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Der Lippenstift meiner Mutter

Frankfurter Rundschau, 9.12.2010,

Roman »Der Lippenstift meiner Mutter«: Zwischen Dorftrottel und Dorfhure

Artur Beckers Wimmelbild einer masurischen Kleinstadtjugend bietet ein Panoptikum von Existenzen. Ein merkwürdiges Adoleszenz-Szenario, versponnen und derb zugleich.

Von Christoph Schröder

Eberhoden sind nicht schmackhaft, sollen aber helfen. Denkt sich jedenfalls der Vater, als er den 15-jährigen Sohn im Wohnzimmer dabei überrascht, wie dieser gerade nackt, mit rot geschminkten Lippen und einer Zigarette zwischen denselben einen merkwürdigen Tanz zur Musik von Pink Floyds »Ummagumma« aufführt. Es folgt eine Art von Exorzismus mit unangenehmen Folgen: »Das Schusterkind erbrach sich noch während der Mahlzeit vor den Augen seiner beiden Peiniger. Baruch sagte aber, das sei keine Schande, die Manneskraft werde schon bald in seinen jungen unverdorbenen Körper zurückkehren und die weiblichen Dämonen der Begierde besiegen.«
So geht es zu in Artur Beckers Welt, einer Welt, in der die Männer sich groß tun, weil sie ahnen, dass sie in Wahrheit von den Frauen und deren Lippen (ein unverhohlenes Synonym für die weiblichen Geschlechtsteile) beherrscht werden.
Das Schusterkind heißt Bartek und ist kein Schusterkind, hält sich aber, wie so viele Bewohner des Masurenstädtchens Dolina Róz, ehemals Rosenthal, am liebsten in der Werkstatt des Schusters Lupicki auf – eine Art Stammtisch des Dorfes; ein Kristallisationspunkt, an dem alles geschehen kann: Schachspiel, Debatte, Verrat, Sex.
»Dies ist kein autobiografischer Roman«, behauptet Artur Becker in einem dem Buch vorangestellten Satz. Eine halbironische Aussage, so darf man vermuten, denn der 1968 in Masuren geborene und seit 1985 in der Bundesrepublik lebende Becker sollte mit seinem Protagonisten doch zumindest die Erfahrung einer Jugendzeit im sozialistischen Polen der frühen 80er Jahre teilen.
Ein merkwürdiges Adoleszenz-Szenario ist das, versponnen und derb zugleich, voller konkreter sinnlicher Eindrücke und doch aus Luftschlössern gebaut. So fremd, wie einem der sozialistische Ostblock wohl nur sein kann und trotzdem nahe, weil Becker über eine zupackende Sprache verfügt und vor allem über die Fähigkeit, sein durch und durch skurriles Personal beisammen zu halten. »Der Lippenstift meiner Mutter« ist weniger ein aus der Kontinuität einer Handlung mitreißendes Buch als vielmehr ein sorgfältig komponiertes, in allen Schattierungen ausgemaltes Wimmelbild, ein Flickenteppich von Biografien. Zu entdecken gibt es, auch für den Erzähler, immer und überall etwas.
Dolina Róz, das ist ein Panoptikum von Existenzen, als deren natürliches Ziel es erscheint, auf das Ende zuzulaufen. Hier gibt es alles: Den buckligen Dorftrottel, die Dorfhure, die Dorfschönheit (die sich am Ende als zweite Dorfhure entpuppt), die Gewalt, die Religion und selbstverständlich auch den Aberglauben (das Böse, so heißt es gleich zu Beginn, sei eine Krankheit, die sich durch direkten Blickkontakt automatisch vermehre). Und das Böse steckt überall in Dolina Róz, einem Ort, dem Becker geradezu körperliche Gestalt verleiht, so dass es nicht wundert, dass die Stadt selbst irgendwann beginnt, zu Bartek zu sprechen.
Bartek, den Kopf in den Wolken, die Füße tief in der Provinzhölle, ist eingewoben in ein dichtes verwandtschaftliches Netz von Großmüttern, Tanten und Onkeln. Die Familienkonstellation ist es auch, die dann doch fast unmerklich eine Lawine in Gang setzt, die langsam, aber wuchtig durch den Roman rollt. Eines Tages kehrt Barteks seit fünf Jahren verschwundener Großvater nach Dolina Róz zurück, genannt »der Franzose«, weil er im Vergleich zu den anderen ein Mann von Welt ist, Lebemann und Frauenheld; einer der, wie es scheint, psychisch ruiniert ist und dagegen einen hedonistischen Trotz setzt.
Die Gefahr bei dieser Form von vermeintlich praller (Anti-)Heimat- und Erinnerungsliteratur ist stets, dass sich in das Erzählen, in den Tonfall eine unfreiwillige Heimeligkeit, ja Heiterkeit einschleicht. Davon kann sich auch Artur Becker nicht immer befreien, doch konterkariert er die drohende Gemütlichkeit mit dem konkreten historischen Schrecken. Dolina Róz erscheint als eine Stadt im Fadenkreuz der Ideologien. Jüdische Lebenswelten sind in Spurenelementen vorhanden; zugleich verbreitet der vor sich hin bröckelnde Ost-Sozialismus seine Tristesse. Über den Franzosen-Großvater heißt es beinahe beiläufig, die Nazis hätten ihn »während seiner KZ-Gefangenschaft so oft gefoltert, dass er den Verstand verloren hätte; sein Pflichtbewusstsein gegenüber der Familie hätten ihm die Deutschen aus Herz und Kopf geprügelt.«
Das Schusterkind Bartek setzt alldem im Übrigen seine unerschütterliche Liebe und Treue zu einer einzigen Frau entgegen: Meryl Streep. Man muss ja nicht immer alles verstehen.

 

 

 

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