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Märkische Allgemeine , 10. Juni 2006
Artur Becker: Die Zeit der Stinte – Artur Becker sucht die Vergangenheit in der alten Heimat
Von Petra Klein
Der deutsch-polnische Chrystian, Spätaussiedler aus Deutsch-Eylau in Westpreußen, hat sich in einem idyllischen Bremer Altstadtviertel eingerichtet. Er wirkt verloren in seinem Alltag, obwohl da unübersehbare Haltepunkte sind: seine Ex namens Katharina mit Sohn Boreas, Vater Gustaw und Kneipier Rudi, der König vom Steintor, Alt-68er, Maler und ursprünglich Ossi.In diese neue Heimat bricht die Jüdin Mona Juchelka aus New York ein, dessen Großvater Gerald in Westpreußen übel mitgespielt wurde. Es kommt, wie es kommen muss: Chrystian begleitet Mona auf der Reise nach Polen zu seinem Onkel Erwin, der immer noch in Ilawa lebt.Mit einer fein komponierten Novelle, verfasst in einer spröden Sprache, zieht Artur Becker den Leser in ein Niemandsland. Er stellt andere Fragen als jene, die in der Erinnerungskultur Ritual geworden sind: Bei ihm hat der Täter eine Stimme, Schmidtke hat Angst, er verteidigt sich, er spricht von Auftrag, Gott und Fürsorge. Die Liebesgeschichte zwischen Chrystian und Mona, Nachkommen von Mitläufer und Opfer, erscheint wie eine Versöhnung über Zeit und Gräben hinweg, aber sie hat dennoch keine Zukunft, obwohl Chrystian Mona so nah kommt, wie er nie zuvor einer Frau in seinem Leben kam. Mona und Chrystian sind Transitreisende auf der Suche nach Heimat und der eigenen Geschichte. In der Scheune, die einst KZ-Außenlager war, werden heute Fremdenzimmer für Ferien auf dem Bauernhof vermietet. Hier leben Ukrainer, Weißrussen und Polen, Menschen, die nichts mit den alten Deutschen zu tun haben, deren Friedhöfe längst verschwunden sind.
Die Stinte durchziehen die Novelle wie ein Strom auf dem Weg zu einem Laichplatz. Wenn Stinte im Frühjahr laichen wollen, schwimmen sie stromaufwärts in die Flussmündungen hinein. Dabei sterben viele von ihnen. Als Metapher für den richtigen Zeitpunkt des Aufbruchs sind sie klug ausgewählt.
»Seine eigene Vergangenheit kann man nicht ausradieren und du, du weißt eben nicht, was es bedeutet, keine Vergangenheit mehr zu haben«, entgegnet Chrystian seinem Freund Rudi in Bremen. »Du bist ein typischer Wessi geworden, links und geldgierig.«
Das Leben im inneren Grenzland zwischen den Kulturen ist das Thema Artur Beckers. Als Kind deutsch-polnischer Eltern kam er mit 17 als Spätaussiedler nach Deutschland. Deutsch wurde seine literarische Sprache. »Die Zeit der Stinte« ist eine hervorragende, melancholische, dichte Erzählung, die lange in einem rumort.
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