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LitGes (Österreich) , März 2011
Die Welt in Dolina Róż
Von Ingrid Reichel
Nach Artur Beckers leidenschaftlichem Lied vom Ertrinken »Wodka und Messer« aus dem Jahr 2008, folgt ein eher melancholischer Roman über die Jugend und ihre Sehnsucht, die man möglicherweise sein Leben lang nicht verliert.
Auch dieser Roman spielt sich in Masuren ab, wo sich Becker bestens auskennt, ist er doch ein gebürtiger Masure. Diesmal führt uns der Autor in das Provinzstädtchen Dolina Róż im Lunatal, das einst Rosentahl (im Mondtal) hieß. Verschlafen, so verschlafen, dass man es nicht einmal im Internet findet… oder ist es fiktiv? Aber das tut nichts zur Sache, denn Becker versetzt uns in das Polen Anfang der 80er Jahre, es herrscht noch Kalter Krieg, die Lebensmittel sind knapp und alle anderen Waren auch. Es ist der trostlose Alltag eines Dorfes mitten im kommunistischen System, mitten im Winter, in der Kälte, im Grau, das bunt von Sehnsüchten, und Widersprüchen schillert und den Untergang des Systems schon vorankündigt. Die Katholische Kirche hat bereits wieder ihre Türen weit geöffnet, die Frömmigkeit konnte Dank Johannes Paul II im gläubigen Polen wieder ausgelebt werden. Aber darum geht es dem Autor nicht.
Die Frauen schneidern sich Kleider nach der (neuesten) Mode, sie schminken sich, halten durch ihre Farbenpracht, ihre Lust am Leben, ihre Gier nach Sex, den nebeligen Dunst des Kommunismus in Schach. In dieser Welt der absoluten Entbehrungen und körperlichen Üppigkeit wächst Bartek, »das Schusterkind« auf. Er ist 15 Jahre alt, befindet sich mitten in der Pubertät. Er ist ein unscheinbarer, etwas eigenbrötlerischer Junge, ein mittelmäßiger Schüler, der von einem besseren Leben träumt, vom Westen, von Amerika, von Pink Floyd mit ihren Alben »The Wall«, jenem Album, welches von einem mütterlich überbehüteten Jungen erzählt, dessen Vater im Krieg gefallen ist und der mit seinem Umfeld, vor allem Schule und Lehrer, nicht zurecht kommt, und versucht, sich durch eine imaginäre Mauer um ihn herum abzuschotten, letztendlich jedoch nichts anderes als ein Mitläufer der Gesellschaft wird, zum faschistischen Agitator; oder »The Dark Side of the Moon«, das auf ein Mark Twain Zitat zurückgeht, wonach jeder Mensch ein Mond sei, der eine dunkle Seite habe, die er niemandem zeige. (Wikipedia).
Wäre da nicht auch noch Meryl Streep, die als Geliebte des französischen Leutnants sich direkt von der Leinwand in Barteks Ohr einnistet und jene Frau in Barteks Träumen solange ersetzt, bis ihm die richtige Frau fürs Leben begegnen wird, würde sich Bartek kaum von den anderen pubertierenden und erwachsenen Sonderlingen von Dolina Róż unterscheiden.
Pink Floyd und Meryl Streep flüstern Bartek abwechselnd ins Ohr, bis eines Tages sein verschollener, bzw. freiwillig abgehauener, vor Verantwortung geflohener Großvater mütterlicherseits wieder in Dolina Róż erscheint. »Der Franzose«, wie er kurz genannt wird, verändert kurzer Hand alles in dieser Provinzstadt. Der, der gewagt hat zu gehen, wird einerseits als Verräter und andererseits als Held gefeiert. Auf jeden Fall scheint seine dunkle Seite des Mondes stärker als die der anderen. Für Bartek, der zwischen Ödipus-Komplex und Anarchie taumelt, eine neue Stimme, der es zuzuhören gilt.
Becker gelingt es ein Bild des zerbröckelnden Kommunismus abzugeben. Die einzelnen Figuren, die den Protagonisten umkreisen, sind pointiert gewählt und gut analysiert. Über Bartek arbeitet Becker die komplexe Geschichte Polens, von seiner deutschen Seite, der Nazizeit bis zum Kommunismus auf. Der knallrote Lippenstift der Mutter, einerseits als Symbol für den westlichen Kapitalismus, und andererseits als Phallussymbol, bzw. als Waffe der Frau gegen den Mann, bleibt als eine dezente wechselwirkende Anspielung von Revolution im Hintergrund.
Dennoch lebt dieses Werk, trotz seiner vielen subtilen Vergleiche, literarisch vorwiegend vom Stillstand. Die Mühsal des Erwachsenwerdens, die Trägheit eines gescheiterten politischen Systems, die erstarrte, gesellschaftliche Struktur, der Mangel an Luft zum Atmen übertragen sich schleichend auf den Leser. Ein sensibles Werk!
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