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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Juli 2006

Er heißt Christian, aber mit y

Von Thomas Meissner

Die Stinte sind kleine, heringförmige Fische, die im Salz- wie im Süßwasser vorkommen. Es gibt sie in der Weser und im Geserichsee in Polen. Sie sind »so schlau wie die Aale und so königlich wie die Gezeiten und das Meer und die zahllosen Flußmündungen, aus denen sie stammen“. In Artur Beckers Novelle »Die Zeit der Stinte“ landen sie nicht nur auf dem Teller und im Netz, sondern bilden ein zeiten- und raumübergreifendes Leitmotiv, das dem Text nicht zuletzt eine magische Aura verleihen soll.

Mehrmals heben die Kapitel märchenhaft beschwörend mit »Es war die Zeit der Stinte“ an, doch was folgt, paßt kaum zu solch raunenden Intonationen. Erzählt wird die Geschichte einer folgenreichen Begegnung, die zur Ergründung von Familiengeschichte und biographischer Identität, von osteuropäischer Nachkriegsgeschichte und anthropologischen Konstanten führt. Mona Juchelka, eine amerikanische Journalistin jüdischer Herkunft, macht sich auf, die Geschichte ihres Großvaters Gerald Juchelka zu rekonstruieren, der 1947 den Gutsbesitzer Richard Schmidtke in einem spektakulär durchgeführten Akt der Selbstjustiz hingerichtet hat, in dessen Außenlager er einst vor der Überführung in das KZ Stutthof eingesessen hatte. Dabei stößt sie auf Chrystian Brodd, einen arbeitslosen Akademiker, dessen Großvater Johann Koch auf dem Gut jenes Richard Schmidtke war, weshalb sich Mona von ihm und seiner Familie nähere Informationen verspricht.

Chrystians kleine Bremer Welt von Freunden und Verwandten, mit der er sich über seine Ziel- und Haltlosigkeit hinwegtäuscht, wird durch die Ankunft Monas kräftig erschüttert. Er läßt sich mit ihr auf eine Liebesbeziehung ein und begleitet sie an die Orte seiner Kindheit nach Masuren, die er seit der Wendezeit nicht mehr gesehen hat. Das Aufspüren der eigenen Wurzeln gelingt aber nur zum Teil. Zwar gibt Chrystians Onkel Erwin, der als einziges Familienmitglied in Polen geblieben ist, bereitwillig Auskunft und trägt auch zur Auflösung mancher Familiengeheimnisse bei, doch zur mahnenden Erinnerung eignen sich die individuell bedeutsamen Stätten kaum. Der Grabstein Schmidtkes etwa findet sich auf einem verfallenen deutschen Friedhof mitten im Wald, Schmidtkes ehemaliges Landgut lockt Touristen mit dem Hinweisschild »Ferien auf dem Bauernhof“.

Der aus Polen stammende Artur Becker ist nicht an der großen Geschichte interessiert, sondern an einzelnen Biographien, denen jene gleichwohl eingeschrieben ist. Wer war etwa jener Johann Brodd, der Schmidtke treu gedient hat? Ein Feigling und Speichellecker, wie Erwin meint, der »bei Schmidtke gekocht und gleichzeitig zugeschaut“ hat, »wie sich die Menschen zu Tode hungerten“, oder ein aufrechter Charakter, dessen man sich nicht schämen müsse, wie Chrystians Vater argumentiert: »Wir Brodds brauchen uns nichts vorzuwerfen. Unser Gewissen ist rein.“ Der Umgang mit der Vergangenheit jedenfalls, das Auf- und Annehmen der Familiengeschichte auch um den Preis fragiler Identität, bleibt Aufgabe jedes einzelnen.

Eher mißglückt ist Beckers Versuch, auch den »Täter“ Schmidtke zu Wort kommen zu lassen. In zwei Kapiteln blickt er unmittelbar zurück auf die Vorgänge des Jahres 1947 und vergegenwärtigt die Gedanken und Empfindungen der Betroffenen. Geht es Gerald Juchelka weniger um eine ideologisch motivierte Racheaktion denn um exemplarische Sühne vor dem Hintergrund einer pessimistischen Anthropologie, so ist Schmidtke ein unbekehrter Überzeugungstäter, dessen Motive gleichwohl verworren bleiben.

Auch die Liebesgeschichte vermag kaum zu überzeugen. Was findet die attraktive Mona nur an jenem herumlungernden Chrystian, dessen Hauptaktivitäten im Konsumieren von Alkohol und Nikotin und in pseudophilosophischen Spekulationen bestehen, so daß man ihm selbst sein Hochschulstudium kaum abzunehmen vermag? Und welche Liebespaare führen solch klappernde Dialoge, wie sie Becker stets aufs neue vorführt? Immerhin nimmt die Beziehung dann ein überraschendes Ende, auf das einmal mehr das Verhalten der Stinte vorausdeutet, eine Stelle, die zugleich poetologisch das Ende der Novelle ankündigt: »Sie wissen, wann sie eine Party verlassen müssen, und das ist eine besondere Gabe.«

 

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