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Der Spiegel 11/2006
Der Wahrheit entgegen.
Artur Becker erzählt von historischer Schuld und Selbstjustiz
Von Joachim Kronsbein
Chrystian Brodd ist ein arbeitsloser Akademiker, wie es viele gibt: Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, versucht seinem Sohn ein guter Vater und dessen Mutter ein nicht allzu unangenehmer Ex zu sein.
Chrystian lebt in Bremen, wo sein Vater Hausmeister ist. Doch die Brodds stammen aus dem polnischen Ilawa, das vor dem Zweiten Weltkrieg Deutsch-Eylau hieß und in Ostpreußen lag. Der Großvater von Chrystian arbeitete damals als Koch auf dem Hof von Richard Schmidtke, der Häftlinge aus dem Konzentrationslager Stutthof bei Danzig beschäftigte. Kurz nach Ende des Kriegs landete auf einem nahen See ein Flugboot, besetzt mit drei ehemaligen KZ-Häftlingen. Am folgenden Tag wurde Schmidtke gefunden – und hingerichtet.
Chrystian wird mit der alten Geschichte konfrontiert, als Mona Juchelka in Bremen aufkreuzt, eine Journalistin aus den USA. Ihr Großvater gehörte zu den Insassen des Flugzeugs. Sie überredet Chrystian, mit ihr nach Polen zu fahren, der Wahrheit entgegen. Es ist früher Frühling, und die ersten Stinte werden schon gefischt.
Der in Polen geborene Autor Artur Becker, 37, hat mit nie sentimentalem, unverwechselbarem Tonfall für seine Novelle »Die Zeit der Stinte« eine dichtgewobene Geschichte über die Gegenwart der Vergangenheit, über historische Schuld und Selbstjustiz erdacht und dazu die rührend-herbe Beschreibung einer gerade aufkeimenden Liebe geliefert.
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