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Der Lippenstift meiner Mutter

Buchkultur 13-4, Februar/März 2011

Menschennähe in Masuren

Von Hans-Dieter Grünefeld

Beschaulich könnte das Leben in Dolina Róz (Rosenthal) um 1980 sein. Das polnische Dorf in Masuren hat seinen lethargischen Rhythmus, der von wenig Sonne und langen Kälteperioden bestimmt ist und wo »alles in einer eingefrorenen Zeit, in einer Endlosschleife (geschieht)«. Die Bewohner haben sich, je nach sozialem Status, zwischen der Skylla sozialistischer Mangel- wirtschaft und Tristesse sowie der Charybdis katholischer Traditionen und Bigotterie arrangiert: »Nach außen hin verhielten sie sich wie Heilige, Märtyrer und Leidensgefährten, in ihren Kellern gärte jedoch das Gift der Wut und Schadensfreude.« In diese Metaphorik natürlicher und gesellschaftlicher Starre hat Artur Becker das pubertierende, etwas sonderbare und deshalb so genannte Schusterkind Barcek geschmuggelt. Eine sympathische Romanfigur, die (wie Tom Sawyer von Mark Twain) Risse unter der Decke subalterner Mentalitäten entdeckt und bei der Lektüre zum literarischen Freund werden kann. Denn wer hätte nicht wie Bartek mit seinen Freunden bei geheimen Treffen aussichtslose Pläne zur Rebellion gegen die Dorf-Autoritäten geschmiedet? Erst von seinem nach langer Abwesenheit zurückgekehrten Großvater Franzose, ebenso treulos wie motorisch untreu, lernt er, dass »du moralisch nur dir selbst verpflichtet (bist)«, und so verabschiedet sich Bartek zeitweise in eine Traumwelt aus grübelndem Intellekt und kuscheliger Fantasie-Beziehung zum Hollywoodstar Meryl Streep. Wer die Grenze erkennt, hat sie bereits überschritten, meinte Hegel. Barrek hilft »Der Lippenstift meiner Mutter« zu überleben, weil der Schein seine Wirklichkeit erträglich macht. Dieser Widerspruch verunsichert das Personal in diesem Roman, dessen enger Mikrokosmos dadurch universale Dimensionen bekommt, dass Bartek den Wunsch nach Freiheit und menschenwürdigem Leben repräsentiert. Bartek ist dabei wie ein fiktiver Zoom, durch den Artur Becker Nähe und Distanz zur masurischen Provinz erzählend justiert. Er kennt diese Region bis in stilistische Nuancen genau, und seine fundierte Philanthropie verurteilt nicht die Charaktere, sondern gibt ihnen mit dem Schusterkind Bartek eine Chance zur Selbsterkenntnis.

Fazit: Freundlich, doch mit unbestechlichem Blick schaut Artur Becker in die masurische Provinz aus spätsozialistischer Zeit in Polen. Ein skurriles Sittengemälde, literarisch ersten Ranges.

 

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