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Neue Zürcher Zeitung, 12. Februar 2005

Virtuosen der Distanznahme

Zur Konjunktur des literarischen Grenzgängertums zwischen Ost und West

Erstaunlich, welche Konjunktur der Osten im Westen erfährt, seit beide Himmelsrichtungen nicht mehr metonymisch für Blöcke und Systeme stehen. Die europäische Teilung ist tot, ihre Chiffren aber erfreuen sich zumindest in der Literatur jüngerer Autoren wie Wladimir Kaminer, Artur Becker und Radek Knapp quicker Lebendigkeit.

Von Jörg Plath

SEuropas östliche Gefilde sind literarisch derzeit im deutschen Sprachraum sehr gut vertreten. Sie stehen bei drei Schriftstellern im Zentrum des Schaffens, die aus der Kälte kamen, als sie nicht mehr ganz so peinigend war: Wladimir Kaminer, Artur Becker und Radek Knapp. Kaminer, dem erfolgreichsten unter ihnen, konnten und wollten Zeitungsleser und Radiohörer in den neunziger Jahren nicht entkommen: Der russische Auswanderer sendete auf allen Kanälen. Das wäre zu Zeiten des Eisernen Vorhangs und der Mauer undenkbar gewesen. Wer damals aus dem real existierenden Sozialismus in den ebenso realen Kapitalismus geriet, der kam unfreiwillig, als Dissident. Er blieb unter seinesgleichen, schrieb in der Muttersprache, hoffte auf Wirkung zu Hause und wollte wie Lew Kopelew oder Pavel Kohout baldmöglichst zurückkehren.
Anders die, die nach ihnen oder als Jugendliche kamen. Kaminer (geb. 1967) reiste 1990 als russischer Jude aus Russland nach Berlin, Becker (geb. 1968) zog mit 17 Jahren aus Polen zu seinen Eltern nach Bremen, und Knapp (geb. 1964) kam schon 1976 aus Polen nach Wien. Den Wechsel des Landes konnten alle drei nicht als Systemwechsel erleben - sie waren entweder zu jung, oder der Sozialismus kollabierte gerade.
Dennoch stehen ihre auf Deutsch verfassten Bücher ganz im Zeichen des Ost-West-Gegensatzes: Artur Beckers "Die Milchstrasse" (2002) und "Kino Muza" (2003) ebenso wie Radek Knapps "Herrn Kukas Empfehlungen" (1999) und "Papiertiger" (2003). Oder Wladimir Kaminers zahlreiche Werke (z. B. "Russendisko", 2000). All diese unverhohlen autobiografischen Bücher erzählen von Bewegungen zwischen Ost und West. Freilich kommt es dabei weder auf den Osten noch auf den Westen sehr an. Beide sind Wiedergänger der etwas schrägeren Art. Und: Sie setzen den Helden ins rechte Licht.

SEHNSUCHT UND ANGST
Vom Osten, so bedeuten Becker, Knapp und Kaminer ihren Lesern munter, ist nichts zu erwarten. Das ist starker Tobak, pflegen die Deutschen doch von dort gern die Rettung zu erwarten. Besonders Russland war eine deutsche Seelenlandschaft, geprägt durch die zivilisationskritischen Strömungen des späten 19. Jahrhunderts und den Zweiten Weltkrieg. Den Deutschen lockten und ängstigten die russische Seele und das weite Land. Beide waren dionysisch entgrenzend und doch voll ursprünglicher Sittlichkeit, grausam und rein, elementar und gottnah. In den letzten Jahren ist das Sehnsuchtsbild indes durch das katastrophisch-anomische Bild überlagert worden: Industrieruinen, Giftmüll, Mafia, Korruption.
Kaminer, Becker und Knapp scheren sich nicht um die Natur. Den Zerfall von Kultur, Staat und Gesellschaft in Russland beziehungsweise Polen aber malen sie augenzwinkernd aus. Kaminers Russen sind ein Haufen von nicht unsympathischen Betrügern und Lebenskünstlern, Becker legt Wert auf sexuell aktive, zuweilen hörige Frauen, Knapps Polen sind autoritäre Schwätzer und nicht sehr helle Kleinkriminelle. Es herrschen Korruption und das Gesetz des Stärkeren. Alkohol ist ein empfehlenswertes Nahrungsmittel, Promiskuität an der Tagesordnung und die Stimmung dennoch ziemlich gedrückt. Aus dem Archipel Gulag wird der Archipel Schlendrian & Sodom. Wäre der ironische Unterton nicht - antikommunistische Haudegen früherer Jahre müssten vor Neid erblassen.
Immerhin: Kaminer beschäftigt sich einmal mit einem Ursprungsmythos des deutschen Russlandbilds. In "Die Reise nach Trulala" erzählt die Titelgeschichte von der Suche eines Deutschen nach Spuren von Joseph Beuys, der als Funker 1943 auf der Krim abgeschossen wurde. Tataren pflegten den lebensgefährlich Verletzten mit Fett und Filz ihrer Tiere, mit Milch, Honig, Quark und Käse gesund. Beuys überliefert in seinem Werk eine spezifische Variante des zeitenthobenen mythischen Bildes von Russland: Steppe, Nomadentum und Schamanismus. Kaminers Mythensucher findet Tataren, die fliessend Deutsch sprechen, Ausflüge zur vermeintlichen Absturzstelle anbieten und einen florierenden Devotionalienhandel mit Filz und Wrackteilen betreiben. Ein älterer Mann beteuert gar, der leibliche Sohn des Künstlers zu sein.
Die Erzählung ist ein Lehrstück über Mythenproduktion und Authentizität. Kaminer überschreibt den Mythos vom Osten als Ort authentischer, ursprünglicher, elementarer Erfahrungen durch zeitgenössische Geschäftstüchtigkeit. Osten und Westen konvergieren. Nur noch eine Instanz bleibt übrig: der Autor. Kaminer hat von sich behauptet, er erfinde nichts, er erzähle sein Leben. Das heisst: Nur Kaminer ist authentisch. Man kann es die Individualisierung des Ostens und des Westens und ihrer Bilder nennen.
So verheerend es um den Osten steht - Becker, Knapp und Kaminer wird der Westen darüber nicht zum Paradies. Davor bewahrt ihre Bücher die Nähe zum Alltag. Desillusion ist nicht ihr Thema, sondern das der älteren Generation. Sie empfiehlt den jungen Helden Kaminers, in ein "stabiles soziales System" des Westens einzuwandern, während "Herrn Kukas Empfehlungen" bei Knapp auf eine einzige hinauslaufen: Komm bloss mit Geld zurück.
Doch den Jungen geht es nicht um Wohlstand. Wladimir treibt mit Getränkedosen vom Supermarkt nebenan spielerisch Handel, Waldemar sieht sich als Tourist um, und Antek Haack in Beckers "Kino Muza" spart seinen Verdienst, um sich mit Freunden im masurischen Bartoszyce das Kino Muza kaufen zu können. Als sich die polnische Staatssicherheit 1988 am Kauf des Lichtspielhauses beteiligt, wandert Antek nach Bremen aus. Wohl fühlt er sich dort keinesfalls: "Deutschland war wie Sodbrennen. Nachts wachte man auf und sass senkrecht im Bett."
Solche Distanz zum Westen verspüren alle drei Autoren. Dieselbe Distanz halten sie zum Osten. Es ist wie die Wahl zwischen Pest und Cholera oder Skylla und Charybdis. Der Westen ist so gut oder schlecht wie der Osten. Am Besten ist an ihnen freilich, dass es sie überhaupt noch gibt: Denn sie erlauben die Wechsel zwischen ihnen. Die Helden gehen von Ost nach West und von West nach Ost, weil ihre Bewegungen, nicht deren Ziele das Entscheidende sind. Das lässt keine bürgerlichen Biografien erwarten.
Die Helden wollen keine sein. Radek Knapp lässt seinen Helden Walerian Gugania in "Papiertiger" nach Aushilfsarbeiten überraschend zum gefeierten Jungautor aufsteigen. Der Erfolg erscheint Walerian unglaubwürdig: "Er (Walerian) war jedenfalls nicht derjenige, für den man ihn hielt." Nicht anders erginge es Kaminers und Beckers Helden, doch ihnen bleibt diese Verlegenheit erspart. Denn sie wollen nur über die Runden kommen.
Nicht zufällig verhalten sie sich wie Jugendliche. Denn der Westen verjüngt: Zu Hause befänden sie sich längst in festen Händen und hätten Kinder. Die verlängerte Adoleszenz wird freilich mit dem Verlust von Beziehungen erkauft. Die Männer sind allein, das heisst: ohne ihre Kumpel (die wechselnden Frauen bei Becker und Knapp zählen nicht so richtig). Diese Einsamkeit ist ein Reflex der Distanz zu Herkunft und Aufenthaltsort: Während die osteuropäischen Dissidenten ihr Leben im Westen als vorübergehend empfanden, wirkt es bei Kaminer, Becker und Knapp wie ein auf Dauer gestellter Transit.
Für dieses Paradoxon finden die drei Autoren unterschiedliche Typen. Radek Knapps Vorbilder stammen aus tschechischen Schelmenromanen: Waldemar und Walerian überstehen wie Traumtänzer die Zumutungen der Realität. Wladimir Kaminer erzählt von grossmäuligen Verwandten dieser Schelme. Diesen Schwadronierern ist die Welt ein Zirkus, deren Kapriolen beschrieben werden wollen. Artur Becker schreibt Schelmenromane ohne Schelm, ernst wie meist die polnische Literatur. Die Welt in ihnen ist undurchschaubar, oft absurd, aber die Helden reagieren darauf nicht mit der Subversion des Witzes, sondern mit gesteigerter Männlichkeit. Die Beziehungen zu Frauen besitzen kolportagehafte Züge, geliebt wird die masurische Heimat.

INGENIEURE DER SEELE
Ob als staunender Schelm, schwadronierender Ethnologe oder einsamer Kämpfer gegen weibliche wie weltliche Herausforderungen - Knapp, Kaminer und Becker zeigen den Osteuropäer im Westen als Grenzgänger, der zum Osten wie zum Westen, zu Beruf wie Bindung die gleiche Distanz verspürt. Daher präsentieren die Autoren keine neuen Bilder von Ost und West - sie entkernen die vorhandenen und versehen sie mit ironischen Indizes. Ihnen liegt an der Bewegung über jegliche Grenzen hinweg. Die Distanz ist entscheidend, nicht das Distanzierte. Der sanft bizarre Alltag von Antek, Walerian und Wladimir wird zum Modell entspannten Daseins für ein junges Lesepublikum.
Und die Chiffren Osten und Westen? Ihnen ist ein langes Leben verheissen. Denn Kaminer, Becker und Knapp sind moderne Ingenieure der Seele und wissen, dass der Mensch Orientierung braucht.

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