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Dresdner Neueste Nachrichten, 5./6. Feb. 2011
Artur Beckers Atlantis der Kindheit
Literarische Grenzgänge im Erich-Kästner-Museum
Von Tomas Gärtner
Grenzgänger wie der Schriftsteller Artur Becker machen eine Erfahrung, die den meisten von uns, die in einem Land, einer Sprache zu Hause bleiben, versagt ist: Dieses Dazwichen-Sein, Weder zu denen aus dem Herkunftsland noch zu denen in der neuen Wahlheímat ganz zu gehören. Das schafft Distanz. Gepaart mit Beobachtungsgabe eine gute Voraussetzung für das Erzählen. Für ein Erzählen von der Suche nach einer neuen Identität, die nicht mehr auf die Selbstverständlichkeiten von Tradition und Nation bauen kann und will.
Artur Becker ist Jahrgang 1968, Sohn po1nisch-deutscher Eltern, aufgewachsen in der Provinzstadt Bartoszyce, im Norden Polens, in den Masuren. »Dort begegnen die Menschen einander mit Respekt«, sagt er. »Und es werden Geschichten erzählt.« Eine schier unerschöpfliche Quelle, aus der sich Beckers Bücher speisen, die er seit 1989 auf Deutsch schreibt. Gelebt hat er dort nur als Jugendlicher. Als er 17 war, sind seine Eltern mit ihm nach Westdeutschland emigriert. Heute lebt er im niedersächsischen Verden an der Aller. »Aber ich langweile mich im täglichen Leben in der Bundesrepublik Deutschland zu Tode.« Die Erinnerungen an die masurische Provinz dagegen sind übermächtig. Als Ensemble skurriler Figuren, als verrückte Mischung aus Magie, Atheismus und Katholizismus beschreibt er das. Nicht als naturalistisches Abbild tritt es uns in seinen Gedichten, Romanen und Erzählungen entgegen. »Ich schreibe eigentlich eine Art Science-fiction-Literatur. Das Polen; das ich beschreibe, gibt es nicht mehr.« Es ist die literarische Beschwörung einer untergegangenen Welt. Eine Suche nach Atlantis, wie er selbst sagt. »In meinen Büchern drückt sich eine Sehnsucht nach dem Kindheitsparadies aus, die uns allen gemeinsam ist.«
Eine Kostprobe aus seinen Gedichten und zwei Romanen hat er jetzt im Dresdner Erich-Kästner-Museum gegeben. »Das Herz von Chopin« (Hoffmann und Campe, 2006) – »ein ziemlich bösartiger Roman«, wie er selbst erstaunt beim Lesen feststellte – lässt einen Autohändler in Bremen von seiner Kindheit und Jugend in Bartoszyce erzählen. Nicht gerade eine Idylle. Ständig sterben _Leute, trinken sich entweder zu Tode oder bringen sich um. Zwei Seuchen grassieren im Ort: der Tod und die Liebe.
Zwei gegensätzliche Mächte – Kommunisten und katholische Kirche konkurrieren miteinander. Die Hauptfigur will ein eiskalter Kommissar werden, so wie ihn einst Alain Delon spielte, schafft es aber nur zum Autohändler. Allerdings betreibt er dieses Gewerbe als Religion und Lebensberatung. Blechkarossen als Fetisch – eine treffende Charakterisierung der modernen Gesellschaft. Herrlich, wie er sich, um seinen Akzent zu erklären, gewieft geschäftstüchtig bei den älteren Kunden als Vertriebener aus Ostpreußen ausgibt, bei den jungen hingegen als einer, in dessen Adern sich das Blut deutscher, polnischer, russischer und jüdischer Vorfahren mischt.
»Der Lippenstift meiner Mutter« (weissbooks, 2010) macht uns mit dem 16-jährigen Bartek bekannt, der in der fiktiven polnischen Kleinstadt Dolina Róz aufwächst. Dort verprügeln cholerische Väter regelmäßig ihre Söhne. Bartek verliebt sich in die Schauspielerin Meryl Streep. Der Lippenstift wird zu einem mehrdeutigen Symbol. Für die Sehnsucht der Frauen nach Schönheit in der grauen Welt des Realsozialismus zum Beispiel und die Unentschiedenheit der Hauptgestalt zwischen hetero- und homoerotischen Neigungen. Auch in dieser Hinsicht also haben wir es mit einem Grenzgänger zu tun.
Die Bücher Artur Beckers finden wir neben fast 80 von anderen polnischen oder aus Polen stammenden Autoren im Literaturrätsel-Koffer 2011 des Literaturbüros im Kästner-Museum. Dort, im Museum, steht er im Februar, lädt zum Stöbern ein und dazu, das Rätsel auf den Fragebögen zu lösen. In den Monaten danach wandert der Koffer an
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