los Angeles und New York.
Kann man in mehr als einem Land zu Hause sein?
Nein. Deutschland wird nie mein richtiges Zuhause sein. Das Zuhause ist dort, wo man die Muttersprache gelernt und seine Kindheit verbracht hat. Trotzdem bin ich Deutschlands zweites Kind geworden und habe in diesem Land meine zweite Heimat gefunden. Aber, wie gesagt, dieses Zuhause ist erfunden bzw. ein Produkt des 20. Jahrhunderts und seiner Chimären. Außerdem ist Deutschland meine Bestimmung und Aufgabe – wer weiß, was ich lernen soll! Der Schöpfer wird es mir eines Tages verraten. Außerdem wollen die Deutschen nicht, dass ich ein Deutscher bin. Verstehen Sie, letztendlich sind wir Erdlinge.
»Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen«, schrieb Theodor Fontane. Empfinden Sie auch so? Beziehungsweise: Haben Sie in einem konkreten Moment so empfunden?
Ein wenig pathetisch. Europa hat sich verändert. Sehr schnell ändert sich Europa. Und Frankreich, Deutschland und Polen können durchaus eines Tages ein Staat werden, denn sie haben in Europa sehr viele Gemeinsamkeiten und Interessen. Die Fremde empfinde ich in Deutschland nicht mehr. Ich bin ein deutscher Autor geworden, obwohl ich mich für einen Polen und Ermländer halte. Am Anfang war es schwer. Die Sprache hat mich fast getötet. Die deutsche Sprache. Und die deutsche Mentalität – sie ist eben nicht slawisch. Ich habe durch Deutschland vieles gelernt und vieles verändert. Ich bin toleranter und liberaler geworden – nach 20 Jahren. Die Fremde lehrt einen Respekt vor der neuen, zweiten Heimat, aber auch vor der alten, ursprünglichen. Man gewinnt Distanz und wird sehr aufmerksam – vor allen Dingen in explosiven, politischen Gesprächen über die Identität und Grenzgänger.
Kann man das: Heimat verlieren? Haben Sie schon einmal so empfunden?
O ja. Das Land, in dem ich gelebt habe, gibt es nicht mehr. Das neue, demokratische Polen ist für mich ein fremdes Land geworden, das ich voller Staunen besuche und das ich neu kennen lerne. Ich bin ein Kind des Sozialismus. Des Kriegsrechts.
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