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Dresdner Neueste Nachrichten, 29. Februar 2012
Die Geheimnisse des Lippenstifts
Der in Deutschland lebende polnische Romancier, Essayist und Lyriker Artur Becker liest in Dresden
Von Michael G. Fritz
Wie die vorangegangenen, von der Kritik begeistert aufge- nommenen Romane Das Herz von Chopin« und »Wodka und Messer. Lied vom Ertrinken«, für die Artur Becker mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet wurde, siedelt er auch seinen neuen Roman »DerLippenstift meiner Mutter« in seiner masurischen Heimat an. Der fünfzehnjährige Bartek lebt
in der Kleinstadt Dolina R6z, die bis 1945 Rosenthal hieß und zu Deutschland gehörte. Die deutsche Vergangenheit und der Krieg sind Ende der siebzig er Jahre noch deutlich in Erinnerung. Wir begleiten den Adoleszenten ins Kino Zryw und ins Cafe Wenecja, zum Goethe- Denkmal im Stadtpark, in die winzige Neubauwohnung, in der immer wieder der Strom abgeschaltet wird, und in die Schusterwerkstatt, die das Zentrum des Geschehens bildet: ein »privates Europa«, in dem Polen und Deutsche, Ukrainer und Juden aufeinandertreffen und die Vergangenheit heraufbeschwören, sich anfeinden, aber miteinander auskommen.
Becker beschreibt den sozialistischen Alltag in Polen, zu dem das Anstehen nach Lebensmitteln ebenso gehört wie der Katholizismus.
Das Leben in dem Städtchen ist turbulent, die Frauen schminken sich grell, die Männer lieben den Wodka, Barteks Vater prügelt, seine Mutter hat ihre streng geheim gehaltenen Affären. Überhaupt versammelt Becker in seinem Roman skurrile Figuren. Wir lernen den Schuster Lupicki kennen, seine nymphomane Tochter Mariola, seinen geistig beschränkten, buckligen Sohn Norbert, den beinamputierten ehemaligen Wehrmachtssoldaten Monte Cassino, seine deutsche Frau Hilde, die stalinistische Dichterin Natalia Kwiatkowska, deren Kleider nur die Farbe Rot kennen, die Hure Marzena und den Mörder Baruch, die beide nicht genug Geld für Kohle haben und sich deshalb länger in der Schusterwerkstatt aufhalten dürfen.
Als der geheimnisumwitterte Opa Franzose, der nicht dem Wodka, dafür den Frauen zugeneigt ist, nach langer Abwesenheit in die Stadt zurückkehrt, muss sich Bartek in dem entstehenden Durcheinander zurechtfinden. Er plant mit seinen Freunden eine Revolte gegen die ungeliebten Kommunisten, vor allem aber seinen Weggang aus der Provinz. Bartek jedoch ist ein Träumer, er hat eine Geliebte, die Schauspielerin Meryl Streep, deren Geist immer bei ihm ist, um sich mit ihm auszutauschen. Mit dem Lippenstift seiner Mutter schminkt sich Bartek, führt .Kopfjägertänze aus Neuguinea auf, raucht und trinkt. Für Bartek ist der Lippenstift nicht nur ein zutiefst erotisches Symbol, der »die Kunst der Verführung beherrscht und in den Mann eindringt«, sondern weist auch in eine Welt jenseits der Worte.
Becker ist ein grandioser Erzähler, der mit poetischer Sprachmächtigkeit und Verve seine Figuren gestaltet, sie und ihre Geschichten unverwechselbar werden lässt. 1968 in Bartoszyce geboren, dem früheren Bartenstein, lebt Becker seit 1985 in Deutschland. Er schreibe polnische Literatur in deutscher Sprache, sagt der Romancier, der ebenfalls als Lyriker hervortritt. Er stellt neben dem Roman den Band »Ein Kiosk mit elf Millionen Nächten« vor, der Gedichte und kurze, verdichtete Prosa vereint. Becker, der von Entwurzelung und Einsamkeit erzählt, zieht den Stoff für seine Gedichte aus der Begegnung mit New York, mit seiner neuen Heimat Nordwest-Deutschland oder Jena in der Nachwendezeit und immer wieder mit Masuren. Unter dem Titel »Philips neunter Geburtstag« heißt es: »Er hat alles was ich irgendwann bereut habe - / Mut und Sehnsucht nach Glück - / Als ich von der Sonne gezwungen wurde / Die Wasserpistolen meiner Jugend niederzulegen«.
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