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Der Lippenstift meiner Mutter

Neue Züricher Zeitung (NZZ) , 29.12.2010

Androgyner Mond über Masuren

Artur Beckers Roman »Der Lippenstift meiner Mutter«

Von Angelika Overath

Dolina Róz, das einmal Rosenthal hiess, ein polnisches Provinzstädtchen, in den achtziger Jahren: In den winterlichen Strassen des Kalten Kriegs wird es nicht hell, die Frauen stehen Schlange um Fleisch und Zucker. Der Westen kommt übers Radio; für Bartek, den 15-jährigen Helden, sind es die Botschaften von Pink Floyd, »The Dark Side of the Moon« oder »The Wall«. Auch wenn er nicht alles versteht, wittert er doch die blinden Winkel der Vergangenheit, den Beton zwischen der protestantischen Oma Hilde, die einst mit dem Bund Deutscher Mädel nach Danzig gefahren ist, um Hitler zu sehen, und der tiefkatholischen Oma Olcia, die sich, wie sie sagt, in Bergen-Belsen den Magen verdorben hat. Bartek steht an der Grenze zum Erwachsenwerden und ist sich als Mann noch reichlich fremd. Unter seinem vorbehaltlosen Blick schnurren die Lebensgeschichten seiner Nachbarn, die von Krieg und Vertreibung geprägt sind, zusammen wie Kuriosa. Da heisst ein Opa Monte Cassino, weil er an dieser Front beide Beine verloren hat, und ein anderer heisst Opa Franzose, weil er vor Frau und Familie geflohen ist und als Eisenbahner die Welt kennengelernt hat.

Auch Bartek weiss, dass er rausmuss, weg vom alkoholisiert wütenden Vater und vom kleinen, kranken Bruder Quecksilber, der im Wahn immer Fieberthermometer zerbeisst, weg auch von der attraktiven, liebessehnsüchtigen Mutter, einer der drei schwarzhaarigen Töchter von Oma Olcia. Und als eines unverhofften Tages Opa Franzose (der Mann von Oma Olcia, den sie einst im KZ kennengelernt hatte) aus der verheissungsvollen Fremde zurückkommt, da halten die Bewohner von Dolina Róz zwischen der Werkstatt von Schuster Lupicki, dem ukrainischen Chassid (vermutlich), und dem Friseursalon von Herrn Tschossnek, dem Schachspieler (sicher), den Atem an. Und die Frauen zücken ihre Lippenstifte.

Mit »Der Lippenstift meiner Mutter« öffnet Becker wieder eines seiner polnischen Glanzbild-Szenarien. Die Welt von Dolina Róz ist finster mit Goldrand, bizarr und letztlich chaotisch in Ordnung wie ein überdekorierter Glitzerkalender. Was sie zusammenhält, ist die Lava eines erotischen Fluidums, das sich unter der Tristesse bewegt. In Beckers Hand wird der Lippenstift ein Symbol für das Begehren der Frauen. Als Doppelwort von »Lippen« und »Stift« ist er zugleich ein Bild für androgyne Abweichungen. Bartek entkleidet sich, bemalt sich mit dem Lippenstift der Mutter und tanzt dann wild zu »Ummagumma« von Pink Floyd durch die Wohnung. Als der Vater ihn erwischt, muss er in der Kammer des Kurpfuschers und Mörders Baruch als Gegenzauber Eberhoden essen.

Aber die Macht des Lippenstifts geht weiter. Es sind die Frauen, die mit ihrem »Lippenstift« in die Männer eindringen. Und die Männer erleiden begierig die Penetration. Am Ende wird Bartek nicht mehr von seiner amerikanischen Geliebten Meryl Streep träumen, die geisterhaft mit ihm lebt, sondern sich von der sexvergnügten Mariola, Tochter des Schusters Lupicki, entjungfern lassen. Er hat nun »einen fünfundzwanzigjährigen Lippenstift kennengelernt, von einer begehrenswerten Krankenschwester, die ihn von innen ausgehöhlt hatte wie einen Kürbis«. Das geschieht in der Totenkammer der Schusterwerkstatt, da, wo die nicht abgeholten Schuhe warten und sprechen, und gerade zu der Stunde, als Opa Monte Cassino im violetten Licht des Stadtkrankenhauses in der Plattenbausiedlung stirbt.

All dieses Ineinandergreifen ist schauerlich schön, ein masurischer Totentanz der Begierden, der bei der Beerdigung von Opa Monte Cassino zu einem tumultuarischen Höhepunkt kommt. Norbert, der bucklige Sohn des Schusters, wirft zwei im Krematorium gestohlene Raucherbeine (unterschiedlicher Länge) ins offene Grab. Damit Opa Monte Cassino im Himmel etwas zum Laufen hat. Opa Franzose aber, dieses »Gift eines Eisenbahners und Reisenden, das Gift eines Heimatlosen und Ungläubigen«, wird wieder abfahren. Doch Bartek ist schon lange infiziert mit dem Virus der Freiheit und auf dem Weg in die Welt. Nur der arme Schuster haut mit sinnloser Energie Nägel in einen Hauklotz. So endet das heftige Buch mit seinen Schlägen, als seien sie der Rhythmus seines Autors: »Wumm! Wumm!«.

 

 

 

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