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Kennen
Sie Bartoszyce?
Über
die polnische Provinz und die deutsche Literatursprache. Ein Porträt
des Schriftstellers Artur Becker
Von Hans-Dieter Grünefeld
Die
Autofahrt von Bremen nach Bartoszyce endet für Antek Haack
beinahe tödlich. "Er war am Lenkrad eingeschlafen, mit
seinem Strichachter gegen einen Baum gedonnert und hatte für
vier Stunden das Bewusstsein verloren." Er war aus dunkler
polnischer Provinz nach Deutschland geflohen, hatte als Aussiedler
einen Aufenthaltsstatus erhalten und wollte Geld verdienen, um das
"Kino Muza", wo er Kartenabreißer ist, zu kaufen.
Antek ist ein postmoderner Anti-Held, der sich ohne klare Lebensperspektive,
aber eigensinnig gewitzt gegen die sozialistische Öde wehrt.
Trotzdem ist er ein Pendler zwischen Polen und Deutschland, hat
in den beiden Ländern eine Geliebte und kann sich nicht entscheiden,
wo er bleiben will. Im latenten Zwist mit der Realität und
der polnischen Macht begeht Antek Selbstmord.
Die Provinz mit ihrer räumlichen Enge und öffentlichen
Privatheit: "Der Schuster kennt alle Schuhe der Stadt",
sagt Artur Becker, sei für ihn ein autobiographischer Fundus,
den er "um keinen Preis der Welt verschenken möchte. Im
Unterschied zur Anonymität der Großstadt gibt es in der
Provinz keine Distanz zu den erlebten Ereignissen, weil man sich
untereinander gut kennt. Dort finde ich viel interessantere Typen,
weil sie sich ganz anders durchschlagen müssen, ganz andere
Talente haben, um existieren zu können. Doch das Ermland ist
keine typische polnische Provinz, denn dort leben sehr verschiedene
Typen, nicht nur Katholiken, auch Deutsche, Ukrainer, Russen und
sogar jüdische Menschen, kurz: Das ist eine multikulturelle
Region."
Eros und Thanatos, ein Thema, das mich weiterhin vor dem Hintergrund
meiner Erlebnisse als Kind und Jugendlicher beschäftigen wird.
In Anteks heiklen Liebesbeziehungen zeigt sich ein anderer wesentlicher
Aspekt, nämlich die alltägliche Präsenz des Todes
in diesem Krähwinkel der Weltgeschichte. "In Bartoszyce
ist der Übergang zur Normalität nach einem Tag der Trauer
und diesen Totenfeiern sehr schnell. Meine Großmutter hat
ständig vom Tod erzählt, vor allem aus der Zeit nach dem
Zweiten Weltkrieg, als die Russen kamen und Leichen auf der Straßen
lagen. Dann habe ich viele Wasserleichen gesehen, die hier aus dem
See geholt worden sind, weil die Leute besoffen oder unvorsichtig
waren. Auch Antek macht diese Erfahrung, weil der Ehemann seiner
Geliebten Beata ertrunken ist, ein Tod, den sich beide gewünscht
haben. Doch die Gewissheit darüber trennt sie, eine Umkehrung
der Geschichte von Romeo und Julia. In Deutschland wird der Tod
dagegen verdrängt, wirken solche Geschichten absurd. Aber der
Tod gehört wie ein symbiotischer Tausch zum Sex und zur Liebe,
denn in diesen Momenten intensivster Gefühle könnte man
sterben. Eros und Thanatos, ein Thema, das mich weiterhin vor dem
Hintergrund meiner Erlebnisse als Kind und Jugendlicher beschäftigen
wird." Im "Kino Muza" sind diese seltsamen Episoden
zugleich Indizien für die Deformation einer beklemmenden Ordnung,
symbolisieren einen ohnmächtigen Protest gegen Tristesse.
Aus diesem Zusammenhang kristallisiert sich als episches Motiv das
Problem ökonomischer und politischer Macht heraus. Der gesellschaftliche
Umbruch wurde zunächst für Aussiedler sichtbar, wenn sie
in den Westen kamen. Für Artur Becker "war es unvorstellbar,
dass es hier alles gibt und man darüber nicht spricht. Und
da sind zwei Typen für einen Roman geeignet, um die sozialen
Veränderungen in dieser Zeit zu kennzeichnen: Der große
Gatsby, der in Saus und Braus lebt und dann alles verliert, oder
die Figuren, die zwar gerne materielle Dinge hätten, aber daran
erhebliche Zweifel haben. Das ehemalige sozialistische System war
eine Parodie, die sich übrigens auch in den Westen eingeschlichen
hat. In Polen war das eine riesige Komödie, dass man Karten
spielte, nicht um Geld, sondern um Toilettenpapier oder Schokolade.
Das ist Cechov, urkomisch." Solche Szenen bekommen in "Kino
Muza" einen Spin, wenn das Spiel riskant wird. Antek wird zum
Hasardeur, als er in die Fänge des Geheimnisdienstes gerät,
und verliert. "Das Machtproblem beschäftigt mich intensiv,
in der Literatur exemplarisch bei George Orwell. Ich habe kein Vertrauen
in die Politik", sagt Artur Becker. Seine Romane, die stilistisch
hautnah und direkt von der Provinz des Menschen erzählen, lüften
Vorhänge zu den existenziellen Nischen, wo das Leben der Ordnung
ein Schnippchen schlägt.
Zum Autor
Sie kennen Bartoszyce nicht? Das ist ein Ort im polnischen Ermland/Warmia,
Ostpreußen, dicht an der Grenze zu Russland. Dort ist Artur
Becker, Prosaist und Lyriker polnischer Muttersprache und deutscher
Literatursprache, 1968 geboren.
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