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Dialog Nr. 68, Oktober - November 2004

Waldimir Kaminer, Radek Knapp und Artur Becker -

drei deutschsprachige Schriftsteller mit
osteuropäischem Hintergrund.

Von Jörg Plath

Sie sind die Ingenieure der deutschen Seele, Zuständigkeitsbereich Osten. Auf Deutsch schreiben sie Bücher, in denen Antek, Walerian und Wladimir aus Polen und Russland nach Bremen, Wien und Berlin reisen - nicht anders als sie selbst: Artur Becker (Jahrgang 1968) ist 1985 aus Polen nach Bremen gezogen, Radek Knapp (Jahrgang 1964) 1976 aus Polen nach Wien und Wladimir Kaminer (Jahrgang 1967) 1990 aus Russland nach Berlin. Von diesem Grenzwechsel erzählen ihre Bücher.
Dabei profitierten Becker, Knapp und Kaminer Mitte der 90er Jahre von dem neu erwachten Interesse für Osteuropa, vor allem aber von der Konjunktur junger deutschsprachiger Literatur, deren ästhetische Prämissen Alltagsnähe, Spaß und Ironie sie teilen. Trotz aller Ähnlichkeiten sind die Unterschiede beträchtlich: Bei Radek Knapp fühlt man sich die Schelme der tschechischen Literatur erinnert, während Artur Beckers Helden trotz strikter Metaphysikabstinenz eher in die Tradition der als ernst geltenden polnischen Literatur gehören.
Am erfolgreichsten ist Wladimir Kaminer. Bekannt wurde der Auswanderer mit einer Tanzveranstaltung in Berlin, auf der er russischen Pop auflegte. "Russendisko" hieß auch sein erstes, sofort erfolgreiches Buch, und einige Jahre lang belieferte Kaminer Medien aller Art und der ganzen Republik mit Feuilletons. Inzwischen ist schon von einem "Kaminer Münchens" namens Jaromir Konecny die Rede. Kaminer ist ein gut eingeführtes Markenzeichen geworden - der Osten leuchtet im Westen.
Die Himmelsrichtungen stehen metonymisch für Gesellschaften, die von Realsozialismus und Spätkapitalismus geprägt sind. Ihre Erfahrung strukturiert die Bücher von Artur Becker ("Die Milchstraße", 2002; "Kino Muza", 2003 u.a.), Radek Knapp ("Herrn Kukas Empfehlungen", 1999; "Papiertiger" 2003) und Wladimir Kaminer ("Russendisko", 2000; "Militärmusik", 2001; "Die Reise nach Trulala" , 2002; "Mein deutsches Dschungelbuch", 2003 u.a.). Auch wenn sich die Handlung dieser Bücher nach 1989 zuträgt, spielen die fort bestehenden Unterschiede zwischen Ost und West in ihnen eine entscheidende Rolle: Es taugt eben schlecht als Lobredner einer neuen Zeit, wer den Ort, an dem sie sich zuträgt, hinter sich ließ und nach Deutschland oder Österreich übersiedelte.
Alle Prosabände erzählen von (realen oder imaginären) Bewegungen der Hauptperson, die oft der Ich-Erzähler ist und dem Autor unübersehbar ähnelt, zwischen Ost und West. Entstehen dabei neue Bilder, die die alten der europäischen Spaltung ersetzen? Welcher Heldentypus folgt auf den osteuropäischen Dissidenten, der lange Zeit die Ost-West-Frage beherrschte? Solchen Fragen nähert man sich am Besten in jenem Dreischritt, den die Prosa selbst vorführt: vom Osten über den Westen zu den Helden.

Osten
Vom Osten, so bedeuten Becker, Knapp und Kaminer ihren Lesern munter, ist nichts zu erwarten. Das ist starker Tobak, erwarteten doch die Deutschen zumindest seit dem Ende des vorletzten Jahrhunderts vom Osten nicht weniger als die Rettung: ex oriente lux. Hoffnungsträger war Russland, weniger Polen, das, wenn es nicht gerade mal wieder von der Landkarte verschwunden war, zu nah lag und als Verfallsversion des Westens galt ("polnische Wirtschaft").
Russland aber war eine deutsche Seelenlandschaft, dessen Bild durch die zivilisationskritischen Strömungen des späten 19. Jahrhunderts und die Erfahrung vor allem des Zweiten Weltkriegs geprägt wurde. Für den im funktional differenzierten "Gehäuse der Hörigkeit" (Max Weber) steckenden Deutschen galt das Land als Ort der Sehnsucht und des Ozeanischen. Die russische Seele und das weite Land lockten und ängstigten zugleich. Sie waren nicht nur für Nietzsche-Leser dionysisch entgrenzend und doch voll ursprünglicher Sittlichkeit, grausam und rein, elementar und Gott nah. Russland stand zwischen Natur und Kultur.
In den letzten Jahren ist das Sehnsuchtsbild durch das katastrophisch-anomische überlagert worden. In abgeschwächter Weise gilt es auch für andere osteuropäische Länder: Der Sozialismus hat die Natur auf Jahrhunderte mit industriellen Ruinen und gefährlichen Altlasten übersät, während Gewalt und Betrug Kultur, Staat und Gesellschaft zerfallen lassen.
Kaminer, Becker und Knapp kümmern sich nicht um die Natur, den Zerfall von Kultur, Staat und Gesellschaft in Russland beziehungsweise Polen aber malen sie augenzwinkernd aus. Kaminers Russen sind ein Haufen von durchaus nicht unsympathischen Betrügern und Lebenskünstlern, Becker legt Wert auf sexuell aktive, zuweilen hörige Frauen, Knapps Polen sind autoritäre Schwätzer und nicht sehr helle Kleinkriminelle. Einig sind sich die Autoren darin, dass staatliche Organe korrupt sind und die Menschen ohne Rücksicht auf Sitte und Gesetz allein ihr persönliches Glück verfolgen. Alkohol gilt als empfehlenswertes Nahrungsmittel, Promiskuität ist an der Tagesordnung und die Stimmung gedrückt, vor 1989 ebenso wie danach.
So heftig fiel nicht einmal die Propaganda der Antikommunisten in der Bundesrepublik aus. Sie geißelten das politisch und durch die Mangelwirtschaft bedingte Leiden, sprachen jedoch nicht von der Lockerung der Moral oder dem Gefühl der Sinnlosigkeit. Knapp und Kaminer machen aus dem Archipel Gulag den Archipel Schlendrian & Sodom und überantworten ihn dem nachsichtigen Gelächter. Allein Artur Becker bleibt ernst und ein wenig traurig angesichts der wirtschaftlichen Lage in seiner Heimatregion Masuren.
Diese Bilder aus dem Transformationsosten stammen wohl aus der eigenen Erfahrungswelt der Autoren. Lediglich Kaminer beschäftigt sich in der Titelerzählung des Bandes "Die Reise nach Trulala" mit einem Urheber des deutschen Russlandbilds: mit Joseph Beuys. Das Flugzeug des Funkers wurde 1943 auf der Krim abgeschossen. Nomadisierende Tartaren fanden den lebensgefährlich Verletzten, versorgten seine Wunden mit dem Fett ihrer Tiere, bedeckten ihn mit Filz und flößten ihm Milch, Honig, Quark und Käse ein. Beuys überliefert in seinem Werk eine spezifische Variante des zeitenthobenen mythischen Bildes von Russland: Steppe, Nomadentum und Schamanismus.
Bei Kaminer reist ein deutscher Freund des Erzählers an die Krim, um Spuren von Beuys zu suchen. Er findet Tartaren, die fließend Deutsch sprechen, Ausflüge zur vermeintlichen Absturzstelle anbieten und einen florierenden Devotionalienhandel mit Filz und Wrackteilen betreiben. Und er findet einen älteren Mann, der beteuert, der leibliche Sohn des Künstlers zu sein: Viktor Josefowitsch Beuys.
Die Erzählung ist ein Lehrstück über Mythenproduktion und Authentizität. Kaminer verändert einen Mythos, der den Osten als Ort authentischer, ursprünglicher, elementarer Erfahrungen beschreibt, indem er dort zeitgenössische Geschäftstüchtigkeit ansiedelt. Die zentrale Pointe, die das merkantile Denken des Westens völlig ungebrochen in den Osten transferiert, lässt die Erzählung - wie oft bei Kaminer - flach wirken. Doch das Ziel einer umfassenden Mythenzerstörung wird erreicht - nicht durch kritische Mittel, sondern durch eine Neufassung, die den konstitutiven Gegensatz aufhebt. Bei Kaminer konvergieren die Bilder des Ostens und des Westens. Die große Ähnlichkeit lässt nur noch eine Instanz übrig: ihn selbst, den Autor. Kaminer hat von sich behauptet, er erfinde nichts, er erzähle sein Leben. Das heißt: Kaminer ist authentisch, nicht Russland, nicht Deutschland. Man kann es die Individualisierung des Ostens und des Westens und ihrer Bilder nennen. Oder auch Transformationsprosa. Sie behandelt beide Teile Europas gleich und kommt damit deutlich schneller voran als der so genannte Transformationsprozeß.

Westen
So verheerend es um den Osten steht - Becker, Knapp und Kaminer wird der Westen darüber nicht zum Paradies. Davor bewahrt ihre Bücher die Nähe zum Alltag. Desillusion ist nicht ihr Thema, sondern das der älteren Generation, weshalb sie in Gestalt von Herrn Kuka meint, dem in den Westen aufbrechenden jungen Waldemar Ratschläge erteilen zu müssen. Die erste von "Herrn Kukas Empfehlungen" im gleichnamigen Roman von Radek Knapp lautet: "Es ist nicht wichtig, wohin du fährst, denn Westen ist überall Westen, sondern wie du zurückkommst" - nämlich mit Geld oder nur einem T-Shirt aus der untersten Etage der Dienstleistungsgesellschaft, auf dem steht: "Womit kann ich dienen?" Herrn Kukas Empfehlungen kümmern Waldemar freilich wenig. Er ist - ebenso wie Kaminers Wladimir - beinahe ein Postmaterialist. Staunen prägt beider Blick auf einen unbegreiflichen Westen.
Bei Kaminer ist das Staunen immerhin noch deutlich materiell motiviert. "Wieso uns ausgerechnet die Deutschen durchfüttern", wundern sich in seiner "Russendisko" die russischen Juden, die wie der Ich-Erzähler und sein Freund Mischa dem Rat des Onkels (noch ein desillusionierter Älterer) gefolgt sind, in ein "stabiles soziales System" einzuwandern. Dieses Motiv der Teilhabe am Wohlstand verfolgen in "Herrn Kukas Empfehlungen" nur die Nebenfiguren, die polnischen Schmuggler, Diebe, Tagelöhner und Betrüger. Waldemar dagegen sieht sich als Tourist um (als er dann doch arbeiten muss, tut er es um des Überlebens willen) und erblickt in Wien eine fremde Welt, in der schnelle Autos unerklärlich langsam fahren, Straßenbäume in Erdquadraten Spalier stehen und die Menschen in teurer Kleidung wie Filmstars aussehen, obwohl sie wahrscheinlich Angestellte sind.
Von den materiellen Versprechungen lässt sich auch Antek Haack in Artur Beckers "Kino Muza" nicht locken. Er verdient in Deutschland Geld, um sich mit Freunden im masurischen Bartoszyce einen Traum erfüllen zu können: das Kino Muza kaufen zu können. Als sich jedoch die polnische Staatssicherheit 1988 am Kauf des Lichtspielhauses beteiligt, wandert Antek nach Bremen aus, wo er sich keinesfalls wohl fühlt: "Deutschland war wie Sodbrennen. Nachts wachte man auf und sass senkrecht im Bett".
Solche Distanz zur neuen Heimat pflegen alle drei Autoren. Sie mag coole Attitüde sein. Oder sie ist dem Postnationalismus ihrer Leser zu schulden. Auf jeden Fall ist sie die Voraussetzung des Staunens, mit der vor allem Kaminer, in abgeschwächter Form auch Becker und Knapp an ihrem Alltag entlangschreiben. Und vielleicht ist sie auch Indiz für etwas Ernsteres: für die problematischen Züge der Randexistenz, aus der ihre Figuren nicht heraustreten.

Helden
Radek Knapp lässt seinen Helden Walerian Gugania in "Papiertiger" nach Aushilfsarbeiten als Weihnachtsengel und Pavianwärter zum gefeierten Jungautor aufsteigen. Der Erfolg überrascht Walerian nicht nur, er erscheint ihm auch unglaubwürdig: "Er (Walerian) war jedenfalls nicht derjenige, für den man ihn hielt." Nicht anders erginge es Kaminers und Beckers Helden, die freilich gar nicht erst in solche Verlegenheit kommen. Sie wollen sich nicht etablieren, sondern über die Runden kommen und suchen statt des Erfolgs nur ein bescheidenes Auskommen. Antek, Waldemar und Wladimir verrichten unqualifizierte Arbeiten und verhalten sich, als ob sie im Westen auf Besuch wären (was nur Waldemar ist). Sie konservieren eine Haltung, die der Jugend gut ansteht, nicht aber Männern um die Dreißig.
Kein Wunder. Der Westen verjüngt nämlich. In der Heimat befänden sich die Männer längst in festen Händen, den ersten oder auch schon den zweiten. Die Helden wären Familienväter. Der Jungbrunnen Westen schenkt ihnen die verlängerte Adoleszenz.
Freilich vernichtet er im gleichen Maß Qualifikationen und Beziehungsnetzwerke. Die Männer sind ganz auf sich gestellt. Sie sind allein. Zwar stellen ihnen Becker und Knapp zuweilen eine Frau an die Seite, aber diese zählt nicht so richtig. Nicht allein wären sie nur mit ihren dicksten Freunden. Das Leben wird zur Bewährungsprobe, doch zugleich wird der Initiation in den beruflichen Ernst ausgewichen. Der Aufenthalt im Westen ist ein auf Dauer gestellter Transit.
Für dieses Paradoxon finden die drei Autoren recht unterschiedliche Heldentypen. Radek Knapp greift auf den Schelmenroman zurück. Seine literarischen Vorbilder stammen aus der tschechischen Literatur, und so überstehen Waldemar und Walerian wie Traumtänzer die Zumutungen der Realität.
Wladimir Kaminer erzählt von großmäuligen Verwandten dieser Schelme. Es sind Schwadronierer, denen Unglaubliches zustößt, ohne dass ihnen ein einziges Mal die Zunge stockt. Die Welt ist ein Zirkus, und Kaminers Held hat seine liebe Mühe, ihre Kapriolen zu beschreiben.
Artur Beckers Bücher lassen sich am ehesten als Schelmenromane ohne Schelm charakterisieren: Die Welt ist undurchschaubar, oft absurd, aber die Helden reagieren darauf nicht mit der Subversion des Witzes, sondern mit gesteigerter Männlichkeit. Die Beziehungen zu Frauen besitzen kolportagehafte Züge: Antek wird in Deutschland wie in Polen geradezu verfolgt von langbeinigen Schönheiten, die ihn unablässig sexuell begehren. Vielleicht weil Becker am stärksten medialen Bildern der Männlichkeit folgt und die Gefahr der Ortlosigkeit verspürt, lieben seine Helden ihre masurische Heimat. Dieser positive regionale Bezug fehlt bei Knapp und Kaminer.

Ob als staunender Schelm, schwadronierender Ethnologe oder einsamer Kämpfer gegen weibliche wie weltliche Herausforderungen - all diese Gestalten halten nicht viel vom Osten, und der Westen bleibt ihnen fremd. Knapp, Kaminer und Becker zeigen den Osteuropäer als Grenzgänger, als Randexistenz. Von den Gewinnern der Globalisierung, den gleichaltrigen und hochqualifizierten Computer-, Waffen- oder Gentechnikspezialisten aus Moskau oder Warschau, die nach Deutschland ziehen, erzählen sie ebensowenig wie von polnischen oder russischen Gruppen hierzulande. Das ist angesichts der sonstigen Differenzen zwischen den dreien eine erstaunliche Übereinstimmung.
Vielleicht bleiben Becker, Knapp und Kaminer einfach den Koordinaten der Vorwendezeit verhaftet, in der sie in den Westen kamen. Zudem erlegt ihnen der Schelmenroman beziehungsweise seine Elemente gewisse Zwänge auf: Dessen Held muss am Rand stehen - aber Erfolgreiche bestaunen den Alltag nicht, sie gestalten ihn.
Nur warum haben sich die Autoren für Varianten des Schelmenromans entschieden? Weil mit seinen Helden die Distanz auszudrücken ist, die die Grenzgänger zu Ost wie West, zu Tradition und Zukunft, Beruf und Bindung besitzen. Daher präsentieren Becker, Knapp und Kaminer keine neuen Bilder vom Osten und vom Westen. Sie benutzen die überkommenen und entkernen sie. Denn ihnen geht es weder um den Osten noch um den Westen, ihnen liegt an der Bewegung über jegliche, über politische, soziale und andere Grenzen hinweg. Ihre Helden sind Allegorien ironischen Daseins: Sie geben einem Lebensgefühl Ausdruck, das beansprucht, überall und dauernd zu gelten. Der Alltag von Antek, Walerian und Wladimir mit seinen sanften Bizarrerien wird zum Modell entspannten Daseins für ein junges Lesepublikum. Und damit haben die Ingenieure der deutschen Seele ihre Kompetenzen drastisch erweitert.

Jörg Plath - Autor und Literaturkritiker, unter anderem für die "Süddeutsche Zeitung", "Frankfurter Rundschau" und den "Tagesspiegel", lebt in Berlin.

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