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Bücher-Magazin, Februar 2006

Ein Ort namens Heimat

Von Konrad Lischka

Wechselnde Wohnorte, getrennte Familien, unsichere Jobs: Verunsichert sehnen die Deutschen sich wieder nach Heimat. Wo die liegen kann, beschreiben entwurzelte Schriftsteller.

Ein Ort? Ein Gefühl? Verlorene Helden suchen ein Zuhause. Gleich mehrere neue Bücher zeigen, wie man in der globalisierten Gegenwart heimisch werden kann.

Vor 23 Jahren hat er seine Heimat verloren, vor ein paar Monaten seine Frau, vor zwei Tagen sein Auto. Und jetzt verliert Chrystian Brodd, der als Kind aus Polen nach Bremen eingewanderte Mittdreißiger, die Orientierung, fühlt sich, »als ob irgendjemand, der sehr mächtig sein musste, an seinem Leben herumschnipselte«. Der entwurzelte Held in Artur Beckers »Die Zeit der Stinte« – ein Buch von vielen in diesem Frühjahr über das große Thema Heimat – hat nur noch einen Ort, der ihm ein Zuhause ist: sein Mietshaus am Bremer Steintor, die schuhkartongroße Wohnung in dieser Bleibe für »Verrückte, Junkies, Kranke, Drogendealer, Kassiererinnen, Studenten, Elektriker«. Hier grillt er im Sommer auf dem Balkon mit anderen Heimatlosen, dem DDR-Dissidenten, Maler und Cafébesitzer Rudi, mit Michail, dem Sportstudenten aus Kiew im 14. Semester. Hierher bringt Chrystian diese wunderbare, junge amerikanische Journalistin Mona Juchelka, die er eigentlich vom Flughafen zu seinem Vater bringen sollte, mit dem sie über die Vergangenheit sprechen will. »Willkommen in der BRD«, sagt er stolz, als er vor seinem Haus ihren Samsonite aus dem VW zerrt. Und dann: »Scheiße! Ich bin heute so kopflos. Ich sollte Sie doch zu meinem Vater bringen! Bitte steigen Sie wieder ein!« Diese Verwirrung legt sich ein wenig, als Chrystian mit Mona nach Polen reist, ihre gemeinsame Geschichte erforscht, die vor 60 Jahren begann, als drei ehemalige Häftlinge aus dem KZ Stutthof den Kommandanten eines Außenlagers hinrichteten. Heimat findet Chrystian nicht in Polen, aber eine vielleicht glückliche Liebe und die vermeintliche Selbsterkenntnis: »Solche Typen sind so gut wie überall zu Hause.«
Doch das stimmt nicht. Denn wohl fühlt sich Chrystian sehr in seinem Bremen, in seinem Viertel, das er schon mit einem eigenen Kosenamen belegt hat: »Klein-Brooklyn«. In Polen freut er sich einmal darauf, »so zu tun, als sei ich von hier«. Es ist so: Wer fast überall zu Hause sein kann, hat keine Heimat. Das glaubt die Mehrheit der Deutschen. 89 Prozent empfinden laut einer Emnid-Umfrage Heimatgefühle beim Gedanken an ihre nähere Umgebung, den Ort, an dem sie leben, wo sie geboren sind, wo ihre Familie lebt, wo sie Freunde haben. Diese Ergebnisse bestätigen die Analyse des Sozialwissenschaftlers Ralf Dahrendorf, der einen doppelten Prozess der Globalisierung  beschrieben hat. Die Wirtschaft vernetzt immer größere Räume, die Menschen suchen immer kleinere, »in denen sie sich zu Hause fühlen und ein Gefühl der Zugehörigkeit entwickeln können.« Das glaubt auch Artur Becker, Autor von »Die Zeit der Stinte«. Der 37-jährige Sohn deutsch-polnischer Eltern kam mit 16 Jahren aus dem polnischen Bartoszyce nach Verden bei Bremen. Er sagt: »Heimat ist vor allen Dingen Provinz, und Provinz, der Mikrokosmos, macht die Literatur groß.«
Es stimmt: In seinem kiezigen, beschaulichen Bremer Viertel fühlt sich Beckers Held Chrystian Brodd so wohl, dass er es mit der Heimat seiner Ahnen vergleicht: »Die Häuser von Klein-Brooklyn waren so winzig wie in einem abgelegenen Dorf, irgendwo in der Ukraine oder Litauen.« Hier, im Bremen der verlorenen Seelen, ist das Buch ganz bei sich. Denn es sind kleine Zusammenhänge, kleine Dinge wie die hohen Decken, die gesunden Mauern und kaputten Heizkörper im Haus vor dem Steintor 184, die Heimat ausmachen. Je unübersichtlicher die Welt uns erscheint, desto größer wird die Sehnsucht nach solchen kleinen, vertrauten, heimatlichen Strukturen. Und unübersichtlicher wird die Welt zweifelsohne. Davon erzählt der 1979 in Chicago geborene, in Bangkok aufgewachsene Autor Rattawut Lapcharoensap in seinen Kurzgeschichten (»Sightseeing«). Er beschreibt den Alltag in einem Thailand, das Touristen nur glauben zu kennen, das seine Kultur verliert, die amerikanische findet, in einem Nirgendwo dazwischen existiert, wo die Urlaubsmonate der Touristen den Jahresablauf und ihre Vorlieben die Kultur definieren: »Juli: Die Italiener, die Franzosen, die Briten, die Amerikaner. Die Italiener mögen Pad Thai, seine Ähnlichkeit mit Spaghetti.« Eine verrückte Welt.

Die große Verwirrung ist in Deutschland angekommen: Seit der Wende ziehen jedes Jahr mehr Bundesbürger um. Den Arbeitsplatz, das Haus, die Nachbarn fürs Leben gibt es nicht mehr. Artur Beckers Leben ist ein Extrembeispiel für die Folgen der Globalisierung im Privaten: Seine Verwandten leben in Polen und in Kanada, sein bester Freund Robert in Pabianice bei Lodz, andere Freunde in Bremen, Hamburg, Berlin, Los Angeles und New York. Was hat man da für ein Idealbild von Heimat? Artur Becker sagt: »Ein Planet im Weltall – gerade mal so groß wie mein kleines Ermland und Masuren. Und wenn man sich in diesem Land auf Reisen begibt, hat man den Eindruck, als würde man auf eine Weltreise gehen. Kontinente verlassen, andere Planeten besuchen. Ja, das ist mein Ideal: ein kleines Ermland, doch so groß wie eine Galaxie.« Diese Sehnsucht ist laut den amerikanischen Psychologen Roy F. Burmeister und Mark
R. Leary ein menschliches Grundbedürfnis, ein Sehnen nach Geborgenheit, Bindung und Zugehörigkeit, das »angeboren ist und über alle Kulturen und Altersstufen hinweg beobachtet werden kann.«
Und dieses Bedürfnis ist heute sehr stark: Als vor Kurzem das Goethe-Institut und der Sprachrat das schönste deutsche Wort suchten, wählten die Deutschen »Heimat« auf einen der Spitzenplätze. Aber das ist nicht zwangsläufig ein Bedürfnis nach dem reaktionären, rückwärtsgewandten, isolierenden Heimatgefühl, das man zu jener Zeit kultivierte, als jeder in eine scheinbar naturgegebene, dörfliche Heimat hineingeboren wurde, als hinter den Dorfgrenzen das Unbekannte, das Elend lag – das althochdeutsche »elilenti« bezeichnete die Fremde. Es gibt aber auch ein anderes Heimatgefühl, eines, das nicht »den Menschen vor der Welt abschottet, sondern als Brücke zu derselben dient«, wie der Berliner Psychoanalytiker Uwe Langendorf erläutert, der intensiv Flüchtlingsschicksale erforscht hat und der den in Deutschland lange verdammten Begriff der Heimat neu, positiv definieren will. Heimatgefühl als Brücke zur Welt – diese Idee gefällt auch dem Schriftsteller Róbert Hász (41), der durch Nationalismus seine Heimat verloren hat. Er floh 1991 aus Nordserbien nach Ungarn, wo er heute in Szeged lebt und Heimat als Thema in der Literatur vermisst: »Vernachlässigen die Schriftsteller die Heimat als Motiv, wird der Begriff verbleichen wie die Konturen alter Fotos und es bleibt nichts als graue, kalte, satt gewordene, globale Heimatlosigkeit.« Das spricht Hász aus Erfahrung. Seinen neuen Roman »Für alle Ewigkeit« kann man als bittere Satire auf das Ende Jugoslawiens lesen. Er spielt in einer einsamen Festung am Rande der Welt, wo Rekruten an einem Projekt arbeiten, das niemand kennt, gegen einen Feind, den keiner gesehen hat. Je länger sie dort sind, desto größer wird ihre Verwirrung. »Der November ist bei uns auch so«, sagt ein Soldat beim Blick in die Landschaft. »November«, fragt ein anderer und lächelt, zeigt auf den nahen Feigenbaum, an dessen Ästen sich winzige Knospen öffnen: »Es ist doch schon Frühling.«

Manche der Figuren tragen Züge von Hász’ Freunden aus der Zeit beim jugoslawischen Militär. Ein Foto aus dieser Zeit, als seine Heimat noch den Namen Jugoslawien hatte, ist Hász’ liebstes. Es zeigt drei Freunde: den Slowenen Bojan Pungarnik, den Türken Alijev Murat und Matija, einen kroatischen Jungen. »Das Foto erinnert mich daran, dass alles, was der Mensch sich schafft, sich binnen weniger Tage in Nichts auflösen kann«, sagt Hász. Ein Gefühl, das er mit Artur Becker teilt. Der sagt über Polen: »Das neue, demokratische Polen ist für mich ein fremdes Land geworden, das ich voller Staunen besuche und das ich neu kennen lerne.«
Heimat ist heute also nichts Natürliches, nichts Angeborenes mehr, sondern ein Gefühl von oft begrenzter, oft arg kurzer Lebensdauer, das man sich ständig neu erarbeiten muss. Davon erzählen in den neuen Romanen dieses Frühjahrs Autoren, die wie Artur Becker und Róbert Hász schon einmal gezwungen waren, an diesem Gefühl zu arbeiten. Für sie gilt, was Theodor Fontane einst, in einer ganz anderen Ära, schrieb: »Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen.« Entwurzelte und neu beheimatete Autoren wie Becker und Hász haben einige Jahre, manchmal einige Jahrzehnte eher als der Großteil der deutschen Bevölkerung erlebt, was Globalisierung bedeutet: Die Heimat als Festung gibt es nicht mehr, Heimat ist heute keine sichere Zuflucht mehr vor dem Wandel der Gesellschaft, sondern kann nur bestehen, wenn sie sich auch verändert.
Ein Gefühl für diesen so merkwürdig beständigen Wandel gibt Ilija Trojanows neuer Roman »Weltensammler«. Protagonist ist der britische Offizier Sir Richard Burton, der Kolonien zu seiner Heimat zu machen versucht, indem er sich ihnen anpasst, statt sie sich anzupassen. In Indien tritt er zum Islam über, pilgert nach Mekka, begeistert sich auf einer Expedition zu den Quellen des Nils für afrikanische Naturreligionen. Parallelen zwischen dieser Figur und seinem Schöpfer Trojanow zu ziehen ist zu einfach. Doch hier drängen sie sich auf: Trojanow (40) konvertierte in Bombay zum Islam, veröffentlichte 2003 seinen Pilgerbericht »Zu den heiligen Quellen des Islam«. Er ist als Kind mit seinen Eltern aus Bulgarien nach Deutschland geflohen, später oft umgezogen: »Etwa zehn Mal, die längste Distanz waren die etwa 10.000 Kilometer von Kapstadt nach Bombay.« Trojanow kann fast alle seine Freunde nur mit dem Flugzeug erreichen, er isst am liebsten »Gosht  Badam Pasanda« – marinierte Lammfleischstücke in Kokos-Sahne-Nusssauce – gekocht von Freunden in Bombay, sein liebstes Buch über Heimat ist »Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk«, weil »es aufzeigt, wie sinnentleert und lächerlich jegliche Ideologie der Heimat« ist. Ist das das Lebensgefühl des 21. Jahrhunderts? Wonach hat jemand wie Trojanow Heimweh? Er antwortet: »Heute, im grimmigen Bulgarien sitzend, Heimweh nach München, nach Bombay, nach meiner Freundin, nach meiner Bibliothek. Beide sind nicht irgendwo festgenagelt.«
So ist es. »Heimat ist kein Ort – Heimat ist ein Gefühl«, singt Herbert Grönemeyer. Und dieses Gefühl ist heute nicht zwangsläufig, ewig, unveränderlich an einen Ort gebunden. Heimat müssen Menschen sich erarbeiten, oft mehrere Male im Leben. Sie finden sie zum Beispiel im eigenen Stadtteil, wie Artur Beckers Held Chrystian. Oder in kleinen Traditionen wie dem Fischpaprikasch, den Róbert Hász liebt, den am besten sein Vater im gottverlassenen Doroszlo in Nordserbien zubereitet, dem gebratenen Karpfen in Tomatensoße mit Pilzen und Kohl, den Artur Becker so gern isst, nach dem Rezept seiner Frau. Aus diesen kleinen Dingen entsteht Heimat: vertrauten Straßen, Speisen – und natürlich der Sprache.

Bevor Stefan Zweig sich mit seiner Frau 1942 in Brasilien das Leben nahm, klagte er, dass »die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist«. Aber natürlich kann Sprache auch das Gegenteil bewirken. Für Róbert Hász ist das Ungarische Heimat: »Nur sie hilft, denn durch die Sprache erschaffe ich mir meine Heimat immer von Neuem. Das ist der Vorteil des Schriftstellers, er kann seine wahre Heimat gar nicht verlieren, er bringt es fertig, in der eigenen Fiktion zu leben.« Ein wenig müssen das heute alle Entwurzelten schaffen: Ihre Heimat, ihre Geschichte selbst gestalten, sie erfinden, um sich in ihr wiederzufinden, sich zu beheimaten.

Das mussten Schriftsteller wie Becker, Hász oder Trojanow viel eher, viel stärker als wir anderen, die wir vielleicht nur ein paar Hundert Kilometer zu einer anderen Arbeitsstelle umziehen. Deshalb sind ihre Geschichten so hilfreich. Wie Róbert Hász sagt: »Manche können ihre Heimat verlieren, andere nicht – die sind ständig auf der Suche.« Und das sind heute fast alle.

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