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Der Lippenstift meiner Mutter

Dresdner Neueste Nachrichten, 8. März 2012

»Ich schreibe polnische Literatur in deutscher Sprache«

Chamisso-Preisträger Artur Becker las in der Villa Augustin

Von Andrea Rook

Artur Becker, 1968 geboren, ist ein Weltenwanderer. Seit 1985 lebt er, der in einer deutsch-polnischen Familie in Bartoszyce / Masuren aufgewachsen ist, in Westdeutschland. 1989 – da hatte er bereits mehrere Bücher in Polnisch veröffentlicht – entschied er sich, auf Deutsch zu schreiben. »Ich könnte mir auch vorstellen, wieder nur in Polnisch zu schreiben. Das ist eine Sache der Entscheidung«, erklärte er bei seiner Lesung im Literaturhaus Villa Augustin.
Artur Becker stellte seinen jüngsten Roman »der Lippenstift meiner Mutter« vor sowie Gedichte, unter anderem aus der Dresdner Literaturzeitschrift »Ostragehege«. Am Abend zuvor leitete er zusammen mit Michael G. Fritz eine Schreibwerkstat. »Haben Sie alles verstanden?« fragte Artur Becker sein Publikum nach dem ersten, zugegebenermaßen langen, verschlungenen Satz. »Grammatikalisch stimmt alles«, witzelte er weiter. Wenn Artur Becker liest, dann ist das nicht nur unterhaltsam, dann macht er aus der deutschen Sprache ein munteres Pferdchen, das er mit dem rhythmischen Klopfen seines Stöckchens durch die fremden und zugleich vertrauten Ebenen Osteuropas treibt.
»Ich schreibe polnische Literatur in deutscher Sprache«, sagt er selbst über sich. Seine Welt, die der Ebenen Ostpreußens, ist identisch mit der des 15-jährigen Bartek aus dem Roman. Bartek stiefelt durch das masurischen Städtchen Dolina Róz / Rosenthal und ist »zu jedem Schritt bereit«. Er trägt Absatzeisen unter den Schuhen; sie sind der Verkaufsschlager des Schusters Lupicki. Barteks Tag ist damit ausgefüllt, Botengänge für die Eltern zu erledigen und das Schlafsofa mit den Gästen der Familie zu teilen. Er verliebt sich in die Filmschauspielerin Meryl Streep und träumt vom Lippenstift seiner Mutter. In Barteks Welt prügeln die Väter und gehen die Mütter fremd, sind die Menschen kaputt von der Fabrikarbeit und die Regale wie leer gefegt. Im kulturell entwurzelten, national durchmischten, von den großen Zentren weit entfernten Ostpreußen existieren die Religionen und Ideologien nebeneinander – und es funktioniert nicht besonders gut. Wie aus dem Nichts taucht der Großvater auf. »Opa Franzose« wird er genannt. Barteks Welt kommt in Schwung, beginnt sich zu drehen …
Artur Becker mag keine durchgehende Handlung. Ihm ist die »Entstehung einer eigenen Welt« wichtiger. Becker mag Camus und Dostojeweski, weil bei ihnen »der Mensch verteidigt« wird. Er findet, dass der Sozialismus »poetische Momente« hatte – zum Beispiel, wenn die Behörden für zwei Stunden den Strom abschalteten und ein ganz Städtchen im Dunklen saß. Auch dem Katholizismus kann er Gutes abgewinnen – selbst wenn sein »Großvater Franzose« die »Kirche für eine Erfindung des Teufels« hält. »Ich war ein glückliches Kind«, sagt Artur Becker. »Jeder hatte Ideen – auch wenn es weiter nichts gab als ein Glas Wodka, Brot und ein altes Stück Käse.« Und so ist der Lippenstift in Beckers Roman nicht nur ein erotisches Symbol oder ein Symbol der Macht, so wie jede Kirche einen Turm besitzt. Er ist auch ein Symbol der Selbstbehauptung, wenn die masurischen Frauen Farbe in den grauen Alltag brachten.
Das Besondere an Beckers Roman – und auch an seinen prosaartigen Gedichten – ist die Sprache. Sie ist rhythmisch, nuanciert, beinahe getrieben. Es ist, als ob er sich in eine vergangene, verlorene Welt hinschreiben will. Als ob er das Kino Zryw und das Café Wenecja mit Worten erneut erbauen will. Jedes Detail, jede Episode ist ihm wichtig. Was einmal aufgeschrieben ist, kann nicht mehr vergessen werden. Festgehaltenes kann in Ordnung gebracht werden. Wie schrieb Albert Camus: »Das Elend hinderte mich zu glauben, dass alles unter der Sonne und in der Geschichte gut sei: Die Sonne lehrte mich, dass die Geschichte nicht alles ist.«
Ordnung in die Dinge zu bringen, das ist ohne Zweifel eine Aufgabe von Literatur. Artur Becker gelingt das in grellen Farben, mit bissiger Ironie und einem besessenen Sammeln. All sein Heimatverlust, seine Heimatsuche stecken darin – man kann es ihm gerade hier im Osten gut nachempfinden. Doch die ganz Großen unter uns, die am weitesten Gereisten führen am Ende das Getrennte wieder zusammen, lösen die Ordnung wieder im Chaos auf. Becker schreibt sich auch dahin und kommt Wort für Wort näher heran.

 

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