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Network European Communication vom 26.02.06
Artur Becker:
Die Zeit der Stinte
Von Harald Loch
Lange Zeit sieht die Novelle nach einem modernen Märchen aus, dann werden die beiden von ihrer Geschichte eingeholt: Artur Becker erzählt in seiner Novelle »Die Zeit der Stinte« von zwei Enkeln.
Chrystian ist deutsch-polnischer Spätaussiedler in Bremen. Mona ist eine junge amerikanische Journalistin auf Spurensuche in Europa. Ihr Großvater war Überlebender des KZ Stutthof bei Danzig. In einer gewagten Aktion hat er mit zwei Freunden den sich verbergenden Betreiber eines Außenlagers des KZ nach Kriegsende aufgespürt und hingerichtet. Chrystians Großvater war Koch bei dem schrecklichen Junker. Einer seiner Söhne ist später mit seiner Familie in die Bundesrepublik gegangen, der andere lebt als pensionierter Förster und Fischer in dem heute zu Polen gehörenden Teil Ostpreußens.
Mona hat die Familie von Chrystian aufgetrieben und ist nach Deutschland gekommen, um von hier nach Polen an den Schauplatz des Show-downs zwischen ihrem befreiten Großvater und seinem im Wald verborgenen Peiniger zu fahren. Zwischen ihr und Chrystian entwickelt sich eine subtile und sehr poetische Liebesgeschichte. Beide sind, bevor sie aufbrechen, noch ein paar Tage in Bremen, in denen wir eine sympathische kleine Boheme kennenlernen. Dem Autor gelingen mit leichter Hand entworfene Charaktere, die der Geschichte eine gute Würze geben. Nach einem nächtlichen Abstecher nach Leipzig geht die Fahrt im gepumpten Volvo nach Ostpreußen, wo auch der Autor 1968 geboren ist. Er kam erst 1985 – auch als Spätaussiedler – nach Deutschland und lebt heute in Verden an der Aller. Einen Auszug aus der Novelle las Becker vor zwei Jahren in Klagenfurt, wo er nur knapp die Preisränge verfehlte. Der Titel bezieht sich auf die lachsartigen Fische, die Chrystian in der Weser, sein Onkel in den masurischen Seen fängt. In Rückblenden auf das Jahr der Rache entsteht ein furchtbarer Kontrast zur heiteren, von Lebenskunst beherrschten Gegenwart der Geschichte, in deren Verlauf Chrystian auch sehr persönliche Details seiner eigenen Familie erfährt. Becker erzählt das alles mit spontanem Witz und überzeugendem Ernst. In der masurischen Landschaft, mit der Chrystian viele Kindheitserinnerungen verbindet, erleben die beiden einige Tagen erfüllter Liebe. Vielleicht müssen sie für ein ganzes Leben reichen.
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