Home
Prosa
Lyrik
Presse
Links
Varia
Galerie
Vita
Kontakt
Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang

Kölner Stadtanzeiger vom 6.12.2013

Artur Beckers
»Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang«

Von Michael Braun

Unter den polnischen Autoren, die in Deutschland leben und in deutscher Sprache schreiben, ist Artur Becker sicherlich einer der findigsten, fantasievollsten und virtuosesten Geschichtenerzähler. Schon die eigene Migrationsbiografie bietet Stoff in Hülle und Fülle. Becker wurde 1968 in dem masurischen Dorf Bartoszyce nahe der russischen Grenze geboren. Seine Großmutter mütterlicherseits lebte während des Krieges als polnische Zwangsarbeiterin bei Hannover, sein Vater entstammt einer Familie mit deutschen Wurzeln. Während der Jahre von Solidarnosc und Kriegszustand in Polen hütete Beckers Familie geschmuggelte Druckerschwärze, im Haus befanden sich Samisdat-Schriften. Der Vater, der geheimdienstlichen Verhöre überdrüssig, verließ das Land und siedelte nach Verden über, eine niedersächsische Kleinstadt mit Dom, Gymnasien und gleich zwei deutsch-polnischen Gesellschaften. Artur Becker reiste einige Monate später nach. Weil er Geld für einen Reisepass brauchte, verkaufte er alle seine Habseligkeiten, seine letzten drei Sakkos warf er am Abend der Ausreise in einen Müllcontainer.
So kam Artur Becker unter die Deutschen. Er erlernte die deutsche Sprache, studierte Slawistik und Germanistik. Während er das Polnische in seinen Romanen nicht aussterben lässt, bleibt das Deutsche eine Literatursprache, keine Heimat im Exil, kein »portables Vaterland«, wie Heine sagte. Dafür hat Artur Becker in seinem vorletzten Roman mit dem »Lippenstift meiner Mutter« (2010) ein treffendes Bild gefunden. Der »Lippenstift« ist die doppelte Muttersprache, die polnische und die deutsche, in ihrer ganzen Vielfarbigkeit und Zeugungskraft.
rtur Beckers neuer Roman »Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang« erzählt abermals eine deutsch-polnische Geschichte. Sie ist von barocker Opulenz, ironische Passagen stehen neben rustikaler Reportage. Über fast vier Jahrzehnte erstreckt sich dieser Erinnerungs- und Entwicklungsroman. Die Binnenhandlung beginnt mit den Danziger Werftarbeitern, die im Dezember 1970 gegen Preiserhöhungen für Lebensmittel protestieren. Sie endet – in der Rahmenhandlung – am Allerseelentag 2010 in Verden bei Bremen. Dort verbringt der nach Deutschland übergesiedelte Pole Arek eine Nacht am Totenbett seines Onkels Karol, unter einem Regenschirm, gemeinsam mit seiner Cousine Mariola, der er sein Leben beichtet.
Die Totenwache ist der Ausgangsort einer ausschweifenden Erinnerung. Sie kreist um Areks doppelte Liebe: Zu Mariola, der verbotenen Geliebten aus Kindheitstagen, und zu seiner Frau Edyta, die später Germanistik und Sozialpädagogik studiert. Es geht um Karol, den verstorbenen Onkel, einen unerbittlich mächtigen Fabrikbesitzer, und um seinen Bruder Witek, Areks Vater, der als Gewerkschafter und Streikführer auf der anderen Seite der Macht steht. Und es geht um den teils träumerischen, teils tatendurstigen Arek, der dissidentische Artikel schreibt, einige Monate lang in Posen in Haft kommt und dann seinem Vater nach Deutschland nachreist, wo er emigrierte polnische Dichter übersetzt.
reks Leben wird zum Gleichnis für die deutsch-polnische Geschichte mit ihren tiefen Erinnerungsfurchen. Im Zentrum dieser Geschichte liegen die masurischen Wälder und Seen. Es sind Sehnsuchts- und zugleich Gedächtnislandschaften. Hier sind auch Beckers letzte Romane »Das Herz von Chopin« (2006) und »Wodka und Messer« (2008) angesiedelt. Doch noch nie hat Artur Becker von dem religiösen Untergrund der Geschichte so eindringlich erzählt wie in diesem neuen Roman. Der Titel ist ein Zitat aus einem biblischen Psalm.
m Ende dieses wunderbaren Romans, soviel kann man vorab verraten, steht ein atemberaubender utopischer Ausblick auf die nächsten drei Jahrzehnte unseres Jahrhunderts. Arek soll sie nach dem Willen des Autors noch erleben. Artur Becker hat mit Arek einen wanderlustigen Helden erschaffen, einen Flaneur der Erinnerung, einen mitteleuropäischen Migranten, der weitläufig durch philosophische und politische Diskurse pilgert und zeigt, dass sich die europäischen Nachbarn umso besser kennen, wenn sie sich ihre Geschichten erzählen. Polen liegt, jedenfalls in diesem Roman, in Deutschland.

 

 

.

[Aktuell] [Prosa] [Lyrik] [Presse] [Links] [Varia] [Galerie] [Vita] [Kontakt]

Copyright © 2017 Artur Becker
Alle Rechte vorbehalten. All Rights reserved