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Interview mit Artur Becker
am 14.02.06 im Schloss Genshagen

(Berlin-Brandenburgisches Institut für Deutsch-Französische Zusammenarbeit in Europa)

Von Christiane Nowak

C. N.: Sie haben heute im Schloss Genshagen im Rahmen eines Seminars zum Umgang mit der Geschichte in Deutschland und Polen ihr neues Buch, die Novelle „Die Zeit der Stinte“, vorgestellt. Worum geht es in diesem Buch? Wer oder was sind Stinte?
A. B.: In dem Buch geht es um zwei Generationen, um zwei Familien: eine polnisch-deutsche Familie und eine jüdische Familie aus New York. Die polnisch-deutsche Familie kommt aus Bremen und es geht darum, dass eine junge Journalistin, 29-jährig, Mona Juchelka, nach Deutschland kommt, völlig unerwartet, überraschend. Sie will ihre Familiengeschichte recherchieren und aus Deutschland weiterreisen nach Polen.
Sie trifft in Bremen den Deutsch-Polen Chrystian Brod. Mona selbst ist die Enkelin eines KZ-Opfers, eines ehemaligen KZ-Häftlings aus Stutthof, der sich aber an einem der Nazi-Henker gerächt hat und ihn tatsächlich umgebracht hat. Chrystian Brod ist nicht nur ein Loser, sondern vielleicht auch ein Poet oder ein Träumer, dessen Leben ziemlich am Ende ist: Seine Frau hat ihn verlassen, er hat keinen Job und dann tritt plötzlich dieser Komet in sein Sonnensystem ein und bringt neues Leben, das Chaos. Es werden zwei Sachen erzählt: die Begegnung zwischen Mona Juchelka und Chrystian Brod und dann wird aus der Perspektive des Täters erzählt, was sich 1947 tatsächlich am Geserichsee abgespielt hat, als das Flugboot des Großvaters von Mona Juchelka gelandet ist.
Stinte sind Fische, sprich kleine, goldene Heringe, die süßlich schmecken, die einen sehr üblen Geruch haben und sie kommen nur im Februar, März, April in die Gewässer aus dem Meer und dem Küstengebiet. Sie vermehren sich dann in der Weser, der Elbe und in den Binnenseen. Übrigens Stinte kommen sehr oft in der Literatur vor, selbst Shakespeare hat über Stinte geschrieben.
C. N.: Ich kannte diese Fische nicht.
A. B.: Das Buch wird die Stinte berühmt machen. Sie sind klein und eigentlich sehr niedlich, keine Raubfische.
C. N.: Wie sind sie auf die Idee zu dem Buch gekommen? Wer oder was hat sie dazu gebracht, diese Geschichte zu schreiben?
A. B.: Ich kannte die Geschichte schon lang und nachdem der letzte Roman, „Kino Muza“, fertig war, erzählte mir mein Vater die Geschichte noch einmal und dann fand ich , dass es jetzt soweit ist. Jetzt möchte ich sie erzählen, weil sie sich tatsächlich auch so abgespielt hat, mit diesem Flugboot, mit dieser Hinrichtung. Ich wusste, ich brauchte dafür noch einen Rahmen von heute. Ich wollte das unbedingt so machen, dass die Enkelkinder darüber nachdenken und das erzählen, um einen Zugang zur Gegenwart zu haben und um so die Vergangenheit zu sehen. Die Geschichte hat mich einfach fasziniert, weil sie faszinierend ist und ich finde auch faszinierend, dass ich so etwas in meinem Leben habe, solche Geschichten, die sich an einem See abgespielt haben, wo ich meine Kindheit verbracht habe. Die Geschichte gehört zu mir, das ist meine Geschichte. 
C. N.: Sie sind Mitte der 1980er Jahre nach Deutschland gekommen. Sie schreiben sehr oft über ihr Heimatdorf, Bartoszyce in Warmia.  Welche Rolle, welche Besonderheit hat dieser Ort der Kindheit für sie? Was ist das Besondere an Bartoszyce für sie?
A. B.: Das Besondere ist folgendes:  Es gibt Autoren, die schreiben über das Jetzt und es gibt Autoren, die sich vollkommen auf die Vergangenheitsbewältigung konzentrieren und ich glaube,  ich bin solch ein Autor, der zu der zweiten Sorte gehört. Ein so genannter Kindheitsautor, der im Grunde genommen verarbeiten muss, was gewesen ist. Zusätzlich komme ich aus einem Gebiet, das eine sehr, sehr geschichtsträchtige Vergangenheit hat. Es gehört eigentlich niemandem, weder den Deutschen noch den Polen, sondern nur den baltischen indianischen Stämmen, die im Zuge der Christianisierung entweder  vernichtet oder aufgenommen wurden in die christliche Gesellschaft, von den Litauern und später auch von den Polen. Das ist ein Gebiet, in dem es unheimlich viele Sprachen und Religionen, Vorstellungen gab. Das wirkt sich auf das literarische Gemüt, das literarische Schreiben und Geschichtenerzählen aus. Außerdem ist es eine Landschaft, die sehr urtümlich ist, sehr, wie sagt man, indianisch, archaisch, mit der Natur verbunden - wobei ich mir keinen Pantheismus vorwerfen lassen würde. Ich suche keinen Gott in der Natur, dazu bin ich zu katholisch, der Gott muss schon eine Individualität sein. Ich könnte auch Steine und Bäume verehren, das kann man in einem Gedicht machen, man kann darüber schreiben, das hat aber mit Pantheismus nichts zu tun, glaube ich.
C. N.: In einem Essay „Westerland, mein globales Dorf mitten in Europa“, der 2004 in dem deutsch-polnischen Magazin „Dialog“ veröffentlicht wurde, haben sie Deutschland als ihr Schlaf- und Arbeitszimmer bezeichnet. Was ist Polen in ihrem persönlichen Haus, in ihrer Wohnung. Was für ein Zimmer nimmt Polen ein?
A. B.: Polen ist die Küche. Weil sich in Polen alles in der Küche abspielt. In der Küche werden Kinder gezeugt, in der Küche wird Wodka getrunken mit Freunden, in der Küche kocht die Großmutter das Weihnachtsessen. Küchen sind in Polen der Ort, wo die Großmutter sagt, holt euch was, ich hab da was, die Töpfe stehen auf dem Herd. Also vieles spielt sich dort ab, und vieles privates . Es wäre falsch gewesen von mir zu sagen, Polen sei mein Wohnzimmer. Die Küche ist ja auch etwas - ich heiße Becker mit Nachnamen - sehr Produktives, Schöpferisches, das passt ja auch symbolisch.
Deutschland ist als Arbeits- und Schlafzimmer mit den Träumen verbunden. Also Deutschland als das Land der Dichter und Denker. Der Psychologe, der Philosoph, der Schriftsteller schlafen und denken.
Polen ist ein Land der Küche, weil es sich etwas in Europa bewahren konnte, was teilweise, wie in Litauen oder in der Ukraine, etwas sehr Archaisches hat, das muss nicht immer mit der Familie zusammen hängen. Das ist Lebensfreude.
Vor kurzem hat die Bundesregierung erlassen, dass jeder der Hartz-IV-Empfänger ist, bis zum 24. oder 25. Lebensjahr aus der Wohnung der Eltern nicht ausziehen darf. Ich meine, in Deutschland muss man das per Gesetz veranlassen, in Polen ist das selbstverständlich.
C. N.: In dem schon erwähnten Essay haben sie auch geschrieben, sie würden sich in der deutschen Sprache und in der internationalen Literatur verstecken. Warum müssen sie sich verstecken und wie funktioniert dieses Verstecken? Wie kann man sich in einer Sprache verstecken?
A. B.: Ich musste mir eine neue Identität borgen. Ich kann zwar einen Ring tragen mit dem polnischen Staatswappen und kann jedes Jahr nach Polen fahren. Aber ich lebe nicht mehr in diesem Land, ich kenne das Land nicht mehr, das heißt, ich muss es wie jeder andere lernen. Bei mir ist es noch einfacher, da ich polnisch kann und da ich dort geboren wurde und die ganzen Zusammenhänge mir einfach begreiflich sind, im Vergleich zu den Deutschen oder den Franzosen. Ich musste mich in der deutschen Sprache und der internationalen Literatur verstecken, um mir eine neue Identität zu bauen und zu suchen. Und um einen Ersatz zu finden. Das ist pathologisch, ich weiß, das ist Psychologisierung oder Psychiatrisierung auf höchstem Niveau. Aber leider sind wir so konstruiert, dass wir nach einem Ersatz suchen. So wie es mit der Suche nach dem Vaterersatz funktioniert, so ist das, glaube ich, hier der Fall gewesen. Wobei ich mit Psychologisierung nichts zu tun habe, ich mag das nicht. In meinen Büchern gibt es keine Psychologisierung, es wird gesagt, wie es ist.
C. N.: Wie werden ihre Bücher in Deutschland und Polen aufgenommen? Welche Reaktionen bekommen sie darauf?
A. B.: Rezensionstechnisch funktioniert das alles wie in Deutschland. Deutschland ist ein Land, das Literatur hervorragend fördert.  Es gibt so viele Stiftungen, so viele Stipendien, Bücher werden pausenlos besprochen, es gibt die größte Buchmesse der Welt. Das funktioniert alles fabelhaft.
Die persönlichen Reaktionen sind unterschiedlich. Es gibt Feinde, es gibt Freunde. Für die Polen mache ich etwas Seltsames: Ich schreibe nicht auf polnisch, sondern auf deutsch, ich bin ein relativ erfolgreicher Autor, der in seiner Generation zu den wichtigsten deutschsprachigen Autoren gehört. Aber gleichzeitig wissen sie auch, wie sie das einzuordnen haben.
Die Rezeption in Polen läuft auf vollen Touren, an Universitäten. Ob das jetzt mein Name ist, oder der von Radek Knapp oder Dariusz Muszer oder von anderen. Diese Rezeption ist schon längst vorhanden. Sie ist sehr unterschiedlich, meistens konzentriert sie sich leider viel zu sehr auf diese Emigrantenthematik. Das ist zwar meine Bühne, aber es geht um uns Menschen in erster Linie. Bei mir hat da auch so eine seltsame Vermischung stattgefunden. Ich bin ein hochgradig moderner deutschsprachiger Autor von heute, aber mit sehr eigenen Themen. Das ist vielleicht auch faszinierend, ich weiß es nicht. Ich finde das viel interessanter als einen „normalen Muttersprachler“, der beim Aufbau-Verlag drei Romane veröffentlicht hat. Auch in anderen Ländern gibt es das: in Frankreich z.B. das Phänomen der „métissage“. In Deutschland ist das ein bisschen anders, aber es funktioniert wirklich hervorragend. Ich bin ja nicht der Einzige. Es gibt ja so viele Autoren, die sie sicher kennen, z.B. Feridun Zaimoglu. Wobei einige auch ein bisschen betrügen. Feridun Zaimoglu wuchs in Deutschland auf, lernte deutsch in der Schule. Ich habe deutsch erst richtig mit 16, 17 Jahren gelernt. Das ist etwas anderes, als wenn man mit zwei oder fünf Jahren nach Deutschland kommt und dann sofort in den Kindergarten oder in die Schule geht, da wird es eine akzentfreie Muttersprache. Für mich ist es eine zweite Muttersprache.
C. N.: Aber eine andere Kultur hat man ja immer im Hintergrund.
A. B.: Ja, natürlich immer, alleine schon vom Aussehen. Ich bin kein Rassist, aber Feridun Zaimoglu sieht einfach aus wie ein Türke. Das reicht schon. Wenn ein Pole in Berlin auf der Straße geht, weiß man nicht, dass er aus Polen kommt, weil er Europäer ist.
C. N.: Ich bedanke mich für das Gespräch.

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