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Der Lippenstift meiner Mutter

Rheinischer Merkur 28.10.2010

Kindheitsroman: Zorniger Junge

Der deutsch-polnische Autor Artur Becker erzählt von falscher Hoffnung und echter Verzweiflung. Seine skurrilen Helden beleben die Gegenwartsliteratur

Von Michael Braun

Polen ist das wohl wichtigste nichtdeutschsprachige Land für die deutsche Sprache und Literatur. Über zwei Millionen Deutschlernende gibt es in Polen, so viele wie nirgends sonst in einem osteuropäischen Land. Die Germanistik ist ansehnlich vertreten, zumal in Danzig und in Warschau, wo im August der Weltkongress der Germanisten stattfand. Die deutsch-polnischen Literaturbeziehungen florieren, und überhaupt leistet die Literatur hüben wie drüben einen gar nicht zu unterschätzenden Beitrag bei der Suche des Nachbarlandes nach Identität zwischen nationaler Eigenständigkeit und europäischer Integration.
Und die Autoren? Artur Becker ist der derzeit interessanteste Vertreter einer Literatur, die man nicht ganz für Polen und nicht ganz für Deutschland reklamieren kann und die doch in ihrem Glutkern für beide glüht. Der Autor wurde 1968 im masurischen Bartoszyce geboren und kam 1985 als 17-Jähriger mit nur dürftigen Sprachkenntnissen nach Deutschland, was sich dank seiner galizischen Großmutter bald zum Besten änderte. Artur Becker hat 1984 erste Gedichte in polnischer Sprache veröffentlicht, ist dann 1989 ganz ins Deutsche gewechselt und hat sich, wie ein Kritiker schrieb, längst vom »masurischen Schelm zum seriösen Gegenwartsautor« entwickelt. Seine Romane, Erzählungen, seine Lyrik und Essays finden große Beachtung, der Autor wirbt dafür, die Differenzen in der deutsch-polnischen Erinnerungskultur als Geschenk und Chance zum Neuanfang, nicht nur als Bürde zu betrachten.
Zugute kommt Becker in jedem Fall, dass er Slawistik und Germanistik studiert hat und auch hier beiden Sprachtraditionen treu geblieben ist: ein Wanderer zwischen den Welten, der sich nicht so gern als deutscher Autor polnischer Herkunft sieht, lieber als polnischer Schriftsteller, der in deutscher Sprache schreibt, also nicht in der Sprache seiner Herkunft. Deutsch ist Beckers Literatursprache. Als Literatur der Migration und der Interkulturalität ist Artur Beckers bisheriges Werk in diesem Sinne längst in Deutschland angekommen. Das würdigte zuletzt der Adelbert-von-Chamisso-Preis, der ihm 2009 verliehen wurde.
Artur Beckers neuer Roman unterstreicht diesen repräsentativen Anspruch auf polnische Literatur in deutscher Sprache. Und das so nachhaltig, dass man von einem beinahe mustergültigen, jedenfalls einem meisterhaften Roman sprechen kann, dem wohl besten bislang aus der Feder des Autors. Er ist von barocker Opulenz, gedämpft von leichter Ironie, erzählt mit unbändiger Munterkeit und Erfindungslust, phantastisch und faszinierend und nachdenklich zugleich. Pathos steht neben Sentiment, Ironie neben rustikaler Reportage. Ein Glücksfall für die deutsche Literatur!
»Der Lippenstift meiner Mutter« spielt in den frühen 1980er-Jahren in einem polnischen Kaff, in dem Städtchen Dolina Roz, dem letzten Bahnhof an der Grenze zu Russland. Es liegt im nordöstlichen Zipfel Polens, wie in Beckers letzten Romanen »Das Herz von Chopin« (2006) oder »Wodka und Messer« (2008). Zeit und Raum sind vielsagende Dimensionen. Es herrscht die Zeit des Kriegsrechts, die Opposition wird unterdrückt, die Wirtschaft leidet stark, die Gewerkschaft Solidarnosc kämpft für die Freiheit.
In Dolina Róz gibt es einen Stadtpark, ein Goethedenkmal, ein Krankenhaus, in dem violettes Licht die Operationszeiten anzeigt, und eine Schusterwerkstatt, in der die geistig mobil Gebliebenen fröhliche Urständ feiern. Neben der faszinierenden Gestalt des Schusters, der es schafft, sich als verkappter Chassid, ukrainischer Jude und polnischer Patriot auszugeben, gibt es einen entlassenen Mörder, eine stadtbekannte Hure, einen buckligen Idioten, einen ehemaligen Wehrmachtssoldaten, eine stalinistische Dichterin, die bevorzugt rote Kleider trägt, und die aufreizend mannstolle Krankenschwester Mariola, auf die sich die Phantasien der Männer und die Neidsehnsüchte der Frauen konzentrieren.
Derweil trinkt die rebellische Dorfjugend Westbier und plant heimlich unter der Leitung eines Industriellensohnes die Aktion »unde malum«, die eine politische Absicht aufs Merkwürdigste mit philosophischen Gedanken durchmischt: »Wir wollen nicht nur schockieren, wir werden das Böse wie in einem Laboratorium untersuchen, den Leichnam sezieren und seine Knochen und Eingeweide studieren. Wir stecken als Erstes den Frisiersalon in Brand – wir werden natürlich zufällig in der Gegend sein und nach erledigter Arbeit die Feuerwehr anrufen … Wir fangen harmlos an – zum Schluss aber werden Parteigebäude, Schulen und Kulturhäuser brennen.«
Freilich: Nichts gerät hier in Brand außer einem Viehtransporter, die Rebellen wollen keine Brandstifter und Mörder werden. Und doch bereiten sie den Boden für die Revolution, die 1989 Europa – und mithin Polen und Deutschland – wieder zusammenführt.

 

 

 

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