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Berliner Zeitung, 30. März 2006

Ich kenne diesen See –
»Die Zeit der Stinte« des polnisch-deutschen Autors Artur Becker

Von Sabrina Ebitsch

Chrystian hat Todesangst. Er liegt auf dem Bauch und Mona drückt seinen Kopf in die Kissen. »Du bringst mich um!« schreit er. »Sei still. Halt durch«, entgegnet sie.
Die eindringliche Szene in Artur Beckers neuem Buch ist kein schlechter Mordversuch. Und »Die Zeit der Stinte« kein schlechter Krimiversuch. Monas Gewaltakt instrumentalisiert den Mann, den sie liebt, auf grausame Weise. Es ist ein Versuch zu verstehen, den auch Chrys versteht. Mona will wissen, was ihr Großvater spürte, als er mordete. Ein Wunsch nach Begreifen und daraus hervorgehender Nähe, für den Mona (fast) bereit ist, über Leichen zu gehen.
In Chrys’ und Monas Bett vereinen sich nicht nur die großen klassischen Motive von Liebe und Tod. Es ist die Urszene, der Nukleus von Beckers »Novelle«, die mit ihrem offenen Ende, den verschiedenen Zeitebenen, den vielen Nebenerzählungen eigentlich gar keine ist. Hier, im Bett, entfaltet sich nicht nur die komplizierte Liebesgeschichte zwischen der amerikanischen Jüdin Mona und dem deutsch-polnischen Chrystian, die Artur Becker auf unromantisch-herzzerreißende Weise erzählt. Es ist auch der Verweis auf eine Vergangenheit, die sie beide verbindet.
Monas Großvater hat den Mann umgebracht, der sein Peiniger im KZ war. Er hat ihn aufgespürt und heimgesucht in seinem Versteck am masurischen Geserichsee. Eine Vendetta, kein dreckiger Mord. Chrystians Familie stammt aus der Gegend um den Geserichsee, er ist dort aufgewachsen bis zur Übersiedlung nach Deutschland. Chrystians Großvater war ein Bediensteter des KZ-Kommandanten.
So wie Artur Becker Liebes- und Familiengeschichte kunstvoll miteinander verwoben hat, so sind auch Chrys’ und Monas Geschichte ineinander verflochten. Dass sie sich ineinander verlieben, als der arbeitslose Akademiker und Taugenichts Carys die schöne Journalistin Mona aus New York vom Flughafen abholt, scheint schicksalhafte Notwendigkeit. Chrystian erinnert ein wenig an Sven Regeners Herrn Lehmann erinnert und Mona wirkt wie das weibliche Pendant von Jonathan aus »Alles ist erleuchtet«. Mona will in Polen die Geschichte ihrer von dort in die USA ausgewanderten Familie und die Geschichte am Geserichsee zusammenpuzzeln. »Deine Familiengeschichte?« fragt Chrys, »nix da! Unsere Geschichte! Sind wie nicht verwandt, durch die Schicksale, die uns mit dem Geserichsee verbinden, mit dem, was dort geschehen ist? Ich kenne diesen See, du noch nicht. Ich bin sein Kind.«Also machen sich die beiden auf den Weg nach Polen. Sie suchen die Vergangenheit, um sich von ihr zu befreien. Um einen Ort der Geschichte mit ihrer Liebesgeschichte neu zu besetzen. Ihr Scheitern ist darin angelegt, dass Becker zwei parallele Novellen schreibt, wobei die von Chrys und Mona nicht einmal eine ist. Dass man sich wünscht, es wäre eine, dass man sich eine Auflösung, ein Ende wünscht, spricht für die Geschichte, und dass man es nicht bekommt, ebenso.

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